Der Griessner Stadl on tour in Graz

Der Griessner Stadl on tour in Graz

Wer zeitgenössische Opern abseits der vom Bund geförderten Häuser produziert, lernt rasch, mit Mangel umzugehen. Dass es aber noch eine Steigerungsstufe gibt, nämlich einen extrem limitierten Ort, in welchem eine Oper aufgeführt werden soll, kommt weniger häufig vor. Und dennoch schafften es die Betreiber des Griessner Stadel bei Murau, eine Oper in Auftrag zu geben und diese im nicht-operngerechten Spielort auf die Bühne zu bringen. In einer Koproduktion mit dem Steirischen Herbst 2023 wanderte diese nun nach Graz in den „Dom im Berg“. Die Location hätte hier nicht besser gewählt werden können. Der Veranstaltungsraum im ausgehöhlten Fels, mit einer hohen Luftfeuchtigkeit und einem Boden, der keinerlei Wärme ausstrahlt, passte ausgezeichnet zur dramatischen Geschichte.

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„Das Erdbeben in Chili“ (Foto: Verena Koch)

„Das Erdbeben in Chili“ nach einer Novelle von Heinrich Kleist, erzählt von einer tragischen Liebe. Die Tochter eines Granden verliebt sich in den Hauslehrer und wird daraufhin von ihrem Vater ins Kloster geschickt. Dort treffen sich die Liebenden jedoch und zeugen im Klostergarten einen Sohn. Dieser wird 9 Monate später bei der Fronleichnamsprozession auf den Stufen der Kathedrale geboren. Um die Schande zu tilgen, wird Donna Josephe zum Tode und ihr Geliebter, Jeronimo, zu schwerem Kerker verurteilt. Wenige Augenblicke, bevor die junge Frau geköpft wird, ereignet sich in der Stadt Santiago in Chile ein schweres Erdbeben. Josephe, ihr Kind und Jeronimo überleben dieses jedoch, finden sich in Freiheit wieder und fallen dennoch wenig später der Lynchjustiz anheim. Ein zweiter Säugling, der Sohn von Don Fernando, gelangt schließlich ebenso in die Turbulenzen der aufgebrachten Menge und wird von dieser bestialisch ermordet. Philippe, der Sohn von Josephe und Jeronimo, überlebt jedoch das Gemetzel und wird schließlich von Don Fernando und dessen Frau als Kind angenommen.

Es bedarf einer großen Portion Mut, sowie Zuversicht und der Glauben, an das eigene Projekt, um diesen Stoff in der Murauer Gegend als zeitgenössische Oper zur Uraufführung zu bringen. Das Team rund um den Obmann Ferdinand Nagele hatte diesen Mut. Und auch wenn es abgedroschen klingt, das Sprichwort „wer wagt, gewinnt“ stimmt in diesem Fall zu hundert Prozent. Anlässlich der Stückeinführung erzählte Nagele, dass sich das Leitungsteam überlegt hatte, einmal etwas zu machen, was sie noch nie gemacht hatten oder noch spitzer ausgedrückt: „Etwas, was wir nicht können.“ Theateraufführungen, Lesungen, Konzerte – all das gab es schon in der Location, was fehlte, war eine Opernproduktion. Dass diese zustande kam, verdankte man nicht nur dem Netzwerk, das über die Jahre aufgebaut worden war. Eine intelligente Herangehensweise, gepaart mit einer Menge Idealismus und Kreativität, verhalf dem Projekt letztlich zum Erfolg.

Martin Kreidt, der schon häufig im Griessner Stadl Regie führte, übernahm nicht nur diese, sondern auch die Verfassung des Librettos, welches eng am Originaltext blieb. Elisabeth Harnik erhielt den Auftrag für die Komposition einer neuen „Volksoper“ und hatte auch die musikalische Leitung inne. Die Musikerinnen und Musiker des Schallfeld-Ensembles übernahmen neben den vier Hauptcharakteren aktive Rollen auf einem langen Catwalk, der als Bühne fungierte. An dessen Längsseiten waren die Publikumsreihen angeordnet, an den Stirnseiten befanden sich zum einen die Plätze für die Musizierenden, zum anderen der Aufbau eines großen Schlagwerkes, das häufig zum Einsatz kam.

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„Das Erdbeben in Chili“ (Foto: Verena Koch)

Harnik wählte eine reduzierte, musikalische Ausdrucksweise, die darauf bedacht war, das Wort in den Vordergrund zu rücken. Zugleich wies ihre Komposition jedoch einen großen Ideenreichtum auf. Gleich zu Beginn sprach das Schallfeldensemble, während es sich dazu mit den Instrumenten begleitete, den Text zur Vorgeschichte des Hauptplots. Akkordeon, E-Gitarre, Kontrabass, Flöten, eine Miniaturorgel und Percussion-Instrumente steuerten den charakteristischen Klang bei.

In vielen Passagen wurde psalmodiert, was Sinn erzeugte, spielt sich doch das Drama im Umfeld der katholischen Kirche ab. Wilde, laute Passagen mit großem Percussioneinsatz wechselten mit ganz ruhigen ab, in welchen Sprache und Musik gänzlich zum Erliegen kamen. Mit Geflüstertem und Gehauchtem sowie akzentuierten Atemgeräuschen erweiterte die Komponistin die stimmliche Ausdrucksweise ihrer Sängerinnen und Sänger. Die Wiedersehensfreude nach dem Erdbeben konnte man trefflich durch den Sprechgesang „das Herz hüpfte“, der sich wie in einer Bach’schen Kantate durch alle Stimmlagen wandte, nachempfinden. Eine lange Unisonopassage öffnete sich allmählich zu einer vielstimmigen Kantilene, in dem Augenblick, in welchem sich die Überlebenden dazu entschließen, Gott in der Kathedrale bei einer Messe zu danken. Dass sich das grauenvolle Finale vor allem auch durch stimmlichen Einsatz ankündigt – da wird flüstergebrüllt, was das Zeug hält, liegt bei dieser Kompositionsweise auf der Hand.

Die Kostüme von Andrea Fischer markierten schwarze und weiße Charaktere. Die Regie ließ jedoch Personenwechsel zu und schrieb sowohl Josephe als auch Jeronimo unterschiedlichen Solistinnen und Solisten zu. Kreidt vermischte in einem cleveren Schachzug sowohl das Instrumentalensemble als auch die Sängerinnen und Sänger, um sie danach wieder zu trennen und ihnen nun aber einen anderen Platz zuzuweisen. Auf diese Art wurden nicht nur die Hauptfiguren, sondern auch die kleine Ansammlung von Überlebenden oder auch die große Menschenansammlung in und vor der Kirche, in welcher letztlich wieder gegen die Liebenden gehetzt wurde, plausibel visualisiert.

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„Das Erdbeben in Chili“ (Foto: Verena Koch)

„Das Erdbeben von Chili“ beeindruckte vor allem auch durch alle Mitwirkenden, die ein homogenes Ensemble ergaben, das sich gegenseitig unterstützte und in welchem sich niemand in den Vordergrund drängte. Auch das ist eine Erfahrung, die im Musiktheater nicht häufig vorkommt. Es wäre wünschenswert, wenn der Griessner Stadl mit weiteren Produktionen nach Graz kommt und weiter frischen Wind in das alte Gemäuer des Doms im Berg bläst. Vielleicht animierte die Produktion aber auch Grazer Publikum, sich das ein- oder andere Mal in Richtung Murau zu begeben und dieses kulturelle Zentrum mit seinem interessanten Programm zu besuchen.

In Graz waren zu sehen:
Clara Sabin, Helēna Sorokina, Jessica Kaiser, Margarethe Maierhofer-Lischka, Audrey G. Perreault, Manuel Alcaraz-Clemente, Stefan Jovanovic, Walter Ofner, Herbert Schwaiger, Ivan Trenev

Eine gute Geschichte ist wie ein scharfes Messer

Eine gute Geschichte ist wie ein scharfes Messer

„A good story is like a fit knife“ übersetzt: Eine gute Geschichte ist wie ein scharfes Messer. Diesen Satz rezitiert Anna Luca Poloni zu Beginn und am Schluss ihrer Produktion „Orlando Trip„, die sie gemeinsam mit Christian Mair beim Festival „Europa in Szene“ mit dem Schwerpunkt „Sea Change – die Kunst der Verwandlung“ in den Kasematten in Wiener Neustadt zur österreichischen Uraufführung brachte.

Die cineastisch-musikalische Show, unter dem Label „Fox on ice“ produziert, lehnt sich mit 12 Songs an die Tradition der „Konzeptalben“ an. Frank Sinatra gilt mit seinem Album „Frank Sinatra sings for only the lonely“ diesbezüglich als der Urvater dieses Genres, in welchem die einzelnen Titel aufeinander Bezug nehmen und somit ein bestimmtes „Konzept“ verfolgen.

„Orlando Trip“ rekurriert auf Virginia Woolfs berühmtes Buch „Orlando“ in welchem sie von der Verwandlung eines mittelalterlichen Ritters in eine Frau berichtet. Dass sich diese Verwandlung über den Zeitraum von 400 Jahren erstreckt, unterstreicht zusätzlich die fantastische Gedankenkonstruktion der Geschichte. Die Vorlage regte und regt viele künstlerisch Schaffende an, den Stoff wieder aufzunehmen und mit eigenen Interpretationen auszustatten. Was selbst unter Literaturfreaks kaum bekannt ist, ist die Tatsache, dass Woolf eine Vorlage für ihren Text hatte. Ludovico Ariostos „Orlando furioso“ aus dem 16. Jahrhundert. Interessanterweise poppt er gerade in unserer Zeit in unterschiedlicher Weise vermehrt auf. Mehrere Verfilmungen, eine Oper von Olga Neuwirth, Hörspielbearbeitungen, Tanzperformances, aber auch solche im öffentlichen Raum, wie das Orlando project in Wien machen klar, dass der Stoff nach wie vor ausreichend Impulse bietet, sich damit originär auseinanderzusetzen.

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Orlando-Trip (Foto: Ludwig Drahosch)

Christian Mair und Anna Luca Poloni alias Anna Maria Krassnigg tun dies in ihrer ihnen eigenen Art und Weise, die einen hohen Wiedererkennungswert aufweist. Filmmaterial, aufgenommen von Christian Mair, wird mit Texten von Anna Luca Poloni verzahnt, die von ihr gesungen, zum Teil aber auch im Sprachduktus vorgetragen werden. Man staunt, wie polyglott das Künstlerpaar in dieser Produktion unterwegs ist. Die Texte sind zum großen Teil in englischer Lyrik verfasst, ein Unterfangen, das meist nur jene Literaturschaffenden beherrschen, deren Muttersprache Englisch ist. Dazu gibt es italienische, aber auch französische Einsprengsel, welche den internationalen Touch, den die Inszenierung hat, unterstreichen.

Ein vorheriges Einlesen in den Stoff ist nicht notwendig, dennoch schafft es „Orlando Trip“, dass man danach gerne zu Woolfs Buch greift, um es erstmalig, aber auch noch einmal zu lesen. Ein Umstand, der bei Produktionen der ‚wortwiege‘ häufig anzutreffen ist. Daran kann man auch erkennen, dass eine der obersten Aufgaben dieses Theaters die Vermittlung von Literatur ist. Einerlei, ob es sich um Dramen handelt oder um dramatisierte Stoffe. Sinnlich, freudvoll, theatral umsetzbar – das sind die Kriterien, die ausschlaggebend für eine Aufnahme und eine Umsetzung der wortwiege sind. Nicht zu vergessen: diskussionswürdig.

Christian Mairs Kompositionen bewegen sich in „Orlando Trip“ zwischen sanften, oft dunkel eingefärbten, lyrischen Songs und rockigen, rhythmusbetonten, bis zu poppigen Ohrwürmern. Dabei spüren die Performenden dem Werdegang von Orlando nach, unterfüttern ihn mit aktuellen Visuals aus vielen unterschiedlichen Ländern und öffnen Fenster in Traumwelten. Hauptthema dabei ist die körperliche, nicht aber seelische Verwandlung, die Orlando ohne sein aktives Zutun im Schlaf vollzieht. Man wird Zeuge und Zeugin, wie er als junger Mann seine Gefühle und seine Verliebtheit in Sasha entdeckt, die ihn im alles entscheidenden Moment im Stich lässt. Man verfolgt seine Hinwendung zur Literatur, die er auch später als Frau als ein Lebenselixier weiter aufrecht hält. Und man staunt über die Widerständigkeit der weiblichen Orlando, die es versteht, ihre Eigenständigkeit trotz Ehe und Sohn zu bewahren.

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Orlando-Trip (Foto: Ludwig Drahosch)

Anna Luca Polonis androgyne Ausstrahlung in dieser Inszenierung unterstützt die Fluidität zwischen den Geschlechtergrenzen. Dabei fühlt man, trotz ihrer zarten Erscheinung, sowohl in der Darstellung des männlichen als auch weiblichen Parts eine permanente Kraft, die geschlechtsunabhängig zu sein scheint. Der junge Orlando wendet sich wie selbstverständlich nach seinem Liebesdesaster in seiner inneren Emigration der Literatur zu. Finanziell unabhängig, stellt er sich nicht einmal die Frage, ob er das kann und darf. Aber auch die weibliche Verwunderung über die Spiele zwischen Mann und Frau kann man authentisch nachempfinden. Wenn Anna Luca Poloni „dimmi, Capitano“ singt, wird damit auch die weibliche Faszination an der Uniform thematisiert. Zugleich aber vermittelt sie in jedem Augenblick einen unumstößlichen Freiheitswillen, den sie auch nach ihrer Verwandlung in eine Frau beibehält.

Christian Mair bildet neben ihr mit seiner E-Gitarre eine Art Fels in der Brandung der Inszenierung. Den „Takt angebend“, gelingt es ihm dennoch, seiner Partnerin so viel spielerischen Freiraum zu geben, dass sie beide gleichberechtigt in der Publikumswahrnehmung erscheinen. Ein Umstand, der im Konzertbusiness so kaum einmal anzutreffen ist, hier aber auf symbiotische Art und Weise bestens funktioniert.

„Why glue together? Is this nature`s will?“ singt Orlando an einer Stelle und wirft damit jene Frage auf, die das Zusammenleben und die Ehe als gesellschaftlich gefestigtes Phänomen zum Inhalt hat. Anders als bei aktuellen Gender-Debatten, ist Orlandos Verwandlung völlig friktionsfrei, ja fast natürlich, allenfalls zum Staunen. Es ist das größte Verdienst dieser Produktion, dass sie diese – wenngleich auch hypothetische, pazifistische Möglichkeit aufzeigt.

Im Rahmen der „Sea Change“ -Initiative wurde und wird „Orlando Trip“ in vielen europäischen Ländern gezeigt. Gerne wäre man bei jeder einzelnen Auslandsaufführung dabei, um die unterschiedlichen Publikumsreaktionen mitverfolgen zu können. Bei der Premiere in den Kasematten von Wiener Neustadt wurde „Fox on ice“ frenetisch applaudiert.

Eine weitere Vorstellung gibt es noch am 23.9.

Die Dreigroschenoper als ungebrochener Publikumsmagnet

Die Dreigroschenoper als ungebrochener Publikumsmagnet

Eine Oper, die weltweit fasziniert

Berlin, Hamburg, Leipzig, Freiburg, Wien, Salzburg. Das ist nur ein kleiner, unvollständiger Auszug jener deutschsprachigen Städte, in welchen „Die Dreigroschenoper“ in diesem Jahr aufgeführt wird. Auch internationale Festivals in Europa haben sie auf dem Spielplan, genauso wie Theater in Übersee.

Bert Brecht wurde durch Elisabeth Hauptmann auf den Stoff „The beggars`s opera“ aufmerksam. Kurt Weill schuf die Musik, eine ganze Anzahl von Songs, die größtenteils auch abseits der Theater- oder Opernbühnen bekannt sind. Es ist Weills ganz spezielle kompositorische Handschrift, die einerseits aus leicht merkbaren Refrains besteht, andererseits aber auch mit Dissonanzen, ungewöhnlichen Intervallsprüngen und nicht leicht zu singenden Stellen aufwartet, die der Dreigroschenoper ihren absoluten Wiedererkennungswert gibt.

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Die Dreigroschenoper in Salzburg  (Foto: Jan Friese)

Eine gelungene Fusion von Musik und Spiel

Am Schauspielhaus Salzburg wurde im Mai 2023 unter der Regie von Jérôme Junod unter großem Publikumserfolg die Oper rund um die Londoner Unterwelt-Gesellschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gezeigt. Die Besetzung des Orchesters wurde bewusst auf ihr Minimum reduziert. Sieben Musiker, im Bühnenhintergrund angesiedelt, begleiteten das Ensemble mit Bravour. Sowohl zart Ausgeformtes als auch üppige Klänge, die leicht größere Säle hätten füllen können, wurden unter der Leitung von Gernot Haslauer produziert. Nach der eröffnenden Moritat über Mackie Messer, gesungen nicht von einem Moritatensänger, sondern von Petra Staduan (Spelunken Jenny), erklang die Ouvertüre mit Fugen-Charakter, einer musikalischen Kunstform, die ihre hohe Blüte zu Bachs Zeiten erlebte. Häufig wird die Vielfalt der musikalischen Nummern, die Weill komponierte, überhört oder auf sie nicht weiter eingegangen. Doch gleich mit dieser Nummer verwies er direkt auf die Geschichte der Dreigroschenoper selbst.

Die Vorlage, The Beggar’s Opera stammt von John Gay (Text) und Johann Christoph Pepusch (Musik) aus dem Jahr 1728. Die Ouvertüre von Weill verweist, wie auch der Schlusschoral, den er von Pepusch übernommen hat, auf die Zeit ihrer Entstehung, ja mehr noch. Diese beiden Musikstücke geben der Dreigroschenoper eine Einrahmung, eine musikalisch-historische Klammer, zwischen welcher sich die neue Fassung ausbreitet.

Antipoden und ihr theatralisches Spiel

Mit der idealen Besetzung, die im Schauspielhaus Salzburg getroffen wurde, und der permanenten Präsenz der Musiker auf der Bühne selbst, kamen Musik und Spiel gleichbedeutend zu ihrem Recht. Mackie Messer und Jonathan Jeremia Peachum erwiesen sich mit Theo Helm und Olaf Salzer von Beginn an schon optisch als Antipoden. Der Draufgänger und Haudegen Macheath, getrieben von seiner Libido, wurde als zierlicher Mann präsentiert, der in Junods Interpretation seinem Schwiegervater, dem Bettlerkönig Peachum, schon von seiner Körpergröße her nicht das Wasser reichen kann. Um in die am vorderen Bühnenrand bereitgestellten Mikrofone zu singen, musste er jeweils ein Stockerl verwenden, um auf die gleiche Höhe zu kommen, die für Peachum zuvor passend gewesen war. Auch Petra Staduan und Tanja Kuntze, Letztere verkörperte die Ehefrau von Peachum, waren von der Ausstattung gut erkennbar als Gegenspielerinnen angelegt. Staduan agierte im elegant schimmerndem Kleid im Stil der mondänen 20er-Jahre als Femme fatale. Tanja Kuntze hingegen gab wesentlich biederer die alternde Möchte-Gern-Gesellschaftslady, die jedoch genau weiß, wie das Gaunergeschäft aufgebaut und zu bedienen ist. Das aufwendige, weiße Brautkleid, das Polly Peachum (Johanna Egger) kurz vor der Verurteilung ihres Mannes Mackie Messer gegen eine schwarze Trauerrobe tauscht, stand in krassem Gegensatz zum Outfit ihrer Rivalin Lucy (wunderbar humorvoll Magdalena Oettl). Ragna Heiny schuf die Ausstattung und griff dabei für die Rolle des Polizeichefs Tiger Brown, dargestellt von Marcus Marotte, besonders in die Vollen. In einem Rollstuhl sitzend, an dem ein Blaulicht angebracht war und selbst kurzatmig mit einem Sauerstoffschlauch verbunden, löste jeder einzelne seiner Auftritte Publikumslacher aus. Aber auch Johanna Klaushofer, Simon Jaritz-Rudle und Florian Stohr, allesamt in Mehrfachrollen zu sehen, waren mit einer höchst beachtlichen Lumpen-Kollektion ausstaffiert, die zugleich auch rasche Kostümwechsel ermöglichten. Ihre komödiantischen Einlagen als tölpisches Gauner-Gefolge von Mackie Messer setzten immer wieder humorvolle Höhepunkte.

Die komplett offene Bühne, nur mit wenigen Sitzgelegenheiten akzentuiert, wandelte sich nur durch die Beleuchtung in unterschiedliche Raumsettings. Der rollbare Wäschekorb, wie man ihn aus der Hotellerie oder auch Krankenhäusern kennt, diente Mackie Messer als Gefängniszelle. Herrlich jene Szene, in welcher Mackies Hut vor seinem „Gefängnis“, darin und darüber wandert, bis der schon Verurteilte schließlich selbst das Weite suchen kann.

Ernst und Satire in der Salzburger Fassung

Das Spiel mit unterschiedlichen Identitäten war ein Charakteristikum in der Salzburger Fassung und verwies mit viel Humor auf die Wandelbarkeit der Menschen, zugleich aber auch auf das Spiel im Theater an sich. Den satirischen Touch, den Weill seiner Dreigroschenoper angedeihen ließ, dieser schiefe Blick mit viel Augenzwinkern auf das eigene Tun, kam in der Junod-Inszenierung besonders gut zur Geltung. So tragisch die Geschichte jeder einzelnen Existenz auf der Bühne auch sein mag, die Absurdität ihres Tuns und Lassens überwiegt auch die schärfste Sozialkritik. Es ist gerade diese gelungene Mischung aus Humor und Ernst, welche die Dreigroschenoper seit Jahrzehnten als Publikumsmagnet ausweist. Trotz allem Klamauk blieb einem letztlich durch eine gekonnte Regie-Idee dennoch ein Klos im Hals stecken. Nach der wundersamen Opernerrettung von Mackie Messer und einem langen Black nach dem Endchoral, setzte Junod ein emotional starkes Finale. Dafür stieg Petra Staduan Schritt für Schritt mit gebanntem Blick in das Flämmchen ihres Feuerzeuges, das sie knapp vor ihr Gesicht hielt, die Treppe zwischen den Publikumsreihen empor und sang die letzen beiden Strophen der Mackie-Messer-Moritat. „Denn die einen sind im Dunkeln, und die andern sind im Licht. Und man siehet die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht“, ist jener Brecht`sche Schlussvers, der vor ihrem endgültigen Saalabgang noch zu vernehmen war.  Bis heute verfehlen diese Worte, wenn sie, wie in dieser Inszenierung, gekonnt eingesetzt werden, nicht ihre psychologische Wirkung.

 

 

Eine Seelenschau, die Gänsehaut hinterlässt

Eine Seelenschau, die Gänsehaut hinterlässt

Ingmar Bergmann ist allen Cineasten ein Begriff. Seine „Herbstsonate“, die 1978 in die Kinos kam, war mit Ingrid Bergmann und Liv Ullmann in den Hauptrollen genial besetzt und ist allen, die den Film gesehen haben, noch Jahrzehnte danach in Erinnerung. Es war nicht allein die Geschichte an sich, die fesselte. Ein Drama, in dem die psychologischen Hintergründe einer Mutter-Tochter-Beziehung offengelegt wurde. Es war auch das Setting, angesiedelt im Norden Europas und die Kameraführung mit vielen Close-ups, die den Film einzigartig machten.

„Als ich den Film gesehen habe, wusste ich, dass ich die Geschichte unbedingt auch auf die Bühne bringen wollte“, O-Ton von Gerhard Werdeker. Dass die Geschichte der Pianistin Charlotte Andergast, die ihre beiden Töchter über lange Strecken allein bei ihrem Vater ließ, um ihrer Karriere nachzugehen, auch nach 45 Jahren noch fesselt, zeigt, dass Bergmann mit den Konflikten eine zeitlose Materie aufgegriffen hat. Ende der 70er-Jahre von vielen noch als Affront gegenüber dem 5. Christlichen Gebot „Du sollst Vater und Mutter ehren“ empfunden, bietet es heute viele Momente, in welchen sich Menschen wiederfinden können, die von ihren Eltern in ihrer Kindheit nicht die Liebe erfuhren, die sie sich gewünscht haben.

Werdeker arbeitet mit einem reduzierten Bühnenbild von Raoul Rettberg, in dem ein Tisch mit Sesseln, eine große, rote Kiste und leicht gebogene Wandfragmente ausreichen, um das Pfarrhaus, aber auch den Friedhof der kleinen Gemeinde, in der Eva mit ihrem Mann Viktor leben, darzustellen. Wie immer, wenn Werdeker Regie führt, gibt es nichts, was unabsichtlich auf der Bühne positioniert ist. Über dem Setting hängt eine weiße, runde Tafel hoch in der Luft, mit der Zeichnung der typischen Cello-Schall-Löcher. Diese Tafel, aber auch ein blauer Ball, so wird sich bald zeigen, fungieren als Platzhalter zweier Menschen, die in der Fassung von Werdeker nicht gezeigt werden, dennoch aber für das Geschehen bestimmend sind.


Der blaue Ball steht als Symbol für den Sohn von Eva, der im hauseigenen Brunnen im Alter von vier Jahren ertrank. Die runde Tafel mit der Cello-Assoziation hingegen für Leonardo, den Partner von Charlotte, Evas Mutter. Der ebenfalls verstorbene Cellist hatte nicht nur großen Einfluss auf die Pianistin, sondern auch auf ihre kranke Tochter Helena, die in Werdekers Fassung nur erwähnt, aber nicht gezeigt wird. Die Reduktion auf drei Personen tut der Handlung keinen Abbruch, ganz im Gegenteil. Sie konzentriert diese auf die wesentlichsten Ereignisse, die sich Mutter und Tochter wechselweise erzählen und vorhalten. Überdies evoziert die Absenz der kranken Helena noch zusätzliche Gänsehaut, denn alles, was an Grauen nicht sichtbar, sondern nur im Kopfkino abgeht, wird meistens noch schlimmer empfunden, als wenn dieses halb realistisch vorexerziert wird.

Brigitte West in der Mutterrolle und Dana Proetsch als ihre Tochter spielen sich innerhalb kurzer Zeit in einen Furor, der seinesgleichen sucht. Nicht nur, dass jede einzelne Mimik, jede einzelne Geste bei beiden sitzt. Sie schaffen es, das Publikum so mitzureißen, dass es die Umgebung des Theaters komplett vergessen kann. In ihrem Spiel stimmt absolut alles. Der Ton der erhitzten Gemüter ebenso wie das zunehmende Sprachtempo. Die theatralischen, ausufernden Bewegungen der Mutter genauso, wie das Erschrecken der Tochter vor ihrer eigenen Courage. West wechselt innerhalb weniger Augenblicke so schnell zwischen Trauer, Selbstdisziplin und Selbstmitleid, dass einem Hören und Sehen vergehen kann. Proetsch hingegen erscheint über lange Strecken hinweg ihrer Mutter charakterlich überlegen. Erst, als sich das Dilemma der Double Bind Erziehung stärker zeigt, verliert auch sie ihre Beherrschung und bricht aus der bis dahin reflektieren Frauenrolle aus. Anna Pollack zeigt in der Kostümwahl auch deutlich den charakterlichen Unterschied zwischen Mutter, die häufige Kleiderwechsel hat, und ihrer Tochter. Bei dieser wird der Wechsel zum nächtlichen Outfit allein in der veränderten Sockenwahl deutlich.

Christian Kohlhofer agiert in der Rolle des Ehemannes von Eva, wie auch im Film, zum Teil als Erzähler. Ganz zu Beginn spricht er direkt von der ersten Publikumsreihe aus und lässt sich nicht, während die beiden Frauen immer hitziger agieren, von deren seelischen Turbulenzen mitreißen.

In einer atemberaubend schönen Szene gelang es Werdeker, Eva ohne Klavier ihrer Mutter die Prélude No. 2 von Frédéric Chopin vorzuspielen. Wie diese danach ihre Interpretation zu Gehör bringt – ebenfalls ohne Instrument – ist mehr als sehenswert. Allein wegen dieses Aktes lohnt es sich, sich die Herbstsonate im Theater Spielraum anzusehen. Alle, die einen Theaterabend erleben möchten, der alles beinhaltet, was gutes Theater ausmacht, sollten sich diesen in der Kaiserstraße nicht entgehen lassen.

Alte Machtspiele in zeitgenössischem Gewand

Alte Machtspiele in zeitgenössischem Gewand

Das Wort „Totentanz“ ist im europäischen Kunstverständnis mit bildlichen Darstellungen verknüpft, die seit dem Mittelalter in unablässiger Folge bis in unsere Zeit neu interpretiert werden. Die letzten mir bekannten, die europaweit in öffentlichen Gebäuden entstanden sind, sind jene von Gerald Brettschuh (2002 in der Aufbahrungshalle des evangelischen Stadtfriedhofs in Graz und 2004 in der Aufbahrungshalle in Mureck). Beide zeigen großformatig einen personifizierten Tod, einmal mit einer Querflöte, das andere Mal mit einer Fiedel beim Musizieren. Beide Male weilt er mitten unter den Lebenden, vermittelt aber deutlich, dass er diese schon zum Sterben auserkoren hat. Anhand des zeitgenössischen, österreichischen Künstlers wird klar, dass der Totentanz ein Genre ist, das über die Jahrhunderte hinweg ein Faszinosum auf die Menschen ausübt. Ein so starkes, dass sie sich künstlerisch bis heute damit auseinandersetzen.

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Totentanz (Foto: Julia Kampichler)

Es kommt nicht von ungefähr, dass der Totentanz mit der Abbildung eines Gerippes, das sich unter tanzende Lebende mischt, im 14. Jahrhundert vermehrt auftrat. Es war jenes Jahrhundert, in dem die Pest in Europa zu wüten begann und über 20 Millionen Tote forderte. Das Grauen, das in diesen Darstellungen aufkommt, hinterlässt bei den Betrachtenden dementsprechend ambivalente bis beunruhigende Gefühle.

So ist verständlich, dass ein Theaterstück mit dem Titel „Totentanz“ nicht dazu prädestiniert erscheint, ein Publikumsmagnet zu werden. Womit der Grund angesprochen wurde, die gleichnamigen Dramen von August Strindberg „Totentanz 1 und Totentanz 2“ schon wenige Jahre nach Strindbergs Tod für die Bühne umzubenennen. Letztlich beließ man jedoch die Originaltitel, was – das zeigt auch die aktuelle Interpretation in den Kasematten von Wiener Neustadt – durchaus Sinn macht.

In dem 1900 entstandenen Drama tritt der Tod zwar nie in Erscheinung, spielt aber dennoch eine Hauptrolle. Uwe Reichwaldt, ein junger Regisseur, der am Max Reinhardt Seminar seinen Studienabschluss gemacht hat, hat dies nun geändert. In seiner Inszenierung, die im Rahmen des Festivals „Europa in Szene“ unter der künstlerischen Leitung von Anna Maria Krassnigg gezeigt wird, ist dieser Tod omnipräsent. Der einzige Unterschied zu den bildlichen Darstellungen, die sich überliefert haben, ist, dass dieser Tod in weiblicher Gestalt auftritt. Isabella Wolf – in Wiener Neustadt durch ihre großen Rollen wie dem Pandulfo (König Johann) oder der verlassenen Frau (Die Königin ist tot) sowie Robespierre (Dantons Tod) dem Publikum bestens bekannt, begleitet von der ersten bis zur letzten Szene unaufdringlich, aber dennoch ständig präsent, das Geschehen.

Die beiden Eheleute Alice und Edgar, er ein Hauptmann, sie eine ehemalige Schauspielerin, stehen kurz vor ihrem 25. Hochzeitstag. Schnell wird klar, dass die anfängliche, gegenseitige Bewunderung irgendwann im Laufe der Ehejahre in blanken Hass umgeschlagen hat und sich die beiden, wo es nur geht, das Leben schwer machen. Ihre Kinder, ein Sohn und die Tochter Judith, leben nicht mehr mit den Eltern in einem festungsähnlichen Turm auf einer Insel vor Schweden, sondern wachsen in Internaten in einer Stadt auf. Durch den Besuch von Kurt, eines Cousins von Alice, der auf der Insel der „Quarantäne-Beauftragte“ werden soll, gerät die ausbalancierte Schieflage der Ehehölle völlig ins Rutschen. Edgar erweist sich als unvorstellbarer Intrigant, der weder Lügen noch Demütigungen scheut, um sein eigenes Ego hochhalten zu können. Dazu kommt, dass man zwischen den Zeilen heraushört, dass Kurt und Alice in ihrer Jugend mehr verband als ihre familiäre Abstammung.

Strindberg erzählt das sich nun ausweitende Drama klar und schnörkellos, manches Mal auch mit harten Schnitten und einem Erzählfluss, bei welchem man – genauso wie Alice und Kurt selbst – erst nach und nach begreifen kann, welch unmenschliche Aktionen Edgar gesetzt hat, um allen seine Macht zu zeigen. In der allerersten Szene ist die Tochter von Alice und der Sohn von Kurt in einem sich anbahnenden jugendlichen Zu- und Abneigungs-Geplänkel zu erleben. Dabei erweisen sie sich als wahres Spiegelbild ihrer Eltern. Sich lieben und hassen, sich anziehen und abstoßen, dieses Spiel gelingt ihnen schon in Perfektion. Reichwaldt hat beide Dramen von Strindberg – jenes der Elterngeneration und jenes der Kinder – äußerst klug und gerafft in ein einziges zusammengeführt und es bedarf tatsächlich nur weniger „Jugend-Auftritte“, um aufzeigen zu können, wie sehr das, was durch ihre Erziehung in ihnen wachsen konnte, zumindest zu Beginn unreflektiert ausgelebt wird.

Wie in einer Art Rückblende beginnt danach das Ensemble hinter einem durchscheinenden Vorhang in der Bühnenapsis zu spielen. (Bühne Thomas Garvie, Max Seper) Begleitet wird es von einer Kamera, die an einer Stelle das Gesicht von Edgar beunruhigend groß und bedrohlich projiziert. Er ist es, der vom Tod gezeichnet noch verzweifelt versucht, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um sich seine Umwelt ohne Rücksicht auf Gefühle untertan zu machen. Doch immer wieder wird er von diesem gebeutelt oder eingefroren, scheint seine Wahrnehmung zu verlieren und seine Umgebung nicht mehr zu kennen.

Das Spiel mit den räumlichen Gegebenheiten in den Kasematten funktioniert perfekt und trennt die einzelnen Szenen ohne größeren Umbau voneinander. Dabei gelingt ein Schwebezustand zwischen Realität und Traum, bei dem man das eine von dem anderen manches Mal schwer voneinander unterscheiden kann. Musikalisch begleitet wurde die Premiere von David Gratzer, der sowohl mit einem Stage-Piano als auch einer E-Gitarre die jeweilige Atmosphäre klanglich gelungen unterstützte.

Lukas Haas, bei diesem Festival heftig gefordert, da er in der zweiten großen Produktion in den Kasematten die Titelrolle in Coriolanus spielt, personifiziert Edgar, den Familientyrannen perfekt ohne jegliche Sympathienoten. Nils Hausotte wirkt in der Doppelrolle als Cousin Kurt und dessen Sohn Allan wie das genaue Gegenteil: still und ruhig, alles über sich ergehen lassend, ohne jegliche Aufregung. Diese lässt er selbst dann vermissen, als ihm der finanzielle Boden unter den Füßen von Edgar weggezogen wird und dieser ihm noch obendrein seinen Sohn entzieht. Auch Annina Hunziker schlüpft in eine Doppelrolle. Sowohl Alice als auch ihre Tochter Judith wird von ihr gespielt. Besonderes Augenmerk darf man jener Szene schenken, in der die Mutter ihre Tochter in einer Art Initiationsritus in das schickliche Kleiden einer jungen Frau einweist. Wie Uwe Reichwaldt dies umsetzt, hat große Klasse und jede Menge Tiefgang. (Kostüme Antoaneta Stereva)

Es ist der Mix und die Verschränkung des Geschehens mit zeitgenössischen, technischen Bühnenmitteln, die in dieser Inszenierung von Beginn bis zum Schluss besonders faszinieren. Es ist aber auch die Erkenntnis, dass Machtspiele – und seien es auch nur solche innerhalb der eigenen vier Wände – bis heute, ja wahrscheinlich nie, ihre Aktualität verlieren. Die Wiener Neustädter Kasematten erweisen sich aufgrund ihrer Baulichkeiten und ihrem ehemaligen Verwendungszweck als Verteidigungs- und Wehrbau fast schon als ideale Naturkulisse. Die dicken Mauern des Turmes der Eheleute müssen nicht erst künstlich nachgestellt werden, sie sind vorhanden und in jedem Augenblick spürbar. Sosehr der Kampf zwischen den Geschlechtern von einem einzigen Tyrannen bestimmt wird, sosehr beeindruckt letztlich die Reaktion seiner geliebten Tochter Judith. Sie schafft es, in einem Mut erfordernden Befreiungsschlag, ihr Leben selbstbestimmt in die Hand zu nehmen und – das darf das Publikum letztlich auch hoffen – eine andere Partnerschaft als ihre Eltern zu gestalten.

In einem Interview, das Anna Maria Krassnigg mit der amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Liliane Weissberg anlässlich einer Matinée führte, wies diese auf erstaunliche Parallelen zwischen der Strindberg-Familienkonstellation und jener des Ex-Präsidenten der Vereinigten Staaten, Donald Trump, hin. Wie Edgar liegt Trump offenbar seine eigene Tochter mehr am Herzen als alle anderen Familienmitglieder um ihn herum und wie im Strindberg-Drama ist es die Tochter, die als einzige den Mut hat, gegen ihren Vater aufzutreten. Ein wunderbarer Hinweis, der zugleich deutlich macht, wie aktuell dieses Stück nach wie vor ist.

Zur Entscheidung, das Festival „Europa in Szene“ in dieser Auflage vom diplomierten Regienachwuchs des Max Reinhardt Seminares zu bespielen, darf man Anna Maria Krassnigg gratulieren. Das ist nicht nur als programmatischer Schachzug zu bewerten, sondern zeugt auch von einer Generosität, die im Theaterbusiness eine große Ausnahme darstellt. Sowohl Totentanz als auch Coriolanus stehen noch bis Mitte Oktober auf dem Spielplan. Ergänzt werden sie durch das neue Format „Reden“, sowie den sonntäglichen Matinéen des „Salon Europa“.

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