Zeitgenössische Kunst vom Feinsten

Zeitgenössische Kunst vom Feinsten

Das fulminante Abschlusskonzert des Festivals Musica in Strasbourg bestritt das Ensemble intercontemporain gemeinsam mit Unterstützung des accentus – axe 21 unter der Leitung der finnischen Dirigentin Susanna Mälkki.

Susanna Mälkki, Alain Billard - Foto: © Aymeric Warmé-Janville

Susanna Mälkki, Alain Billard - Foto: © Aymeric Warmé-Janville

Das Konzert war nicht nur von der Besetzung her vom Feinsten, sondern auch das Programm war so gut gewählt, dass es schon Vorfreude auf die nächste Saison weckte. Werke vom japanischen Komponisten Dai Fujikura (geb. 1977) sowie vom Australier Yann Robin (geb. 1974) standen auf dem Programm, dessen Abschluss von Luciano Berios (1925-2003) Laborintus II zelebriert wurde.

Alle Werke verdienen die Bezeichnung zeitgenössische Musik tatsächlich, denn sie stehen in keiner Weise nachahmend und epigonenhaft in Traditionen, deren tief eingefahrenen Ackerwege nur mühsam entkommen werden kann. Ganz im Gegenteil. Lucianos Werk, entstanden 1965, in welchem er sich auf Dante bezieht, dessen Texte in einer Bearbeitung von Edoardo Sanguineti zum Einsatz kamen, hat von seiner ursprünglichen Frische überhaupt nichts eingebüßt und kann heute noch als Meilenstein auf dem Weg vorwärts in eine neue musikalische Epoche gelten. Nicht umsonst ist es bewusst als Finale des gesamten Festivals ausgewählt worden. Die Vermischung zwischen dem szenischen Spiel des Erzählers, der sich zwischen den Musikern des Orchesters und den Sängern bewegt, die neuartige Stimmverwendung von rasendem Geschrei bis hin zu gezischelten und dennoch gut verständlichen Textpassagen, sowie der respektlose Umgang mit den Instrumenten, die sich weit von ihrem herkömmlichen, symphonischen Einsatz entfernen, verleiht diesem Werk zurecht Kultstatus. Beeindruckend waren die solistischen Leistungen von Fosco Perinti sowie Valérie Philippin, Laurence Favier Durand und Valérie Rio, die auch mit ihrer Spielfreude dazu beitrugen, dass die Grenze zwischen Kunst und Realität nur mehr durch eine hauchfeine, unsichtbare Membran getrennt war. Sein ungestilltes Verlangen nach dieser Frau, das in Raserei und schließlich endgültiger Aufgabe umschlägt, berührte und wühlte auf, seine Läuterung erweckte Mitleid und als er schließlich sich neben das Dirigentenpult auf den Boden legte und seine Augen schloss, hatte man das Bedürfnis diesen verletzten Menschen zu beschützen – besser können Emotionen musikalisch ausgedrückt, nicht auf die Bühne gebracht werden.

Dai Fujikura ist ganz ein Kind seiner Zeit, die von visuellen, elektronischen Medien geprägt ist. Er präsentierte „secret forest“ ein Werk aus dem Jahr 2008, in welchem er eine musikalische Natur erschafft, die er nach seinen Wünschen gestaltet.  „Wenn ich im Wald bin, würde ich den Vögeln am liebsten sagen, dass sie nicht so einen Krach machen sollen und ihre Gesänge mehr abwandeln könnten“ meint der Komponist. Er teilt das Orchester in zwei Gruppen, einerseits den Streichern auf der Bühne und andererseits den Bläsern und Percussionisten, die er neben dem Publikum Aufstellung nehmen lässt und verbindet diese beiden Teile durch den Fagottisten, der inmitten des Publikums leicht erhöht thront. Ihm ist die Rolle des Mannes zugeschrieben, der durch den Wald schreitet und die beiden Elemente – die die Streicher, die sich durch die Dirigentin in Fujikuras Welt wie Marionetten leiten lassen und die Bläser – die das unbändigbare Getier des Waldes imitieren, verbindet. Besonders schön gelang ihm der Schluss seines Werkes, in welchem er Wind- und Wasserrauschen imitiert und in die polyphone Partitur einarbeitet – bis hin zum allmählichen Ausklingen, dem man noch lange in die Stille seines künstlichen Waldes nachlauschte.

Als eine Überraschung und einen Höhepunkt zugleich muss das Konzert von Yann Robin bezeichnet werden. Die orchestralen Schläge im Fortissimo, die schon von der ersten Note weg Schneisen in die Saalluft schnitten und ihre ständige Wiederaufnahme, lassen zwar Einflüsse gerade von Berio erkennen, sind aber so eigenständig verarbeitet, dass nicht der leiseste Gedanke an Eklektizismus aufkommen kann. Das Werk „Metal III“ ist der letzte Teil einer Serie, in welcher sich der Komponist mit der Kontrabassklarinette besonders auseinandergesetzt hat. Die Kraft, Macht, Brillanz, Energie und das Leuchten des Metalls standen laut seinen eigenen Aussagen Pate für die Arbeit. Was man hingegen tatsächlich hört, sind Urschreie, Gebrüll, Gewinsel, Aufbegehren und Raserei von einer undefinierten Mensch-Tier-Gattung, die vor allem durch das Soloinstrument, gespielt von Alain Billard, ausgedrückt wird. Die Verfremdung und Einspielung über die Lautsprecherboxen, kurz zuvor vernommener Töne und Laute, lässt das Publikum sich nicht nur inmitten dieses beinahe schon körperlich greifbaren, akustischen Geschehens befinden, sondern es verursacht dumpfe Gefühle von Bedrohung und Irritation. Immer wieder schwappen die klanglichen Eruptionen des Orchesters in Soloparts der Kontrabassklarinette über, in welcher alle Möglichkeiten, das Instrument zu verwenden, ausgeschöpft werden. Rein aspirierende, rhythmische Klänge wechseln mit solchen, in welchen Billard seine Stimme zugleich mit einsetzt, oder zeigen in aberwitzigen, sprunghaften Passagen, wie virtuos er sein Instrument beherrscht. Eine Komposition, die deutlich macht, dass Yann Robin eine Möglichkeit gefunden hat, dem instrumentalen, orchestralen Klangkörper eine neue Bedeutung zu verleihen. Er hat sich damit eine Türe geöffnet, durch die er auf einem strahlenden Weg in seine persönliche, künstlerische Entwicklung schreiten kann.

Dass der Abend so gelungen war, weil sich das Ensemble intercontemporain und accentus – axe 21 hier von seinen absoluten besten Seiten gezeigt hat, kommt schon einem Nebensatz gleich, der aber keinesfalls nebensächlich aufzufassen ist. Susann Mälkki, die 40 Jahre junge Dirigentin mit dem knabenhaften Aussehen, sprengte alles, was landläufig an Schemata des Weiblichen in den Köpfen geistert. Ihre Zartheit ist mit einer Kraft und Musizierfreude gepaart, die auch unter Männern schwer zu finden ist. Ihre präzisen, mit feiner Gestik ihrer Hände unterstützten, für alle gut sichtbaren Einsätze, erinnern an Haltungen des klassischen Thai-Tanzes. Die schwierigen, zeitgenössischen Partituren scheinen keinerlei Herausforderung für sie darzustellen, wirken vielmehr so, als hätte sie diese schon hundertfach vorher interpretiert. Susann Mälkki ist eine absolute Ausnahmeerscheinung, der man wünscht, sich in die Reihe der Unsterblichen Dirigenten emporzuarbeiten. Wer jedoch einen Abend wie diesen erlebt hat, für den oder die wird sie sowieso unvergesslich bleiben.

Das eigene Heim als Trauma und Traum

Das eigene Heim als Trauma und Traum

musikFabrik - Shelter - Foto: Klaus Rudolph

musikFabrik - Shelter - Foto: Klaus Rudolph

Shelter - Szenisches Konzert mit Videoprojektionen - Foto: Klaus Rudoph

Shelter - Szenisches Konzert mit Videoprojektionen - Foto: Klaus Rudoph

Die dunkle Bühne ist von den rohen Ziegelwänden umgeben, in deren Mitte sie platziert ist. Kein Bühnenbild im künstlerischen Sinne, sondern eine Bühne inmitten einer realen Architektur. Mit einem 16köpfigen Ensemble, einem Dirigenten, drei Sängerinnen sowie zwei zusätzlichen Leinwänden – eine hinter und eine vor den Musikern – kommt Shelter aus, um eine Reihe von Bildern im Kopf entstehen zu lassen, die von den filmischen Projektionen geleitet und von der Musik unterstützt werden.

Shelter, dieses multimediale Spektakel mit der Musik von Michael Gordon, David Lang und Julia Wolfe, erzählt von persönlichen Lebensmomenten, die jedoch in kollektiv Erlebtes kippen, wobei der Blick mehr zurück als noch vorne gerichtet ist. Die Musik switcht innerhalb der 7 gezeigten Filme, die von Bill Morrison überarbeitet, collagiert und remixt wurden, zwischen Minimalmusic, wie man sie ähnlich auch von Philipp Glass gehört hat, hin zu symphonischen Rocksätzen; zwar schon lange her, aber noch immer beispielgebend von Deep Purple mit dem London Symphonic Orchestra vorexerziert, um auch elektronische Urväter wie z.B. Kraftwerk aus Deutschland, zu zitieren, ohne diese jedoch wirklich zu kopieren.

Shelter – also Schutz im weitesten Sinne – zählt auf, worin der Mensch Schutz sucht. In seinen eigenen vier Wänden genauso wie in seiner Familie – immer jedoch am Rande der möglichen Katastrophe, und sei sie nur das ganz Alltägliche oder auch Lächerliche. Bill Morrison lässt die Zuseher seiner Filme stets im Ungewissen. Sie pendeln zwischen reinen dokumentarischen Aufnahmen und angstschwangeren Aussagen hin und her wobei vor allem jedes Sicherheitsbedürfnis vermieden wird. Selbst in Szenen wie jenen von amerikanischen Familien, die sich im Sommer zum Grillen treffen, meint man einen späteren, schlechten Ausgang der Idyllen voraussehen zu können. Shelter zieht vor allem durch die Live-Performance der Instrumentalisten aber auch der drei Vokalsolistinnen das Publikum in seinen Bann. Der Sopran von Amy Haworth und Micaela Hasiam sowie die Altstimme von Heather Cairncross kommen klar, manchmal schneidend und dringen immer durch alle Bildebenen in den Vordergrund. Dabei ist es egal, ob sie davon singen, wie sie sich ihrer Wohnung annähern oder wie viele einzelne Bauelemente ihr Haus besitzt.

Im Take „The boy sleeps“ , in welchem die schöne, minimale Komposition perfekt in Bilder umgesetzt wurde, gelingt ihnen der Transfer von einer persönlichen Erzählebene hin zum Bewusstsein, dass viele Jungen nächtens schlafen, vor allem auch aufgrund ihres subtilen Stimmeinsatzes. Zu Beginn des Satzes lagert die Aussage „The boy sleeps“ auf einem einzigen Ton, der von den Sängerinnen oftmals repetiert wird. Nach und nach geht es in eine Polyphonie über, der sich auch Instrumentalstimmen anschließen, bis es schließlich auch filmisch in eine Abfolge von hintereinander geschnittenen Filmsequenzen läuft, in welcher Buben – vom Baby bis hin zum Teenager – in ihren Betten schlafen. Die letzten filmischen Eindrücke zeigen Überschwemmungen und Menschen, die ihr Hab und Gut mit Pferdekarren in Sicherheit bringen. Die Musik nimmt, auch unterstützt durch eine harte Trommelpassage, an Dramatik zu und endet schließlich furios symphonisch. Wenngleich der Abend keine musikalische Brisanz von Avantgarde in sich trug, war er gelungen, wozu die Ensemblemitglieder der musikFabrik unter der Leitung von Peter Rundel maßgeblich beitrugen.

Orchester trifft auf Virtuosen

Orchester trifft auf Virtuosen

Les Siècles - © Simone Poltronieri

Les Siècles - © Simone Poltronieri

Ein Abend des großen Orchesters mit Werken zeitgenössischer Musik, so kann die Vorstellung des Ensembles Les Siècles unter der Leitung von Francois-Xavier Roth in Kürze zusammengefasst werden. Gleich vier zeitgenössiche Kompositionen kamen zur Aufführung.

Zu Beginn war „So nah, so weit“ aus dem Jahre 2006 des jungen Komponisten Bruno Mantovani (geb. 1974) zu hören. Eine Arbeit, die mit Stereoeffekten im Orchester zu spielen wusste. Mantovani platzierte das Ensemble so, dass ein linker und ein rechter Klangkörper etwas getrennt voneinander saßen. Flankiert waren sie jeweils von einem Klavier. Überaus vielfältig präsentierte sich dieses Konzert, mit schwingenden Stellen in den Bläsern und Streichern, denen laute Rhythmuseffekte in den Schlagwerken aber auch im Klavier entgegengesetzt wurden. Kurze, hintereinander abrollende Sequenzen endeten mit abrupten, hart akzentuierten Schlussakkorden. Natürliche Laute, wie jenes eines weit entfernten Folgetonhornes oder eines tropfenden Wasserhahnes, imitierte Bruno Mantovani mit den Instrumenten meisterlich. Ein leises Ausklingen durch sparsame Klänge, die aus gegenüberliegenden Klavieren ertönte, stand ganz im Gegensatz zur fulminanten, vorherigen Entwicklung. Ein sehr komplexes, schönes Werk, von großer Kurzweiligkeit.

Ihm folgte Wolfgang Rihms (geb. 1952) Versuchung von 2009, die er selbst eine Hommage an Max Beckmann nennt. Das Konzert für Violoncello und Orchester ist so eigentlich falsch beschrieben. Eigentlich müsste es heißen für Violoncello mit Orchesterbegleitung, denn der Part, den dieses Instrument ausfüllt, ist nicht nur volumen- sondern auch raumgfreifend. Interpretiert wurde er von Sonia Wieder-Atherton, die in atemberaubender Weise Rihms Komposition umsetzte. Ihr Cello sang das komplette Stück über, zeigte kraftvolle, tiefe Lagen genauso wie saubere hohe Intonationen – und dies im raschen Wechsel hintereinander und ordnete sich nur einmal der Geige kurz unter, um deren Motiv sofort lagenversetzt laut nachzusingen. Rihms Komposition schwankt zwischen eruptiven Ausbrüchen und zarten, melodischen Einsprängseln und verlangt von der Solistin 25 Minuten lang vollen Einsatz. Es zeigt, dass es auch heute noch möglich ist, ein Konzert für ein Instrument und Orchester zu verfassen, welches imstande ist, das Publikum zu fesseln.

Ein jäher Kontrast dazu stellte Marin Matalons Werk (Trame VIII) dar, das zum größten Teil von der Japanerin Eriko Minami beherrscht wurde, die eine Meisterin des Marimbaspieles ist. Sie zeigte dies dadurch, dass sie zwischen den einzelnen Sätzen ihre Position zu unterschiedlichen Marimbas und Glockenspielen ändern musste und eine Partitur wiedergab, die für sie aufgrund der weit auseinanderliegenden Melodiebögen nur tanzend zu bewerkstelligen war. Das Symbol der Zeit, eingeleitet durch ein feines Tik-Tak-Tik-Tak im Schlagwerk, zog sich wie ein roter Faden durch das Werk, dessen Steigerung im dritten Satz sich zu einem Höllentempo für das Soloinstrument entwickelte. Bravouröse Unterstützung dabei erfuhr Minami durch das Ensemble, das in keinem einzigen Konzert dieses Abends auch nur eine leichte Schwäche zeigte. Im letzten, ruhigen Satz perlte zu Beginn das Klavier gemeinsam mit dem hohen Glockenspiel um von einem gemeinsamen Auf- und Abschwellen der Bläser abgelöst zu werden. Das langsame, leise hallende Finale wurde überraschend, aber sinnvoll, vom zarten Rauschen einer Sambakugel beendet. Eine fulminante Darstellung, basierend auf einer fulminanten Komposition – schöner kann sich zeitgenössiche Musik wahrlich nicht mehr präsentieren.

Yan Maresz (geb. 1966) „Mosaiques“ von 1992/94 schloss schließlich den Bogen zu den beiden erstgehörten Werken dieses Abends. Auch er versteht zeitgenössische Musik unter Einsatz des gesamten Orchesters unter Referenznahme zu historischen Vorbildern und schließt sein vielschichtiges Werk in welchem Teile des Ensembles wie zum Beispiel die Streicher oder auch die Bläser mit gemeinsam intonierten Partien aufhorchen ließen . Sein augenzwinkernder Schluss, nach einer kurzen Pause eines einzelnen, langen Tones quasi noch einmal mit einem kleinen Stolperer versehen, brachte das Publikum zum Lachen – eine leider viel zu selten zu beobachtende Gefühlsregung in einem Konzertsaal. Herausragend präsentierte sich Francois-Xavier Roth, der die Leitung an diesem Abend über hatte. Sein körperlicher Einsatz tänzerischer Natur zeigte, wie stark er in die einzelnen Partituren eintauchte. Er hielt auch in den rhythmisch schwierigsten Passagen alle Fäden in seiner Hand und wusste auch die Solistinnen so zu unterstützen, dass diese mit ihrer Virtuosität brillieren konnten.

In einer Viertelstunde von Lagrein nach Asien

In einer Viertelstunde von Lagrein nach Asien

Das Ensemle Recherche beim Festival Musica in Straßburg

Ensemble Recherche (c) Martin Geier

Ensemble Recherche (c) Martin Geier

Bereits zum wiederholten Male war das deutsche Ensemble Recherche, das bekannt für seine zeitgenössischen Interpretationen ist, beim Festival Musica in Strasbourg eingeladen. Es gab dort eine Kostprobe seines virtuosen und musikalisch exzellenten Könnens, gleich mit fünf verschiedenen Kompositionen von ebenso vielen unterschiedlichen Komponisten. George Benjamin, Johannes Maria Staud, Hector Parra, Franco Donatoni und Hugues Dufourt waren mit Werken vertreten, die als große Klammer das beschreibende Element in ihren Kompositionen vereint. Unter den Stücken waren auch zwei französische Uraufführungen – „Lagrein“ vom österreichischen Komponisten Johannes Maria Staud sowie „L`Asie d´après Tiepolo“ vom französischen Komponisten Hugues Dufourt. Staud versuchte das Kunststück, den Geschmack eines südtiroler Rotweines, der über eine bestimmte literarische Formel definiert wird, in Musik umzusetzen: „Mitteltiefe, intensive, kirschrote Farbe mit intensivem Schimmer. Reiches, fruchtiges (Zwetschge) würziges Aroma mit Geruchsnoten von Leder, Teer und Kakao, aber auch floralen Nuancen (Veilchen). Voller, ziemlich milder Geschmack mit „erdigem“ Nachhall und spürbarem Gerbstoff“. Der Herausforderung, Geschmack in Musik umzusetzen, stellte sich Staud, indem er eine Ensemblebesetzung wählte, die bereits bei Olivier Messiaens „Quartett auf das Ende der Zeit“ Anwendung fand. Klarinette, Klavier, Geige und Cello bieten ihm hierfür jene Ausdrucksmöglichkeiten, die sowohl zarte Geschmackstöne als auch tiefe, erdige, ja berauschende Wahrnehmungen wiederzugeben imstande sind. Staud verknüpft in seiner Komposition aber nicht nur sensorische Sensationen sondern gelangt in seinem Stück in eine Dramaturgie, die sich zu einer rauschhaften Steigerung hin entwickelt, so als ob zu viel des guten Tropfens konsumiert worden wäre. Das eher schroffe Ende, spiegelt keinen süßlichen Nachhall, was einem „Lagreiner“ – wie die Weine aus diesen Lagen allgemein genannt werden – tatsächlich entspricht. Am interessantesten bei dieser Komposition ist die Spannung, die sich dadurch ergibt, dass das Publikum einem musikalischen Prozess folgt, welcher sich zeitlich gänzlich anders gestaltet als die Zeit während des Verkostens von Wein empfunden wird. Zwar explodiert innerhalb kurzer Zeit eine ganze Vielzahl von Aromen auf den Papillen und entwickeln sich wiederum andere subtiler im sogenannten „Abgang“ wie es in der Fachsprache der Vinophilen heißt, dennoch lässt sich diese zeitliche Abfolge nicht mit jener der Komposition ein Einklang bringen. Dies wird auch beim Hören mehr als deutlich, was dazu führt, auch anderen Assoziationen während der Aufführung freien Lauf zu lassen. Johannes Maria Stauds musikalische Umsetzung einer literarischen Abstraktion, die eine geschmackliche und olfaktorische Sinneswahrnehmung beschreibt, dürfte bis jetzt als einzigartig in der Musik gelten – man kann gespannt sein, ob das Experiment Nachfolger findet. Die zweite Uraufführung stammt von Hugues Dufourt, der in seinem Werk „Asien – nach Giovanni Battista Tiepolo“ eine Beschreibung des bekannten Freskos in der Würzburger Residenz vornahm. In ihm erklang zu Beginn ein schnarrendes Thema von den  Streichern und Bläsern gewaltvoll intoniert, welches vom Klavier mit Akkordanschlägen und langem Hall begleitet wurde. Auch im anschließenden Satz herrschten das Dunkel und die Bedrohung vor, ausgelöst durch starke Vibrati, die parallel in allen Instrumenten gespielt wurden. Erst eine eingeschobene Kadenz für Glocken  und Schlagwerk durchbrach die düstere und dichte Atmosphäre, die sich zu Ende des Stückes, auch von den übrigen Instrumenten wieder aufgenommen,  in eine beinahe schon meditative Sequenz auflöste. Dufourt gelang mit dem Werk eine musikalische Beschreibung des barocken Gemäldes, welche sich auch als zeitgenössische Beschreibung dieses Kontinents lesen lassen könnte. Er vereint in dieser Komposition schwere, körperliche Last mit leichter, meditativer Gedanklichkeit und erntete dafür beim Straßburger Publikum zu Recht langanhaltenden Applaus. Das Ensemble Recherche erwies sich als genialer Klangkörper, der zeigte, dass gerade Musik keine Grenzen kennt.

Weitere Konzerte des Festival Musica sind noch bis 3. Oktober zu hören:

Nähere Infos unter: https://www.festival-musica.org

link Ensemble Recherche: https://www.ensemble-recherche.de/frame.php?version=high

Extremes vom Ensemble „In extremis“

Extremes vom Ensemble „In extremis“

Das bemerkenswerte Ensemble „In Extremis“ ließ im Rahmen des Festivals Musica in Strasbourg das Publikum im wahrsten Sinne des Wortes aufhorchen. Die aus ehemaligen Absolventen des Straßburger Konservatoriums zusammengesetzte Gruppe, unter der Leitung von Guillaume Bourgogne, präsentierte vier Stücke von unterschiedlichen Komponisten, die eine weite Bandbreite zeitgenössischer Musik widerspiegelten.

Ensemble in Extremis (c): ensemble in extremis

Ensemble in Extremis (c): ensemble in extremis

Der Beginn, George Crumbs „Vox Balenae“ – zu Deutsch die Stimme des Wales, war ein gelungener Einstieg in das Programm. Crumb, der in diesem Jahr seinen 80. Geburtstag feiert, lehnt sich in seinen Kompositionen ganz nahe an die Natur und notiert gerne Klänge, die dem Publikum vertraut sind. Er lässt den Flötisten gleich zu Beginn seine Melodie nicht nur spielen, sondern auch in die Flöte mitbrummen, und baut rasch kurze Klangeindrücke auf, die arabische Wurzeln haben könnten. Das Stück – in neun Intervalle unterteilt – ist kurzweilig, werden doch nicht nur die beteiligten Instrumente verfremdet eingesetzt, sondern wechseln sich auch ruhige, fast meditative Passagen mit Tanzsätzen ab. Gegen Ende des Stückes belustigen der Flötist und der Cellist mit einer kleinen, auf 6 Tönen gepfiffenen Melodie, die der letzte, tonale Satz schließlich aufnimmt und sphärisch in einem kleinen Glockenspiel ausklingen lässt. Ein wunderschönes Musikstück, das die beteiligten Interpreten meisterlich zur Aufführung brachten. Sie spielten mit einer sehr feinen, gegenseitigen Abstimmung und horchten den Tönen empfindsam nach und nahmen dennoch ihre Einsätze mit Präzision wahr. Die zweite Komposition stammte von dem Franzosen Philippe Hurel und machte deutlich, dass seine Art Musikverständnis sich grundsätzlich von Crumb unterscheidet. Das Stück beginnt mit einem polyphonen Einsatz aller Instrumente, welcher zugleich von einer strengen Rhythmik geprägt ist, der alle Stimmen parallel unterliegen. Im Laufe der Vorführung löst sich diese strenge Rhythmik, sowie auch die Polyphonie auf, zerfällt in einzelne, kleine Partien, nimmt andere Mikromotive auf um sich schließlich gegen Ende hin wieder polyphon und rhythmisch zu vereinigen. Ein Werk, welches dem Publikum ermöglicht, der Kompositionsstruktur zu folgen, die – obgleich im Mittelstück stark auseinanderfließend – dennoch als sehr rigide empfunden wird. Wiederum – wie bei den beiden folgenden Stücken auch – überzeugte das Ensemble völlig. Die Wiedergabe von Gerard Pessons „Mes beatitudes“ stellte die größte Hörherausforderung an das Publikum, wird das Stück doch zu großen Teilen in den höchsten Lagen der Instrumente gespielt oder gezupft oder auch nur angedeutet, was den Klang auf ein Wispern und leises Zischen reduziert. Ab und zu blitzen vereinzelte ausgestrichene Töne durch, die Rhythmik des Stückes ist jedoch immer präzise mit zu verfolgen. Einzig der Klavierpart stellt ein zeitweise hörbares Gerüst für die Streicher dar. So erscheint ein mehr gehauchter als gespielter Tanz schon wie ein lebensbejahender, wenngleich auch ferner Hoffnungsschimmer, in diesem Stück, dessen Subtilität durch die leisen Intonationen nicht mehr zu überbieten ist. Zum Abschluss erklang Christoph Bertrands „Satka“ aus dem Jahre 2008, bei welchem sich der Straßburger Komponist auf die Zahl 6 der beteiligten Musiker in der Sanskritsprache bezieht. Es war eine reine Freude, das rasante Stück zu hören und die Musiker dabei auch zu sehen. Über 12 Minuten dauert es insgesamt, in welchen es nur durch 4 kurze Unterbrechungen aus dem Höllentempo gerissen wird. Es gurgelt, perlt, fällt in Kaskaden über mehrere Oktaven ab um bald danach wieder atemlos aufzusteigen und wird getragen von einer virtuosen Spielfreudigkeit, die vor allem an diesem Abend Lee Ferguson zuzuschreiben war. Wie ein Derwisch bewegte er sich zwischen seinen einzelnen Percussioninstrumenten – Marimba, Xylophon und einem kleinen Glockenwerk und spann so den roten Hörfaden durch die gesamte Partitur, ohne ihn je zu zerreißen. So einfach das Werk klingt – und daher wird es sich auch in den Konzertsälen sicherlich rasch etablieren – so komplex ist es dennoch aufgebaut und so schwierig ist es zu spielen. Bertrand gelang mit dem Stück ein Meisterwerk, das sich in die Ohren schmiegt und noch lange dort hängen bleibt. Es macht neugierig auf Kommendes und verlangt unbedingt, den weiteren Werdegang des Künstlers zu verfolgen. Ein extremer Abend, dessen Erfolg sich sowohl Komponisten als auch alle beteiligten Interpreten zu Recht teilen können.

Weitere Infos zu den Musikern finden Sie unter: https://ensembleinextremis.free.fr/index2.htm

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