Ganz schön perfide eingefädelt!

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René Pollesch, Ein Chor irrt sich gewaltig (c) Thomas Aurin

„Ein Chor irrt sich gewaltig“ im Le-Maillon in Straßburg

Das Publikum sucht sich seine Plätze und glaubt, es befände sich dabei in einem abgespielten Vorstadttheater. Eine aus hellem Holz bestehende Bühnenwand mit einem Blümchenvorhang wie aus Urgroßmutters Zeiten erweckt diesen Eindruck. Die glitzernden Strasssteine darauf sollen wohl so etwas wie Glamour verbreiten. Als musikalische Auflockerung hört man ein französisches Chanson in der Endlosschleife. Glamour kommt an diesem Abend nicht auf, auch wenn er gespickt ist mit französischen Chansons. Ohrwürmern, die beiderseits vom Rhein jedes halbwegs erwachsen gewordene Kind kennt. Was dagegen im Handumdrehen aufkommt, kaum befinden sich die ersten Schauspielerinnen und Schauspieler wenige Minuten auf der Bühne, ist großer Spaß. Spaß am Spiel. Freude am Zusehen. Daran, wie Sophie Rois alias Sally, alias Sallys Mann, sich darüber echauffieren muss, dass all ihre Möbel verschwunden sind. Alle, auch die so wunderschöne Chaiselongue. Scheeeeeeeeeeezzzzzzzzzzzzlooooooooooooooooooonnnnnnnnnnnnnnnnnng. Das hat sie jetzt davon. Nicht nur, dass sich das Theaterpublikum köstlich über diesen, ihren ach so herben Verlust amüsiert, bei dem Rois sich nicht sicher ist, ob sie eher ihre nicht mehr vorhandenen Kinder bedauern soll oder den Verlust ihrer Louis XIV- Kommode, nein, sie hat auch noch mit Madame Esperanza zu kämpfen, die ihr während der gesamten Vorstellung lästigen Nachhilfeunterricht in der korrekten Aussprache der französischen Sprache gibt. Scheeeeeeeeeeezzzzzzzzzzzzlooooooooooooooooooonnnnnnnnnnnnnnnnnng. Jeder, der einmal Französisch von der Pike auf lernen musste, erinnert sich dabei sofort an jene unsäglichen phonetischen Korrekturen, die immer wieder gemacht werden mussten und die man sehr oft nicht verstand, denn in den meisten Fällen waren die Feinheiten der Aussprache schlichtweg für Durchschnittsohren nicht zu erkennen. Da steht sie nun, die arme Rois, im züchtigen langen, schwarzen historischen Kostüm mit weißem Kragen und weißen Ärmelrüschchen und gibt vor, in einem Boulevardstück der leichteren Sorte mitzuspielen. Und zu einem Teil tut sie das auch. Wenngleich quasi inkognito, denn ihre weibliche Erscheinung korrespondiert so gar nicht mit der Rolle, die sie eigentlich verkörpern soll. Nämlich jener des verlassenen Ehemannes, der nicht nur bar seiner Liebe, sondern auch seiner Möblage und seiner Kinder dasteht.
René Polleschs Spiel mit verkehrten Identitäten zieht sich durch das gesamte Stück durch. Doch nicht nur die ununterbrochene Herausforderung, die Mimen ihren jeweils gerade gesprochenen Charakteren zuzuordnen, hält das Publikum auf Trab. Der Text an sich, der wie ein Gummiseil im Dreieck zwischen Dada, Boulevardtheatersprache und pseudointellektueller Diskussion gespannt ist, trägt ein Weiteres dazu bei, dass man bald jegliche Anstrengung aufgibt, den roten Faden zu verfolgen.
„Ein Chor irrt sich gewaltig“ wurde von der Volksbühne Berlin als Gastspiel im Le-Maillon in Straßburg gezeigt. Es ist der Versuch, Theater auf den Kopf zu stellen, die Zuschauer bei dieser Kopfgymnastik mitzunehmen, und wem dabei nicht schwindlig wird, noch eine gehörige Portion vermeintlicher Kapitalismus- und sonstiger Kritik mit auf den Nachhauseweg zu geben. Wohlgemerkt: vermeintlicher. Denn die Sätze, die der Autor-Regisseur diesbezüglich seinen Schauspielerinnen und Schauspielern auf den Mund schreibt, sind über weite Strecken nichts anderes als eine Überschriftensammlung und ein Kurzreferat nach dem anderen über Kapital: „Der leichtfertige Umgang mit Kapitalismuskritik muss aufhören!“ „Ich bin Sozialist, mir tut niemand leid!“, Sex und dem Zwang, über Sex reden zu müssen: „Sexualität ist ein heiliger Gral.“ „Ein Aal? Was für ein Aal?“ oder Kunst: „Diese Kunst ist Scheiße!“ , ein Einsprengsel über ein Werk – von Piero Manzoni. Wer einen hohen Allgemeinbildungsgrad aufweist, hat´s gut bei Pollesch. Die ständige Konsumation von Schlagzeilen reicht aber im Grunde auch schon. Denn tief in die jeweils angerissene Problematik wird nicht gegangen. Und das passt an diesem Theaterabend auch. Denn worum es in diesem Stück geht – oder doch nur an dessen Oberfläche ? – ist tatsächlich das Spiel um Illusion und dem Betrug an der Illusion. Betrug aber – und hier geht die Kopfgymnastik weiter – nicht nur in der ersten Assoziation, nämlich Betrug an der Liebe eines Menschen, vorgeführt anhand eines fragmentarischen Boulevardstückes aus dem 19. Jahrhundert. Nein, Pollesch spielt vor allem wunderbar mit jenem Betrug, dem sich alle aussetzen, wann immer sie in ein Theater gehen. Und jenem Betrug, dem man aufsitzt, liest man Schlagzeilen und glaubt man an die Macht von Worten in Zusammenhang mit Kapitalismuskritik. „Der Kapitalismus lässt nicht diskutieren! Die Sprache im Kapitalismus ist stumm!“ Zumindest – und das muss man René Pollesch hoch anrechnen, erklärt er, warum heute keine Kritik mehr hilft.
Der im Titel zitierte Chor, bestehend aus 9 jungen Frauen, mimt mit einem gemeinsam gesprochenen Text Rois` verschiedene Möchtegern-Liebhaber. Ob Lucien oder Paul – egal, eigentlich sind doch alle austauschbar. Der eine mit dem anderen, die eine mit der anderen. Und wie es Männer so an sich haben, bedrängen sie die vermeintlich Abweisende – „Alle wollen immer mit mir schlafen!“ – und feiern mit ihr ein fröhliches Stelldichein, indem sie sie umzingeln und während des Playbacks einer Opernarie im Handumdrehen verführen. Aus Boulevard wird plötzlich eine Oper, für welche sich erstmals der Blümchenvorhang öffnet und den Blick freigibt auf eine Türe im und ins Nichts und drei unmotiviert im Raum stehende Pappkartonschachteln. Ein verlassener Ort, dieses historische Opern-Theater. Mein Gott – denkt man sich da – eigentlich wäre es besser gewesen, den Vorhang geschlossen zu halten. Die Illusion, was sich dahinter wohl verstecken mag, übertraf die Realität bei Weitem! Nun gut, das ist nun mal nicht mehr zu ändern. Aber zumindest ist eins klar: eine schöne Kulisse ist an diesem Abend nicht mehr zu erwarten. Stattdessen gibt sich der Chor und Rois alle Mühe, das zu überspielen und das Publikum bei Laune zu halten. Und wie das gelingt! Die Play-back-Einspielung der Arie und die theatralischen Gesten aller dazu tun ihre Wirkung. Demontiertes Theater at it´s best.
Da überfällt einem in Sekundenschnelle die Erkenntnis: Was Pollesch hier vorexerziert ist die Macht der Bühne, die Macht der Kulisse, die Macht des Spiels im Spiel. Was braucht das Theater, was ist unnötiger Ballast und wozu braucht es überhaupt Theater?! Wie betrügt das Theater und warum wollen wir vom Theater betrogen werden? Fragen, die nicht ausgesprochen, aber dennoch gestellt werden. Fragen, die sich das Publikum selbst zu stellen beginnt, nach und nach. Ganz schön perfide eingefädelt! Und deshalb so wirkungsvoll. Wie auch seine vermeintlich plakative Kritik an dem, was der Zeitgeist an Kritik gerade so einmal hergibt. Wem die ganze Plakativität aber keine Ruhe lässt beginnt dann zuhause nachzulesen, nachzuschlagen und den philosophischen Ursprung der einen oder anderen Aussage nachzurecherchieren. Die Journaille bemühte hierzu in ihren Kritiken über das Stück Dietmar Dath, Boris Groys und Giorgio Agamben, die häppchenweise locker, flockig über den Bühnengraben transportiert werden, angeblich. Ganz schön perfide eingefädelt.
Dagegen ist das Herumgetrample auf einigen frischen Croissants und die mutwillige Zerstörung eines Baguettes tatsächlich leichte Kost. „Alle Franzosen werden gezwungen, Baguettes zu essen!“ Ob diese leichte Kost einigen Franzosen in Straßburg nicht doch auf den Magen schlug? Stereotype, aufs Korn genommen, verfehlen meist nie ihre Wirkung. Stereotype, von Nachbarn aufs Korn genommen, können beim Nachbarn selbst aber ganz schön ins Auge gehen. „Mit Essen spielt man nicht!“, tönt es noch aus der Ferne unsäglicher Kindererziehungsanweisungen. Aber da lacht Pollesch sicher laut, denn was sind schon ein paar zertrampelte Baguettes gegen den Satz: „Auf die Mindestlohnidee reagiert das Kapital empfindlicher als auf das bedingungslose Grundeinkommen.“ Und dabei zeigt sich das ganze Dilemma: Nicht von Pollesch, sondern das, unserer Gesellschaft, das Pollesch auf den Punkt gebracht, sich im Theaterkreise drehen lässt. These, Antithese und Synthese – gab´s das einmal? Ganz schön perfide eingefädelt!
Ein Paradestück für Sophie Rois, wunderbare Klamaukrollen für Jean Chaize und Brigitte Cuvelier, die in Straßburg vom Publikum dankbar aufgenommen wurden. Als Rausschmeißer zum Schluss noch Gilbert Becaud´s „Natalie“, umfunktioniert zur Cancan-Untermalung des Ärmchen wedelnden Chors und der voll Energie beinahe explodierenden Sophie Rois – vor ungezählten Vorhängen! Wie viele waren es??? Besser kann man uns gesellschaftssaturierten, reaktionärserhabenen Theatergängerinnen und -gängern keinen Spiegel vorhalten. Und wer meint, Fröhlichkeit sei heute fehl am Platze: Auf der Titanic wurde auch flott getanzt, als das Unheil unabwendbar lauerte. Weiter so, Pollesch! Straßburg will mehr!

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