Ich bin ich, aber wer bin ich eigentlich?

„Flucht“ von Sara von Schwarze – eine Mischung aus Krimi und Familiendrama im Theater Nestroyhof Hamakom.

„Wir können jederzeit einer unbemerkten Täuschung über das eigene Bewusstsein erliegen.“ Dieser Satz stammt von Thomas Metzinger, seines Zeichens Neurophilosoph. Mit seinen Untersuchungen verbindet er das traditionelle philosophische Nachdenken über den Menschen mit Erkenntnissen der Neurowissenschaften. Aber es gibt auch im Kulturbereich vermehrt Ansätze, die Phänomene der unterschiedlichen Ichs zu hinterfragen.

Sara von Schwarze tut dies in ihrem Theaterstück „Flucht“, das derzeit im Theater Nestroyhof Hamakom gespielt wird. Darin flieht eine junge Fotografin aus Israel zu ihrem Vater nach Deutschland, da sie der Meinung ist, dass sie in den besetzten Gebieten jemanden erschossen hat. Und wie sich das für eine ordentliche Flucht gehört, meldet sie sich bei ihrem Vater nicht zuvor an, sondern steigt über dessen Gartenfenster in sein Haus ein. Der Text ist zweisprachig, kurze Passagen in Hebräisch, der größte Teil jedoch in Deutsch. Wer des Hebräischen nicht mächtig ist, braucht dennoch keine Berührungsängste zu haben, denn sowohl Ingrid Lang in der Rolle der Ruth als auch Peter Cieslinski, der ihren Vater verkörpert, spielen derart ausdrucksstark, dass die jeweilige Botschaft auch ohne Sprachverständnis beim Publikum ankommt.

Das Stück ist kunstvoll aufgebaut und gibt erst in den letzten Minuten einen Teil seiner Geheimnisse preis. Dazu gehören auch die seltsamen Verlangsamungen von gewissen Szenen oder die veränderten Sprechweisen aller Beteiligten. So schlüpft Barbara Gassner, welche die Geliebte von Ruths Vater spielt, dabei mehrfach in die Rolle einer dummen und naiven Frau – trotz ihres Berufes als Rechtsanwältin mit dem Schwerpunkt auf Menschenrechte – und mutiert gegen Ende sogar zu einer altersgebeugten, am Stock gehenden Grantlerin. Was anfangs als surreales Gebilde erscheint, kann schließlich als Traum interpretiert werden, in dem die jungen Fotografin Ruth steckt. Darin bleibt, was die Identitäten aller Beteiligten betrifft, kein Stein auf dem anderen.

Denn es stellt sich heraus, dass ihr Vater, der sich Abraham nennt, eigentlich Ernst heißt und mit seiner ersten Frau zum Judentum konvertierte. Von Schwarze verarbeitet damit auch Autobiografisches. Ihre Eltern kamen in den 60er Jahren als Konvertierte nach Israel, wo sie aufwuchs und heute eine der meist bekannten Schauspielerinnen ist. In „Flucht“ muss sich Abraham alias Ernst seiner Tochter stellen. Unbarmherzig, im Moment der größten physischen Bedrohung, räumt sie mit der Familienvergangenheit auf. Und eröffnet ihm auch noch zusätzlich, dass seine Geliebte eigentlich lesbisch ist. Die nach außen getragenen Identitäten bekommen dabei tiefe Risse und lassen weitere Ichs erkennen, die teils geleugnet, teils verschüttet sind. Aber von Schwarze stellt auch Fragen nach der jüdischen Identität. Ist man jüdisch nur qua der Vererbung durch Geburt oder ist man jüdisch, wenn man sich so fühlt?

Michael Gruner inszenierte das Stück als ruhiges Kammerspiel, dem man sich mit Haut und Haar ausliefern muss. Sonst läuft man Gefahr, von seinen permanent auftretenden Fragen im Kopf überrollt zu werden. Man sollte die tollen schauspielerischen Leistungen aller genießen, sich auf den ruhigen Fluss des Geschehens einlassen und versuchen, bei den sich permanent wechselnden Identitäten ruhig Blut zu bewahren und nicht krampfhaft alles und jedes zu hinterfragen. Die Mischung aus Krimi und Familiendrama oszilliert ständig zwischen diesen Gattungen und kulminiert schließlich in einer unerwarteten Wendung am Ende.

Im Nestroyhof Hamakom herrscht eine besondere, fast möchte man sagen familiäre Atmosphäre, was die Besetzungslisten betrifft. Die Zusammenarbeit mit Michael Gruner hat schon eine gewisse Tradition. Ist es doch bereits seine vierte Inszenierung an diesem Haus. Aber auch der Regisseur selbst greift gerne auf Schauspielerinnen und Schauspieler zurück, mit denen er in vorangegangenen Produktionen gearbeitet hat. Das ist zwar nicht unüblich, aber wie in diesem Fall doch ein wenig außergewöhnlich, denn die erste gemeinsame Arbeit von Michael Gruner und Peter Cieslinski fand bereits 1976 statt. Umstände, die sich dem immer schneller werdenden Theaterbereich entgegenstemmen und von menschlicher Seite aus als richtig wohltuend empfunden werden.

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