Großes, wirklich großes Theater

In dieser Saison hat die Leitung des Schauspielhauses in Wien ein goldenes Händchen für Gastspiele gezeigt. Die Aufführung des Handke Stückes „Immer noch Sturm“ vom Theater an der Ruhr (Mühlheim) die poetischer und eindrucksvoller, glänzend gespielter und nachhaltiger nicht sein hätte können und einen wunderbaren Theaterabend bescherte, wurde nun jedoch noch einmal getoppt. „Ein schöner Hase ist meistens der Einzellne“ lautet das Stück des derzeitigen Hausautors Philipp Weiss. Uraufgeführt wurde es bereits im Dezember in Bregenz vom Projekttheater Vorarlberg und kam jetzt erstmals als Gastspiel in Wien auf die Bühne. Noch bevor über das Stück und seine Inszenierung zu berichten ist, soll vorangestellt werden: Was da gezeigt wurde, war schlichtweg großes, wirklich großes Theater.

Dieses Lob beginnt beim Text, in welchem Weiss die Lebenslinien von Ernst Herbeck und August Walla nachzeichnete. In einem unsentimentalen Ton, meist durch die Stimmen anderer als der beiden Gugging-Bewohner beleuchtet, aber dennoch so treffend und betroffen machend, dass man sich keine bessere Ausgangsbasis für ein Theaterstück wünschen kann. Dabei gelingt Weiss nicht nur die stenographische Nacherzählung zweier Einzelschicksale. Vielmehr richtet er ein Schlaglicht auf die Psychiatrie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der Elektroschocks, Zwangsjacken und körperliche Züchtigungen der grausamsten Art gang und gäbe waren. Langsam zieht er die Schlinge der allgemeinen Zustandsbeschreibung immer enger, bis sie schließlich niemanden anderen außer Herbeck und Walla mehr umfängt. Einer glücklichen Fügung ausgeliefert, wurden sie schließlich neben anderen Patienten in der Landesnervenheilanstalt Gugging von Primar Leo Navratil in ihren künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten gefördert. Navratil knüpfte dabei an die Erfahrungen seiner Kollegen Walter Morgenthaler aus der Schweiz und Hans Prinzhorn aus Deutschland an, die bereits in den 20er Jahren die sogenannte „zustandsgebundene Kunst“ als Ausdrucksmittel ihrer Patienten entdeckten. Die Grundstimmung, die bis zum Eintritt Navratils (Florentin Groll als Gentlemen-Primar in Anzug und Krawatte) in die Szenerie herrscht, kann am besten als bedrückend wiedergegeben werden. Zwei Pfleger und eine Pflegerin, aber auch der Vater Herbecks (Horst Eder stimmungsvoll als Äpfelsammler in der Landschaft agierend) oder die Mutter Wallas (Sylvia Bra) kommen dabei zu Wort und zeigen auf, welch unglaubliche Repressalien die beiden Männer erleiden mussten. Man versteht bestens, dass der Aufenthalt in der Nervenheilanstalt vor deren Reformierung die psychischen Befindlichkeiten der Patienten nicht bessern, sondern ganz im Gegenteil verschlechtern mussten. Die naturalistische, filmische Aufarbeitung dieser Zeit – mit einem Kunstgriff auf die Bühne projiziert – ist harter Tobak und mutet dem Publikum zu, dort hinzuhören und hinzuschauen, wo für gewöhnlich weggehört und weggeschaut wird. Die unglaubliche Wirkung, welche die Berichte der Pflegerin von August Walla und der beiden Pfleger von Ernst Herbeck auf das Publikum ausübt, wird durch keine zusätzlichen Aktionen auf der Bühne gestört. Maria Hofstätter als Pflegerin des kleinen Walla changiert in ihrer Erinnerung zwischen empathischer Krankenschwester und pflichterfüllter Nazigehilfin. Sebastian Pass und Rafael Schuchter spielen Tennis oder rauchen sinnierend vor Angst einflößenden Backsteingebäuden, während ihre Schreckensgeschichten hörbar werden. Die Tatsache zum Beispiel, dass Herbeck mit Elektroschocks so lange gequält wurde, bis ihm gar nichts anderes mehr übrig blieb als zu verstummen, die Schilderungen von Wallas Betreuerin, dass man dem Buben zur Bestrafung seiner Ausbrüche „ein Speiberl“ verabreichte – eine Tablette, nach welcher er erbrechen musste – sie gehen so tief unter die Haut, dass einem der Atem stockt.

Ein kongenialer Widerpart von Weiss in dieser Produktion ist die Regisseurin und Ausstatterin Susanne Lietzow, die brillantest auf der Klaviatur der multimedialen Bühnenattraktionen spielt. Mit Leichtigkeit erzeugt sie Bühneneffekte, die Zeit und Raum verschränken und gekonnt zwischen Information und Traumgebilden pendeln. Hinter den beiden Hauptdarstellern, die in den ersten Szenen stumm, aber dennoch gewaltig präsent auf der Bühne minimalistische Aktionen setzen, spannen sich zwei durchsichtige Leinwände, auf die Filmeinspielungen projiziert werden. Von den ersten Pflegerberichten, die noch in die Zeit der NS-Diktatur fallen, bis hin zum von Navratil betreuten, neuartigen psychiatrischen Vollzug spannt sich dieser filmisch begleitete Bogen in ultraharten, himmlisch schönen, skurrilen aber durchgehend einprägsamen Bildern. Elektrisierend, wie Navratil, einem Übervater gleich, hinter Herbeck, seinem Schutzbefohlenen, steht, die Lippen unbewegt, die Stimme vom Band eingespielt. Bestechend, wie der im Ersten Weltkrieg schwer Traumatisierte erst nach dem jeweiligen optischen Verschwinden des Primars zu dichten beginnt und Walla, ganz seinem Naturell entsprechend, seinen Arzt inbrünstig als Dieb beschimpft. Ätherisch schön, wie Wallas Mutter sich im Film gotterleuchtet in einer goldenen Aura bewegt, mit einem überdimensionierten Löffel in der Hand, mit dem sie ihrem Sohn jene Herberge in der Schrebergartensiedlung schuf, die ihm zur Keimzelle seiner künstlerischen Arbeiten wurde. Sylvia Bra elektrisiert in dieser Rolle durch die verschrobene, offen zur Schau getragene, gering ausgeprägte Intelligenz von Wallas Mutter, die sich in einer perfekten Jungmädchenkostümierung widerspiegelt.

Die dritte Erfolgssäule des Abends bilden Dietmar Nigsch als August Walla und Peter Badstübner als Ernst Herbeck. Der eine ein gutmütiger, voluminöser Riese in viel zu kurzen Hosen mit breiten Hosenträgern, einer roten Skimütze auf dem Kopf, einer roten Damenhandtasche in der Hand und in Besitz einer kleinen Trompete, die ihm gute Dienste leistet. Der andere verschroben staksig in seinem viel zu großen Anzug steckend, den rechten Arm wie gelähmt an den Körper geschmiegt und durch eine Brille die Welt außer sich doch nicht erblickend. Wer den Vergleich mit Bildern von Walla und Herbeck heranzieht, kann ermessen, wie kongenial diese Besetzung gelungen ist. Nigsch gelingt das Kunststück, seine massige Erscheinung so kindlich naiv in Szene zu setzen, dass ihm die Herzen automatisch zufliegen müssen. Badstübner hingegen besticht durch seine spastischen Körperbewegungen und seinen introvertierten Blick, der sich nur dann zu Grimassen verzieht, wenn er die Reaktionen der Außenwelt nicht mehr unter Kontrolle hat.

Begleitet wird das Drama zu Beginn von berauschend schöner symphonischer Musik, die ihre wahre emotionale Kraft aber erst durch Kompositionen von Arvo Pärt entfaltet. Diese scheinbar so einfach aufgebaute Musik berührt und unterstreicht das Wesen von Herbeck und Walla auf ganz subtile Art und Weise. Den Höhepunkt des Abends – die seelische und künstlerische Entfaltung der beiden Patienten unterstreicht die Regisseurin durch die Projektion von Walla-Bildern, aber zugleich auch durch das Ende ihrer Stummheit. Die Kunstsprache, die Walla zelebrierte – um diese Sprache beneiden ihn Schriftsteller sonder Zahl, ganz abgesehen von den Bewunderern seiner Bilder. Nigsch poltert und holpert Wallas Sprachergüsse, dass man nicht genug davon bekommen kann. Die Lyrik, der sich Herbeck bedient und die in mehreren Büchern nachzulesen ist, geriert sich so zart und ausdrucksstark zugleich, so verblüffend einfach und tiefgründig, dass es manches Mal schwerfällt, eine psychische Erkrankung als Auslöser dieser Kreativität anzuerkennen.

Philipp Weiss hält jedoch nicht inne und schraubt seine Geschichte weiter. Er lässt nicht nach, nicht in jenem beinahe selig zu nennenden Zustand des kreativen Höhepunktes, der zugleich auch eine Öffnung zur Kunstwelt hin bedeutete. Er verleiht auch noch jenen eine Stimme, die den „Verrückten“ ihre Sonderbegabungen absprechen wollten – bis hin zum mantraartig immer wieder und wieder hervorgebrachten Argument, dass auch ein kleines Kind imstande wäre, Bilder wie jene von Walla zu malen. Die Zurschaustellung dieser beiden Männer, ihr Einbringen in den Kunst- und Literaturbetrieb, durch das sie schließlich zu immenser Öffentlichkeit gelangten, kulminiert bei Weiss mit einer absurden Szene in einer Theaterloge. Dort beginnen sie, mit Hasenmasken auf dem Kopf verfremdet, in einer ihnen vollkommen fremden Umgebung die Menschen, die ihnen akklamieren, zu fürchten. „Es werden die Künstler wie Semmeln gebacken. Preis: 6 Groschen“, stellt Herbeck dabei noch unglaublich scharfsinnig fest. Dass Herbeck und Walla trotz all des Trubels um sie herum dennoch in ihrer, ihnen eigenen Welt verblieben, zeigt das wunderbare, poetische Schlussbild, in welchem Walla mit einem Flügelapparat und einer mit vielen Lampen bestückten, leuchtenden Sternenkrone auftritt.

Die Produktion „Ein schöner Hase ist meistens der Einzellne“ – ein Herbeck-Zitat aus einem seiner Gedichte – stellt eine Sternstunde am zeitgenössischen österreichischenTheater dar. Aufklärend, ohne jemals die didaktische Keule zu schwingen, berührend, ohne nach Mitleid zu heischen und entrückend in jenen Szenen, in welchen man in die blühende Fantasie von August Walla eintauchen darf. Eine Nominierung zu einem renommierten Theaterpreis ist noch das Mindeste, was man erwarten darf. Sollte es preisgekrönt werden, würde dies keinesfalls überraschen.

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