Ich halte Theater für einen subversiven Raum
19. Mai 2015
Mich reizt so etwas wie eine Buffon-Technik. Buffone sind eigentlich die Hüter der Geschichte. Sie sind nur angetreten, um diese Geschichte in der Welt zu lassen. Und man kann sie nur in der Welt lassen, wenn man sie spielt.
Michaela Preiner
Astrid Griesbach (c) European Cultural News
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Astrid Griesbach inszenierte jüngst in Wien Schillers Räuber. Für Kinder ab 8, wohlgemerkt! Mit „Nathan der Weise“ bestritt sie zuvor schon eine Inszenierung im Dschungel, die durch Tempo, Witz, Tiefgang und Intelligenz auffiel. Anlässlich ihrer neuesten Arbeit trafen wir uns zu einem Interview.

Die energiegeladene Puppenspielerin, Theatermacherin und Regisseurin hat seit 2009 eine Professur an der Hochschule für Schauspiel „Ernst Busch“in Berlin im Fach Puppentheater und arbeitet oft mit jungen Nachwuchskünstlerinnen und –künstlern zusammen.

Kann man außer in Berlin noch Puppentheater studieren?

Ja, es gibt in Stuttgart eine Abteilung für Figurentheater, das oftmals noch mehr ins Visuelle geht. Dann natürlich Charleville in Frankreich aber auch in Spanien. Also überall da, wo Kaspertheater nicht gleichgesetzt wird mit Kinderkasperl sondern mit Narren. Da sind die Franzosen mit dem guignol oder grand guignol allen sehr voraus.

Wie groß ist denn der Zulauf zu diesem Studium?

Nicht wahnsinnig groß, denn die Meisten wollen Schauspiel, Schauspiel! Was aber total verrückt ist und die letzten Jahre sich abzeichnet, ist, und das ist der ganz große, neue Wechsel: Wir bekommen immer mehr Schauspieler, die sich bewerben. Die fertig sind und von guten Schulen kommen. Die merken, dass sie in dem Theater, wie es jetzt läuft, kein kreativer, sondern nur ein ausführender Teil sind. Bei uns kann man etwas gestalten, da ist so etwas wie in göttlicher Funke dabei. Und ich behaupte ganz kühn, dass es die Administration ist, welche die Schauspieler zwingt, über ihren Beruf nachzudenken.

Warum die Administration?

Im Burgtheater-Heft steht ganz vorne das Ensemble drin. Das ist bei uns in Berlin überhaupt nicht mehr so. Heute kennt niemand mehr die Namen. Das begann in der Tanzszene. Da kennt man wenn`s hoch kommt, noch die Choreografen. Aber den, der auf der Bühne ist, den kennt man nicht mehr. Heute emanzipieren sich Regisseure, aber auch hauptsächlich Intendanten. Der Schauspieler als solcher ist austauschbar geworden. Diese Austauschbarkeit spürt man auch. Warum sollen die denn brennen, wenn sie morgen verbrannt werden können? Die Situation im deutschen Theater definiert sich im Moment nur mehr aus: Preiswerter, billiger, schneller und angepasster, und wenn`s geht: Entertainment, Entertainment. Das Theater steht auf dem Höhepunkt des sich selbst Verbrennens. Das macht sich gerade selbst vom Acker. Die Institution geht vielleicht krachen, aber die Ideen sind immer noch da. Es müssten sich Ensembles bilden, die eine gewisse Spielweise haben und sich dann erst einen Intendanten suchen. Heute ist es genau umgekehrt. Der Intendant wählt aus: Die gefällt, mir die, die auch. Aber sie bleiben, wenn`s hochkommt, überhaupt nur zwei Jahre. Wenn die nicht mehr können, holt man sich die nächsten. Das ist das Menschenverachtendste, was man Leuten, die kreativ arbeiten wollen, antun kann. In Deutschland ist der Schauspieler faktisch ein Sozialhilfeempfänger.

Sie haben viele Jahre Erfahrung im Puppenspiel und im Speziellen auch mit der Situation im ehemaligen Osten und jetzt in Berlin.

Wir haben nun schon 42 Jahre diese Einrichtung in Berlin. Die Gründung erfolgte ja noch zu DDR-Zeiten und die Abteilung Puppenspiel hängt mit dem russischen Kasper, dem Petruschka zusammen. Einem sehr zarten, sehr klugen Wesen, das zum Beispiel an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert sehr gegen den Klerus vorgegangen ist. Petruschka hat sich über den Popen sehr lustig gemacht. Man hat ihn nicht von der Bühne verbannt, wie es die Deutschen gerne tun, sondern man hat ihm das scheinbar Wichtigste genommen – nämlich die Sprache. Er durfte auftreten, aber er durfte nicht reden. Er trat auf – und er pfiff! Und das Publikum wusste, was gemeint war. Das ist wirklich ein Narr, eine närrische Figur. Und diese Tradition gab es bei den Russen noch sehr lange und hat auch zur Gründung dieser vielen Puppentheater geführt. In der DDR mussten sie aber doch immer auch zugleich das Kinderpublikum mitabfassen. Als wir dann angefangen haben für Erwachsene zu spielen, war auch die Stasi schnell da. Das war dann wirklich scharf, scharf.

Es gab den berühmten „Jäger des verlorenen Verstandes“. Da hatte der Kasper anstatt einer Pritsche zum Zuhauen die Faust. Die Faust hieß Erich und sobald der Kasper etwas gesagt hat, das nicht konform war, hat er sich selbst gehauen. Das war natürlich der Brüller. Diese Sachen wurden immer im Geheimen gespielt, denn in der Figur saß ein Anarchist. Das ist seltsamerweise nach der Wende komplett verloren gegangen. Es schwappte da ganz schnell diese westdeutsche Figur des Sparkassenkaspers und des Verkehrskaspers über. Das ist das größte Verbrechen überhaupt, dass man so eine Figur Regeln erklären lässt! Wie spare ich oder wie gehe ich über die Straße! Ich denke, wenn der Kasper wirklich erklärt, wie man über die Straße geht, dann sagt er: „Liebe Kinder, ihr braucht dazu zwei Bälle. Den ersten Ball schiebt ihr runter, dann werden die Autos quietschen, aber sie halten an. Euer Ball ist zwar verloren, aber ihr habt ja noch einen zweiten. Den müsst ihr festhalten und dann rennt ihr rüber, aber ganz schnell!“

Der Kasper ist immer närrisch, er ist ein Narr. Er verrückt etwas, erklärt sich für verrückt. Das heißt ja eigentlich, ich ziehe mich aus der Mitte raus, setze mich ganz bewusst an eine andere Stelle und gucke von der Stelle aus auf die Mitte. Dann bin ich ja ver-rückt. Aber in diesem Verrücktsein ist viel Wahres und das fehlt oft im Theater.

War das auch ihr Zugang von Jugend an zum Puppentheater?

Ich bin in so einer wahnsinnigen Theaterstadt geboren – in Meiningen. Ich war ein Zwerg, als ich mit meinen Eltern in Opernaufführungen ging. Hans von Bülow, Max Reger, die großen Orchesterleute, die alle zwischen 1870 und meist 1914 Bewegendes gemacht haben, waren in Meiningen. Theater war auch schon immer das, was mich interessiert hat. Und dann hatte ich auch immer den etwas anderen Blick, ich glaube, ich hatte immer schon eine Meise! Dann kam aber das Puppentheater als große, große Entdeckung dazu und die zweite, große Entdeckung war, dass ich während meines Regiestudiums das große Glück hatte, Castorf im Genick zu sitzen. Der war für mich der Über-Kasper. Er ver-rückte Sachen vor allem in den frühen Phasen am Theater wirklich. Da fühlte ich mich völlig bestätigt. Ich denke halt so, ich sehe es halt so, liebe Welt, komm mit mir klar.

Sie machen auf mich nicht den Eindruck, als hätten sie mit der lieben Welt Probleme.

Es gibt schon Probleme mit der lieben Welt! Deswegen habe ich auch nie die ganz große Karriere gemacht. Aber ich versuche einfach Menschen zu überzeugen, dass so, wie ich ticke, das ganz einfach spannend sein kann, mit mir Theater zu machen. Und das ist besser, als wenn ich in irgendwelchen Institutionen sitzen würde. Da wäre ich vielleicht gefährlich.

Sie beschäftigen sich mit einer Mischform des Theaters in der sowohl Puppen als auch Menschen zum Einsatz kommen. Reizt Sie das ganz besonders?

Ja, das wird man hier auch noch einmal sehen. Mich reizt so etwas wie eine Buffon-Technik. Buffone sind eigentlich die Hüter der Geschichte. Sie sind nur angetreten, um diese Geschichte in der Welt zu lassen. Und man kann sie nur in der Welt lassen, wenn man sie spielt. Das Papier zerfällt, alles zerfällt und irgendwann kann man auch die digitalen Sachen nicht mehr lesen. Man muss sie spielen und wie die guten, alten Nomadengeschichten weitertragen. Jede Geschichte verändert sich durch denjenigen, der sie erzählt, aber auch durch die Zeit, aus der heraus sie erzählt wird. Mein Standort ist hier, im Jetzt, 2015. Ich weiß nicht, wie ich sie vor 100, 30 oder auch letztes Jahr erzählt hätte. Ich kann es nur von heute heraus erzählen und hoffe, dass es jemand anderer dann weiterträgt und von seiner Welt heraus erzählt. Für dieses Erzählen brauche ich diese Mittler, diese Hüter der Geschichte. Das sind natürlich keine Wissenschaftler, sondern auch die saugen sich raus, was für sie wichtig ist.

Wie kann man sich Ihre Regiearbeit vorstellen in Zusammenarbeit mit den Jungen?

Ich beginne immer mit Durchläufen. Wir spielen alles durch, komplett, bis zum Umfallen. Manchmal zum Beispiel für Dreijährige, ganz runtergefahren, um zu sehen, wer hier böse und gut ist. Manchmal machen wir es als nordkoreanische Oper, von der wir alle keine Ahnung haben, was aber besonders toll ist, weil da plötzlich Formen kommen, an die man überhaupt nicht denkt. Man kann den Durchlauf als Mafia-Film machen – wir gehen immer wieder ganz unterschiedlich mit dem Thema um, umspülen es, immer mehr, immer mehr, bis sich herauskristallisiert was uns wichtig ist. Das ist wie ein Sieb, das am Anfang grob ist und bei dem viel durchfällt. Das nächste Sieb ist feiner und irgendwann ist es dünn und es bleiben die wichtigen Fäden drin. Dann gucken wir auf den Text, was im Text für junges Publikum das transportiert, was wir wollen. Wir schauen, wo wir unseren Mund selber aufmachen müssen, wo wir witzigen Nummern haben müssen, um Niedriges und Erhabenes nebeneinander zu haben, damit das Erhabene ein bisschen höher steigt und das Niedrige so richtig schön auf den Boden klatscht. Da geht es darum, einen Unterhaltungswert anzubieten. Irgendwo hinzukommen und eine wissenschaftliche Abhandlung geboten zu bekommen, das ist es nicht. Nein, das Publikum soll Spaß dran haben, Lust und eine Erkenntnis. Und ein Erkenntnisgewinn geht natürlich über einen lustvollen Zugang leichter als über eine Hirnmaschinerie. Ich mache dann die Auswahl und es bleibt bei mir zu sagen: Das bleibt drin. Das häufigste Wort in dieser Phase ist „nein“. Ich bin da ziemlich hart im Aussortieren. Dann fügt es sich, dass die Geschichte anhand von Bildern, anhand von kleinen Geschichten und großen Fäden erzählt wird. Irgendwann schmilzt anhand der vielen gemeinsamen Proben auf der Bühne so etwas wie eine Bande zusammen. Es probt ja nie jemand alleine, wir sind immer alle da. Aber die Auswahl, wie man was setzt, das hat schon mit meinem Blick zu tun.

Konkret, was nun das Stück „Die Räuber“ betrifft – was war hier ihr Eingreifen?

Ich hab zum Beispiel für die Bügelbretter am Anfang gesorgt. Die sehen einfach gut aus, wenn die so rumstehen. Aber wir behaupten dann in dem Stück einfach, dass sie den alten Frauen unterm Bügeln von den Räubern gestohlen wurden. Wir hatten ganz zu Beginn die Idee, dass das, was wir hier sehen, so etwas wie ein explodiertes Kinderzimmer ist. Daher auch die verschiedenen Figuren. Dann auch die Hybride, die hier zu sehen sind. Wie jener bei dem Beine ohne Haare zu sehen sind, richtig pubertär schon, der Rest ist aber noch Teddykörper. Oder andere Figuren bei denen man sieht, dass da gerade etwas passiert aber man kann`s noch nicht greifen. Es ist aber etwas im Umbruch aber irgendwie möchte man doch noch den großen Kuschelbären. Franz und Karl sehen in ihren Masken auch ganz verwachsen aus. Maske, Material und Zeichenhaftigkeit interessieren mich sehr. Und dann auch das Thema der Aufmerksamkeit. Ich gebe den Bügelbrettern eine bestimmte Aufmerksamkeit. Meine Aufmerksamkeit ist vielleicht das Wertvollste was ich besitze. Dadurch, dass ich einem Objekt meine Aufmerksamkeit gebe und einen Raum und einen Rahmen dazu schaffe, bekommt es eine besondere Wertigkeit. Wie diese alten Bügelbretter, die wir in einem ganz alten Lager gefunden haben und die einmal in den 50er Jahren in einem großen Bügel-Kombinat im Einsatz waren. Wir brauchen nicht immer etwas Neues, es ist ja alles da, wir müssen es nur sehen.

In Ihren Stücken ist nicht nur aufgrund des Kasperls oder Buffons immer ein historischer Bezug spürbar.

Ja, die Geschichten wandeln sich natürlich, aber wenn wir sie verlieren, dann wird es schwierig. Das Theater ist ein wunderschönes Medium mit dem man sie mitnimmt. Vielleicht gibt es nur sieben große Geschichten auf dieser Erde, in tausenden von Variationen. Aber diese großen Geschichten müssen wir immer wieder mittragen. Das ist für mich der Atem des Theaters. Wenn das Theater diesen Atem verliert und nur noch einen modischen Zeitausschnitt, ein gekästeltes „Jetzt“ wiedergibt, dann ist mir das zu wenig. Zuwenig für dieses großartige Ereignis „Theater“, das Generationen von Menschen nicht losgelassen hat. Es ist mir zu wenig, es nur nach einem Marktwert zu bewerten und als Event zu benutzen. Es ist kein Event! Unterhaltung ja, aber kein Event.

Hatten Sie schon von jungen Menschen Rückmeldungen, nachdem diese Ihre Stücke gesehen hatten?

Ja, ich hatte eine Rückmeldung von einer jungen Frau, die hat inzwischen schon fertig studiert, die sagte: „Als ich Ihren Lear gesehen habe, habe ich aufgehört, Sprachwissenschaften zu studieren und angefangen mit Puppentheater.“ Mit Christine Müller, so ist ihr Name, habe ich dann den Tell gemacht. Ja, solche Rückmeldungen gibt es mehrere, das freut mich natürlich sehr.

Ihre Stücke haben viele Ebenen, bieten etwas für die Kleinen, aber auch für die Erwachsenen an.

Ja, das ist eines meiner Hauptanliegen. Ich bin gegen die Ghettoisierung von Theater. Ich mag „Kindertheater“ nicht, weil man dabei denkt, dass man speziell für die kleinen Kinder Theater machen muss. Quatsch. Man muss für alle Theater machen. Man muss für die Familie Theater machen, damit man gemeinsam dahingehen kann. Es gibt keine Kinderwelt. Wir leben alle in einer Welt. Das regt mich immer so auf! Martin Linzer, der leider kürzlich verstorbene, sehr, sehr tolle Kritiker von „Theater der Zeit“ hat einmal geschrieben: „Das ist perfektes Kindertheater für Erwachsene“. Das ist das, was mir wirklich am Herzen liegt. Früher ging man mit allen ins Theater. Ich ging mit meinen Eltern in irgendwelche Opern von denen ich nichts verstanden hab außer dass es toll war, dass es tolle Musik war. Und ich erinnere mich, dass meine Mutter draußen immer die Schuhe gewechselt hat, weil sie sagte, in so einen Tempel kann sie nicht mit Straßenschuhen gehen. Diese Achtung vor dem Theater war super. Wir sind uns da heute gar nicht bewusst, was wir da von unseren Altvorderen so mitbekommen haben. Sie haben uns etwas hinterlassen, das wir einfach schnöde als „alt“ abtun. Alt im Sinne von: Das ist nicht mehr hip, nicht mehr in. Aber das Theater ist einer der wenigen Räume in denen man gemeinsam eineinhalb Stunden lang etwas erleben kann. Man darf nicht rumzappen, darf nichts machen, man muss sich einlassen auf die Ideen, die da vorne so eine Handvoll Leute haben. Das ist subversiv. Ich halte Theater in dieser Zeit für einen subversiven Raum. Wenn das mehr Künstler kapieren würden, dann würde das auch für das Publikum wieder spannender werden. Theater ist Sinnbild und nicht Abbild von Realität.

Sie haben für das Theater, das Sie in Frankfurt an der Oder gründeten den Namen „Theater des Lachens“ gewählt. Wie kam es dazu?

Die Stadt lag ja an der willkürlich gezogenen Grenze zu Polen. Da gab es keinen Austausch, überhaupt nicht. Kein gemeinsames Wachsen wie zum Beispiel im Saarland. Und wir haben uns dann gedacht, was ist das Geringste, was uns dennoch miteinander verbindet. Und das ist das Lachen. Das hat am Anfang sehr, sehr gut funktioniert. Da saßen auch polnische Kinder drin, die sich gekringelt haben. Genau das wollten wir. Lachen ist nicht nur das Verbindende, sondern Lachen hat auch noch etwas Anderes. Wenn man lacht, kann man nichts Anderes machen. Wenn man richtig lacht, ist der Körper geteilt. Das Zwerchfell hat uns im Griff. Man kann nicht laufen, man kann nicht an was Anderes denken. Man steht da, ist wie ein Krüppelchen, kann keinen Schritt machen. Ich finde das super. Das ist eine Auszeit des Hirns. Wenn man über etwas lachen kann, dann kann man es auch verarbeiten und damit umgehen. Und das finde ich etwas Grandioses.

Eine Abschlussfrage.
Warum sollen Menschen denn ins Theater gehen?

Weil es der spannendste Ort außerhalb ihrer Realität ist, eine eigene Realität zu erleben.

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