Kuba on stage

„Antigonón, un contingente épico“, eine Produktion vom Teatro El Público in Havanna trägt den deutschen Titel „Helden wie Antigone“. Dies ist keine Eins-zu-eins-Übersetzung, sondern eine geballte Zusammenfassung dessen, was in dem Stück gezeigt wird: Heldinnen, fast ausschließlich, die über ihre kubanischen Lebensumstände, über ihren Hass, ihre Liebe, ihre Träume und die Vergangenheit ihres Landes erzählen.

Nach der ersten Station in Europa beim Festival Passages in Metz, brachten die Wiener Festwochen die Inszenierung ins Theater Akzent. Carlos Díaz, kubanischer Starregisseur, setzte das Geschehen bildmächtig in Szene. Den Ausgang nahm das Stück von drei Gedichten von José Martí. Er ist so etwas wie der literarische Nationalheilige auf Kuba. Sein vielstrophiges Gedicht über rosarote Schühchen lernen die Kinder schon bevor sie noch lesen und schreiben können. Im 19. Jahrhundert rief er die Bevölkerung auf, sich gegen die spanische Besatzung abermals zur Wehr zu setzen. Der junge Autor Rogelio Orizondo schuf zu drei kurzen Gedichten den restlichen Text, der hauptsächlich aus eigenen Erfahrungen gespeist ist. Wie zum Beispiel eine Szene, in welcher eine der Schauspielerinnen davon erzählt, dass sie aufgrund ihrer blutigen Füße getragen werden musste. „Ich kenne das Gefühl, denn ich war zwei Monate unfähig zu gehen, meine Mutter trug mich jeden Tag zur Schule und zurück“, bekennt Orizondo und gibt damit einen kleinen Einblick, wie sehr sich selbst Erlebtest und Mythos in seinem Text vermischen.

Das Bühnenbild besteht aus mehreren, mit Stoffbahnen verkleideten, hochkant gestellten Quadern. Darauf gedruckt eine Unzahl an Zeitungsmeldungen, darüber Malereien. Der erste Auftritt präsentiert ein starkes Bild. Zwei nackte, junge Paare stehen im auf sie gerichteten Scheinwerferlicht und beginnen langsam, sich zu bewegen. Einzeln zuerst, dann nehmen sie miteinander Kontakt auf. Eine der Frauen beginnt die Geschichte eines Schweizers zu erzählen, der seine drei Kinder im Brunnen ertränkte. Dann folgen Bewegungen, die Krankheit und Tod wiedergeben, nichts davon scheint selbstverschuldet, doch vieles bleibt vage. Die Nicht-Auflösung, das Unerklärliche wird zu einem Charakteristikum, das sich durch die ganze Inszenierung durchzieht. „Wir wollten, dass nicht alles in dem Stück erklärt wird, wollten, dass das Publikum selbst über Szenen nachdenkt und nicht alles determinieren,“ begründete Orizondo dieses Stilmittel. „Wir wollten Fragen stellen, keine beantworten.“ Und tatsächlich stellen sich jede Menge Fragen, schon während des Stückes.

Grelle Outfits, die von Jean Paul Gaultier stammen könnten, bestimmen über lange Passagen hin die Optik. Ein modernes, laszives Panzerhemd aus Goldketten, ein weißes Cocktailkleid in Form eines Kristalllusters, eine grellrote Jacke mit einem ausgefallenen Ärmelschnitt gaukeln eine Welt vor, die mit Kubas Alltag nichts zu tun hat. Dann schon eher jene Outfits, die das allerletzte Bild bestimmen: Rote Trägerröcke mit weißen Blusen und blauen, um den Hals geknoteten, kleinen Tüchlein. Uniformen für Uniformierte. Der Text, den zum größten Teil die Frauen sprechen, handelt von Fleisch, das sich als untauglich herausstellt, weil es von einem alten Affen stammte. Er erzählt vom Bruder, der ein Kalb überfuhr, von einer Fahrt im Bus und von einer Frau, die sich mit dem Auspressen von Papayas ihr Leben verdient. „Ich bin extrem abführend“ ist ihr Kommentar, während sie erzählt, dass hauptsächlich Menschen mit Verstopfung ihre Kunden sind. Aber man erfährt auch, dass kubanischer Alltag ein Kampf um die tägliche Nahrungsaufnahme ist. Einen großen Auftritt hat dann doch einer der Männer. Gekleidet in einen Tarnanzug singt er das Lied einer Zuckerschneiderin, währenddessen er sich auszieht. „Wenn man in Havanna nach den Aufführungen mit dem Bus fuhr, hörte man oft dieses Lied“ erzählte der Regisseur sichtbar stolz. Auch das Publikum in Wien bedachte es mit Zwischenapplaus.

Das Nackte ist das Selbstverständliche oder genauer, Nacktheit wird wie selbstverständlich auf der Bühne getragen. Giselda Calero und Daysi Forcade sind jene beiden jungen Frauen, die mit diesem Stück zugleich ihre Abschlussarbeit an der Schauspielschule in Havanna ablieferten. Sowohl der Autor als auch der Regisseur nahmen darauf Rücksicht und entwickelten mit ihnen gemeinsam Szene für Szene. Luis Manuel Alvarez,Roberto Espinoza Sebazco und Linnett Hernández kamen im Laufe des gemeinsamen Arbeitsprozesses hinzu. Viele Passagen verlangen von den jungen Schauspielerinnen höchste Expressivität ab. Wut und Aggressivität beherrschen lange Strecken des Abends. Das Aufbegehren, das sich Dagegenstellen, welches Antigones Wesen charakterisiert, wird durch die Schrillheit und Exaltiertheit des Textvortrages der jungen Frauen unterstrichen. Das Mitlesen des Textes, der aufgrund des hohen Sprachtempos extrem schnell abläuft, wird zum ermüdenden Balanceakt. Eingespielte Schwarz-Weiße Filmszenen zeigen Ermordungen von Männern durch Milizen. Auf sie wird nicht eingegangen, vielmehr laufen sie als Subtext mit. Als Geschichte, ohne die das Kuba von Heute nicht verstanden werden kann. Antigonón, un contingente épico erweist sich als Kaleidoskop der kubanischen Gesellschaft, die man durch den Tunnelblick von zwei Theaterkreativen betrachtet. Grell, laut, ausufernd und in einer Zeit präsentiert, in der sich im Land gerade alles auf den Kopf zu stellen beginnt erweckt die Inszenierung den Eindruck, dass sich auch das kubanische Theater im Wandel befindet. Noch wird eine gewisse Form gewahrt, folgt Szene auf Szene, der Inhalt jedoch beginnt sich bereits merklich aufzulösen. Möchte man Parallelen zu aktuellen Inszenierungen bemühen, so kann man durchaus Peter Handkes „Die Stunde da wir nichts voneinander wussten“ des estnischen Regieduos Tiit Ojasoo und Ene-Liis Semper nennen. Auf der einen Seite eine überbordende Sprache, die gerade durch ihre vielen Verästelungen und ausufernden Assoziationen mehr verbirgt als verdeutlicht. Auf der anderen Seite ein stummes Spiel, das ganz auf die Bildgewalt angewiesen ist. In letzterem sind jedoch beide Arbeiten deckungsgleich.

Das Gefühl, einen Theaterabend erlebt zu haben, der aufklärend wirkte, der emotional tief berührte, dieses Gefühl stellte sich nicht ein. Aber die rasante Abfolge von unterschiedlichsten Szenen, Figuren, Kostümen und Stimmungen entschädigte die Abwesenheit eines post-theatralischen Glücksgefühls. Das Publikum in Kuba, das die Zusammenhänge, die sozialen und historischen Verweise logischerweise ganz anders nachvollziehen konnte, war begeistert. „Die Menschen erkannten sich in diesem Stück wieder und hatten nasse Augen“, erinnerte sich der Regisseur, der den jungen Rogelio Orizondo als einen „Talismann“ bezeichnete, den er hoffentlich nie verlieren würde. Darin liegt bereits der Stoff für eine neue Geschichte nach antikem Vorbild.

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