Verstehen ist zu viel verlangt

Verstehen ist zu viel verlangt

Mitwisser (Foto: Matthias Heschl)

D rei verschiedene Orte auf unserer geodatentechnisch bis in den letzten Winkel erfassten Erde. Drei Verbrechen, die nichts miteinander zu tun haben und doch in der Zusammenschau einen roten Faden aufweisen –  das Umfeld der Täter und Täterinnen. Es ist austauschbar, egal wo sich Straftaten zutragen. Es hält still, verkriecht sich, will von nichts gewusst haben oder rühmt sich, einst, in ferner Zukunft sagen zu können dabei gewesen zu sein.

Die junge Autorin Enis Maci (geb. 1993 in Gelsenkirchen), die mit der Rohfassung ihres Textes „Mitwisser“ 2017 das Hans-Gratzer-Stipendium erhielt, gestaltete diesen in einem Workshop mit Kathrin Röggla zu einem abendfüllenden Stück, das nun am Schauspielhaus uraufgeführt wurde. Darin schlüpfen Simon Bauer, Lili Epply, Steffen Link, Vassilissa Reznikoff und Sebastian Schindegger in viele verschiedene Figuren. Angefangen von Tätern und Täterinnen bis hin zu jenen Nachbarn oder Freunden, die ein gesellschaftliches Amalgam bilden, das das Grauen zwar nicht erklären, zumindest im Nachhinein aber ausgiebig beschreiben kann.

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„Mitwisser“ im Schauspielhaus Wien (Foto: Matthias Heschl)

Der Regisseur Pedro Marins Beja setzt das Geschehen in einen kalten, neonbeleuchteten Raum (Bühne & Kostüme Elisabeth Weiß), der am Ende den Protagonistinnen und Protagonisten fast die Luft abschnürt. Enis Maci spinnt eine Horrorgeschichte nach der anderen von der Antike herauf in unsere Gegenwart und verwendet dabei zum Teil auch das historische Stilmittel des antiken Chores. Dabei präsentiert sie tatsächlich stattgefundene Gewalttaten wie die Ermordung eines Elternpaares durch ihren Sohn Tyler Hadley in Florida, der, mit den Leichen im Haus, eine Party für seine Facebook-Freunde schmiss. Sie erzählt von Nevin Yildirim, die nach monatelangem Martyrium in einem kleinen, türkischen Dorf ihren Vergewaltiger tötete und seinen Kopf den Dorfbewohnern auf dem Marktplatz präsentierte, um ihre Ehre wiederherzustellen. Sie berichtet aber auch vom jungen Deutschen Nils Donath, der sich der IS anschloss und nach verübten Gräueltaten in Syrien, nach seiner Rückkehr in seinem Heimatland, verhaftet und verurteilt wurde. Tylers Partygäste und die Senioren seiner Stadt, Yildrims Dorfgemeinschaft und die Freunde und Familie von Nils – sie alle kommen im Stück zu Wort und versichern mehr oder weniger glaubhaft, völlig unschuldig zu sein.

Ganz nebenbei, kaum wahrnehmbar, spielt die Autorin auch auf jene Mitwisser an, die während des Nazi-Regimes in Goethes und Schillers Weimar nichts vom KZ Buchenwald vor den Toren der Stadt gewusst haben wollen. Die Verbindung in die Antike schafft Enis Maci mit dem Drama um Klytaimnestra und interpretiert ihre Rache auf eine andere Art und Weise als die bislang tradierte.

In trashiges Neonlicht getaucht und mit zeitgeistigen Rhythmen unterlegt (Musik Markus Steinkellner), agiert das Ensemble als Gewaltverbrechen verdrängende Rentner in Port St. Lucie, als testosteronschwangere, junge Rowdies, die den Kampfplatz Fussball gegen Zusammenstöße mit „Kanacken“ tauschen oder als Dorfbewohner, die Yildirin so zu Leibe rücken, dass ihr Schicksal von vorneherein besiegelt erscheint, egal wie auch immer sie sich dagegen auflehnt.

Verstörend und dicht gestaltet sich das Bühnengeschehen zum Teil, das wie in einem Puzzle, einen Handlungs-Baustein nach dem anderen zur finalen Gesamtschau hinzufügt. Dabei schaut die Autorin auch hinter die kolportierten Geschehnisse und versucht, die Motivationen der Mörder und der Mörderin aufzuzeigen, wenngleich diese nicht im Vordergrund stehen. Der zum Teil spröde Text, der sich pseudophilosophisch zwischen die Erzählungen der Taten schiebt, scheint heute zum guten Theaterton zu gehören. Intellektualität muss aber nicht auf Sprachteufel komm raus aufgesetzt zelebriert werden, wenn der Stückinhalt ohnehin, wie in diesem Fall, schon gut durchdacht und verzahnt ist. Die fehlenden Emotionen, die nur vereinzelt in den Figuren aufflammen, werden durch eine geschickte Regieführung kompensiert.

Ähnlich wie in „Verstehen Sie den Dschihadismus / Zucken“, das im Nestroyhof/Hamakom seine Uraufführung erlebte, erhebt die Autorin von „Mitwisser“ nicht den Anspruch, die Gewaltphänomene tatsächlich erklären zu wollen. Zu Recht bleibt am Ende des Stückes der Satz „Verstehen Sie?“  unbeantwortet im Raum stehen. Die Taten verstehen, kann man nicht. Sich dem Phänomen Gewalt und Terror mit Hilfe dieses Stückes annähern und sich auch Gedanken über das gesellschaftliche Umfeld machen, in dem diese stattfinden, schon.

Weitere Termine auf der Homepage des Schauspielhauses.

Oben das Private, unten das Öffentliche

Oben das Private, unten das Öffentliche

Oben das Private, unten das Öffentliche

Von Michaela Preiner

„Ein Körper für jetzt und heute“ (Foto: Matthias Heschl)
03.
Februar 2018
Der Brunnen könnte in jeder Stadt in Europa stehen. Seine Architektur war in den 50er Jahren modern und tatsächlich machen die Graffitis an seinen Wänden klar, dass seine besten Zeiten vorbei sind.
Das Bühnenbild (Davy van Gerven) der Produktion „Ein Körper für jetzt und heute“, die derzeit im Schauspielhaus gezeigt wird, ist beeindruckend. Auch der kleine Raum, hoch über dem Wasserbecken, der sich in einer späteren Szene öffnet, ist reizvoll. Das Private, hoch oben, gedrängt und ohne Ausstattung, nur mit Licht erfüllt, steht im Gegensatz zum öffentlichen Raum, den das Ensemble sich aber erst einmal zurückerobern muss.
Denn rings um das Brunnenbecken gibt es nur wenig Platz für die Menschen. So waten Simon Bauer, Vera von Gunten, Steffen Link und Martina Spitzer mit Gummistiefeln unter ihren Hosen und imprägnierten Kleidungsstücken durch das Nass, um miteinander oder auch aneinander vorbei zu kommunizieren. Simon Bauer verkörpert Elija, der sich in seinem Körper völlig deplatziert fühlt. Von der Außenwelt gedrängt, lässt er eine Geschlechtsumwandlung vornehmen, um danach zu bemerken, dass dies eine falsche Entscheidung war. Eigentlich möchte er weder „das Dunkle noch das Helle“, sondern irgendetwas Neues dazwischen verkörpern. Seine Cousine (Martina Spitzer) steht ihm mit Rat und Tat zur Seite und hilft ihm, so gut sie kann, meist mit Tipps, welche Experten denn für die nächsten Schritte der Geschlechtsumwandlung zu konsultieren seien. Der Autor des Dramas, Mehdi Moradpour, teilt den Text in verschiedene Ebenen. Zum einen arbeitet er mit Monologen, in welchen die Personen meist sich selbst charakterisieren oder ihre Befindlichkeiten erklären. In den Dialogen zeigt er die Reaktion von Menschen wie die Eltern von Elijas, die sich wünschten, er hätte zwei Köpfe oder Klumpfüße, wenn er nur nicht so wäre, wie er tatsächlich ist. Zum Dritten schiebt der Autor immer wieder zum Teil auch sehr poetische Textstellen ein, welche die Handlung jedoch jedes Mal beinahe zum Erliegen bringen. In der Regie von Zino Wey wird ein großer Respekt vor dem nicht leicht verständlichen Text spürbar. Das führt dazu, dass dieser sich, mit vielen, unterschiedlichen, sprachlichen Ebenen ausgestattet, bühnenschwierig erweist und dadurch keine spannende Sogwirkung entfalten kann.
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„Ein Körper für jetzt und heute“ (Foto: Matthias Heschl)
Das Grundmotiv, unterschiedlichen Körperbefindlichkeiten und Körperwünschen nachzuspüren, wird dennoch klar erkennbar. Neben Elijas musste auch Eva (Vera von Gunten) eine dramatische Körpererfahrung machen. Sie ist bei ihrer allwöchentlichen Dialyse von einer großen Maschine abhängig, die ihr Blut filtert. Fanis (Steffen Link), der sich Hals über Kopf in sie verliebt, möchte ihr eine Niere spenden. Dass auch das nicht so einfach geht, wird in einer Szene klar, in der er einer wahrhaft hochnotpeinlichen Befragung unterzogen wird, ob er sich der Tragweite seines Entschlusses denn auch bewusst sei. Nicht zu vergessen tritt auch ein junger, männlicher Prostituierter auf, der seinen Körper für schnelle Nummern in Umkleidekabinen verkauft. Die Auseinandersetzung mit extremen Körperwahrnehmungen gäbe einiges an emotionalem Unterbau her und böte auch sozialkritische Ansätze. Dennoch bleibt der Abend kühl. Einzig das Gezerre der Gesellschaft an den Individuen, die nicht so sein dürfen, wie sie sind, wird durch gedehnte Pulloverärmel und kreativ an- und ausgezogenen Jacken sichtbar und dadurch auch gut nachvollziehbar. Auch die beiden angesprochenen Liebesgeschichten, anhand derer Moradpour die Körperzwänge deutlich artikuliert, bleiben nicht friktionsfrei, emotional aber dennoch beinahe unter der Wahrnehmungsschwelle.
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„Ein Körper für jetzt und heute“ (Foto: Matthias Heschl)
Die gelungene, musikalische Unterstützung von Lukas Huber – auch sie arbeitet mit grundverschiedenen, stilistischen Mitteln. Während zu Beginn ein trockener, feiner Electroniksound eine Abhandlung über die Entstehung von Erdöl untermalt, werden später deutliche Wagner-Anleihen aus der Rheingold-Ouvertüre zitathaft verwendet. Diese treten in Zusammenhang mit den privaten Momenten auf, in welchen die Anziehungskraft der Geschlechter eine Rolle spielen. Ein Abend, der schauspielerisch vom Ensemble bestmöglich durchexerziert wird und bei dem das Bühnenbild und auch die verwendeten Medien wie Live-Kameraaufnahmen und deren Projektionen den Text beinahe überflügeln. Weitere Termine auf der Homepage des Schauspielhauses.
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Elektra geht auch schräg

Elektra geht auch schräg

Elektra geht auch schräg

Von Michaela Preiner

„Elektra“ im Schauspielhaus Wien (Foto: Matthias Heschl)

01.

Jänner 2018

Elektra als Silvestervorstellung? Schräg, oder? Die Fragen sind legitim, wird im Theater doch gerne die Usance gepflegt, am 31. Dezember leicht verdauliche Kost auf der Bühne zu kredenzen.

Jakob Suske (Musik und Regie) und Ann Cotten (Text) jedoch schufen mit ihrer Elektra-Inszenierung am Schauspielhaus Wien das Kunststück, das familiäre Generationendrama der Tantaliden oder auch Atriden in einer elektronischen Kammeroper unverkrampft, jung, modern und mit jeder Menge Witz zu präsentieren.

Das Grundkorsett war dem einer musikalischen Revue angepasst. Kurze Dialoge wechselten mit jeder Menge solistischer, musikalischer Einlagen, aber auch einem Duett ab. Mirella Kassowitz agierte dabei im Fenster des ersten Stockes eines schnörkellosen Hauskonstruktes als Chor und DJ zugleich. (Bühne und Kostüm Patricia Ghijsens) In comicartig gebauten Szenen, mit bewusster C-Promi-Spielweise und dünnen Stimmchen reizte das Ensemble immer wieder die Lachmuskeln des Publikums. Dennoch wurde zugleich jede Menge an Infos beinahe subkutan vermittelt. Sowohl was die Familienkonstellation des mykenischen Geschlechtes anlangt, als auch solche über Rechts- und Staatsutopien.

Die leider von der linken Saalseite aus schwer einsehbare Innenausstattung des Wohnraumes zeigte, je nach Szene, den Frühstücksraum des Königspaares Klytaimnestra (Sebastian Schindegger) und Ägisth (Vassilissa Reznikoff), ihr Büro oder die karge, bäuerliche Küchenausstattung von Elektra, Klytaimnestras aufs Land verbannter Tochter. Die Kostüme und die Haartracht – aufgeklebte Backenkoteletten der Männer und eine zopfgedrehte Aufsteckfrisur – siedelten das Geschehen in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts an.

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Sophia Löffler und Jesse Inman in „Elektra“ im Schauspielhaus Wien (Foto: Matthias Heschl)

Orest, Klytaimnestra-Sohn (Jesse Inman), kehrt nach seiner Flucht zu seinem Onkel, der ihn in Amerika aufnahm, nach Mykene zurück. In Harvard ausgebildet, verfolgt er neoliberale Ansätze und hat die Idee, die Hühnerhaltung in dem Land seiner Vorväter zu revolutionieren und so größtmöglichen Profit zu erreichen. Seine Schwester Elektra (Sophia Löffler), in die er sich in dieser Inszenierung verliebt, verfolgt hingegen die traditionelle Ackerbau- und Viehzuchtmethode und warnt vor jeglicher Überdimensionierung. Sie stachelt ihn im Suff an, ihre gemeinsame Mutter aus Rache am Tod des Vaters Agamemnons umzubringen. Allerdings vergeblich. Die Fäden der Macht im Staat zieht Ägisth, der darauf bedacht ist, keinerlei familiäre Verstrickungen außerhalb seines unlegitimierten Verhältnisses mit Klytaimnestra aufkommen zu lassen. Wie Klytaimnestra ist auch er durch Mord und Inzest in seiner Familie vorbelastet.

Cotten, die unterschiedliche literarische Elektra-Lesarten quer über die Jahrtausende in ihrem Stück verarbeitet, schreibt Ägisth eine ganz eigene Rolle zu. Er ist ein starker Verdränger, den jedoch seine belastete Familiengeschichte immer wieder einholt, wenngleich er – in dieser Inszenierung von der Ermordung durch Elektra selbst verschont – auch noch im Alter hofft, ein neues Leben ohne diesen psychischen Ballast beginnen zu können.

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„Elektra“ im Schauspielhaus Wien (Foto: Matthias Heschl)

Die Musik ist, bis auf kurze Opernzitate, relativ einfach gestrickt und folgt in den meisten Fällen leicht fassbaren Strukturen, die auch von ungeübten Stimmen bewerkstelligt werden können. Elektronischer Sound aber auch Orgelklänge unterfüttern dabei die Texte wie der Holzhack-, der US-Arie und anderen, in welchen sogar die Düngemethoden von Gemüse besungen werden.

Alleine das zeigt, dass sich das Duo Suske/Cotten dem historischen Stoff völlig unverkrampft annäherte und damit ein junges Publikum erreichen kann, das mit der einschlägigen Literatur von Sophokles, Aischylos, Euripides bis herauf zu Sartre wenig anzufangen weiß. Auch die Hosenrolle, in welcher die zarte Vassilissa Reznikoff als Orest auftritt und ihr Gegenpart Sebastian Schindegger, der in Travestiemanier als groß gewachsene Klytaimnestra agiert, tragen dazu bei, wenig Ernst beim letztlich doch tödlichen Spiel aufkommen zu lassen.

Wer mag, delektiert sich an den Deklinationen vom Auf- und Absteigen von Machtverhältnissen und den damit verbundenen Auswirkungen auf die Bevölkerung von Mykene. Wer sich eher für die emotionalen Beweggründe der Menschen interessiert – ihre Rachegelüste oder auch ihre Bereitschaft zu vergeben, kommt ebenfalls auf seine Kosten. Einzig der musikalische Output muss als solcher gesehen werden, was er ist: eine adäquate, zeitgeistige Begleitung einer trashigen Inszenierung, bei der das menschliche Scheitern in vielen Facetten fröhlich zelebriert wird.

Weitere Termine auf der Seite des Schauspielhauses.

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Das Wichtige ist, sich an das Wichtige zu erinnern

Das Wichtige ist, sich an das Wichtige zu erinnern

Der unbekannte Junge, der nur einen beschränkten Sprachschatz vorweisen konnte und behauptete, sein Leben bei Wasser und Brot im Dunkeln verbracht zu haben, gab seiner Umwelt Rätsel auf. Laut einem Brief 1812 geboren, tauchte Kaspar Hauser 16-jährig in Nürnberg auf, um dort schließlich bei seinem ihm zugewiesenen Vormund wie ein Ausstellungsstück von der Bevölkerung beäugt zu werden. Um sein kurzes Leben, er starb mit 21 Jahren an einer Stichverletzung, ranken sich Legenden, die viele Künstler inspirierten.

Eine Regie mit Anleihen an die 60-er Jahre

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Kaspar Hauser im Schauspielhaus Regie Lisa Lie (c) Matthias Heschl

So auch Lisa Lie, eine norwegische Regisseurin und Autorin, die im Schauspielhaus mit „Kaspar Hauser oder die Ausgestoßenen könnten jeden Augenblick angreifen!“, ihr Österreich-Debut gab. Bekannt für ihr Cross-over von Theater, Bildender Kunst und Pop-Kultur setzt sie diese Regiearbeit verdächtig nahe an ehemals provokante Arbeiten der 60er Jahre, als Nacktheit, offen gezeigte Brutalität oder Chaos auf der Bühne noch für Publikumsentrüstung sorgten. In ihrer Inszenierung jedoch entrüstet sich niemand mehr, schreit niemand mehr auf, vielleicht auch deswegen, weil die Kopulationsszenen, von denen es jede Menge in der Inszenierung gibt, brav in hautfarbener Unterwäsche vollführt werden. Und auch der Rest ist nicht schockierend, aber auch nicht sonderlich erkenntnisreich oder emotional packend. Die Regisseurin lässt das 4-köpfige Ensemble, drei Männer und eine Frau, abtanzen, dass die Schwarten krachen. Sie dürfen zum Teil herumkommandieren, was das Zeug hält, sich tierisch benehmen und ab und zu auch über die hehre Kunst palavern, die über allem steht, vor allem über Menschen, die wie Tiere behandelt werden.

Ein Monolog pro und contra Kindsweglegungen

Ein großer, weiß getünchter, verwachsener Baumstamm (Bühne und Kostüme Maja Nilsen) steht mitten auf der Bühne und bildet Podest und Unterschlupf zugleich. Vassilissa Reznikoff darf, darauf sitzend, als junge Mutter mit einem Tarncape bekleidet, einen langen Anfangsmonolog halten. In diesem wechselt sie zwischen unterschiedlichen Identitäten hin und her, dass einem schwindlig werden kann. Gerade noch Frau eines Herrschers, sammelt sie in der nächsten Minute – laut ihrer Erzählung – Dreck aus Mülleimern. Gerade noch Verfechterin von übermenschlicher Mutterliebe, kippt sie im nächsten Moment ins Gegenteil und möchte ihre Schlangenbrut so schnell wie möglich loswerden. Auf diese Weise verkörpert sie nicht eine bestimmte Frau, sondern mehrere zum Teil höchst gespaltene Persönlichkeiten. Diese können zwischen dem Akt der Kindesweglegung und der Beschwörung, so etwas nie tun zu können, völlig emotionslos wechseln. Vielleicht lässt Lie diese Mutter die Sorgen und Nöte vieler junger Frauen artikulieren, die sich angesichts einer ungewollten Schwangerschaft die Frage stellen, ob sie das Neugeborenen weggeben sollen. Vielleicht sind es die Sorgen all jener, die missgebildete Kinder zur Welt bringen und sich vor dem gesellschaftlichen Druck der Konformität fürchten. Annahmen hierzu gibt es viele, denn der Text ist offen dafür. Der Kaspar-Hauser-Mythos, den der Titel des Stückes ankündigt, wird jedoch gänzlich verweigert. Mit der Kindesweglegung hat sich die Sache, zumindest was die biografischen Repetitionen anlangt, auch schon erledigt.

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Kaspar Hauser im Schauspielhaus Regie Lisa Lie (c) Matthias Heschl

Der Mensch stammt unwiderlegbar vom Tier ab

Denn auch nach dieser langen Intro folgt keine weitere Erwähnung dieser historischen Person, sondern vielmehr eine wilde, szenische Jagd des Ensembles quer durch die Evolution der Menschheit. Von den Primaten angefangen bis hin zu Disco-Tänzerinnen und Tänzern spannt Lisa Lie den Bogen, in dem alle Szenen, so unabhängig sie auch von den vorangegangenen sein mögen, eine Hauptaussage haben: Der Mensch stammt vom Tier ab und ist und gebärdet sich, so er sich in einer Machtposition befindet, schlimmer als ein solches. Lie zeigt aber auch jene Unterwürfigkeit auf, die unterdrückte Menschen als überlebensnotwendige Strategie verwenden müssen. Ihr tierähnliches Vegetieren in Kerkern, ihr Opportunismus, wenn es darum geht, den Herrschern hilfreich zu sein, ihre Unterwürfigkeit rückt die Regisseurin in die Nähe von tierischen Verhaltensmustern und geht dabei auch über Schmerzgrenzen.

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Kaspar Hauser im Schauspielhaus Regie Lisa Lie (c) Matthias Heschl

Wie in jener Szene, in der ein von allen skurril überzeichnetes, getanztes, klassisches Ballett dazu genützt wird, sich gegenseitig zu boxen, zu treten und zu verletzen, was das Zeug hält. Hier präsentiert Lie einen persönlichen Zugang zur Kulturkritik nach Auschwitz. Macht sie dabei doch klar, dass Kunst nicht einen Funken dazu beitragen kann, dass sich Menschen anderen gegenüber nicht wie wilde Tiere benehmen, wenn sie Gelegenheit dazu bekommen.

Das Tier ist der bessere Mensch

Dieser kulturpessimistische Ansatz zieht sich von Beginn an durch, wenn Reznikoff in ihrem Monolog die Kindsweglegung zu rechtfertigen versucht. Er geht weiter in jener Szene, in der die Affen zu Menschen mutieren und sich zum Five O’Clock Tea treffen, bei dem der Diener übelste Beschimpfungen erleiden muss. Es gibt nur eine Szene, in der Gewalt ausgespart wird. Es ist ausgerechnet jene, in welcher sich eine kleine Affenherde ihr Futter – folierte Glashausgurken – friedlich teilen. Alles, was der Mensch dann im Laufe der Evolution zustande bringt, sind bei Lisa Lie Gewaltakte gegen Schwächere. Dass die Kunst dabei auch dafür herhält, die angebliche, höherwertige Stellung der Unterdrücker zu beweisen, wurde schon kurz erwähnt. Zumindest ist diese zynische  Betrachtungsweise des eigenen Agierens im Kulturbetrieb, das naive Kulturfreaks gerne ausblenden möchten, der Regisseurin hoch anzurechnen.

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Kaspar Hauser im Schauspielhaus Regie Lisa Lie (c) Matthias Heschl

Zwar ist es ein praller und intensiver Theaterabend – vor allem für das Ensemble, das sich bis zur körperlichen Erschöpfung verausgaben muss. Der Funke eines packenden Erlebnisses, einer Neuerkenntnis oder zumindest eines gelungenen Déjà-vu springt auf das Publikum jedoch nicht über. Es ist nicht die freie Herangehensweise an die Thematik, die kritisiert wird, denn diese ist legitim. Es ist auch nicht die Zweisprachigkeit, die verwendet wird. Oft wird vom Deutschen ins Englische geswitcht. Es ist die extrem verkürzte Sichtweise auf die Problematik von Ausgestoßenen und der trashige, ja als beliebig zu bezeichnende Umgang damit, der, wie eingangs schon erwähnt, leider auch keinen Neuigkeitswert hat. Das Positive des Abends: Ein fulminant spielendes Ensemble: Kenneth Homstad, Jesse Inman, Gabriel Zschache und Vassilissa Reznikoff, wobei Letztgenannte mit ihrem Eingangsmonolog eine schauspielerische Höchstleistung hinlegt. Nicht zu vergessen einige schöne Bonmots wie: „Das Fehlen von Respekt gegenüber Menschen darf nicht mit Freiheit verwechselt werden.“, oder: „Das Wichtigste ist, sich an das Wichtigste zu erinnern.“ Wobei es nicht ganz sicher ist, was das Wichtigste dieses Abends ist.

Weitere Termine auf der Homepage des Schauspielhauses.

Ein Alb-Traumland löst sich auf

Ein Alb-Traumland löst sich auf

Gute Literatur, wie gute Kunst im Allgemeinen, zeichnet sich dadurch aus, dass sie auch lange nach ihrer Entstehung aktuell bleibt. Das Schauspielhaus zeigt derzeit „Traum, Perle, Tod“ nach dem einzigen Roman von Alfred Kubin „Die andere Seite“. Dass es ein guter Roman ist, einer der weit über seine Zeit hinaus von Bedeutung blieb und wahrscheinlich auch bleiben wird, wird in dieser Produktion überdeutlich.

Traum Perle Tod (c) Susanne Einzenberger

Traum Perle Tod (c) Susanne Einzenberger

Tomas Schweigen pflegt eine eigene Theaterästhetik

Unter der Regie des Schauspielhausleiters Tomas Schweigen und mit dem Bühnenbild von Stephan Weber entstand ein Abend, der einer ganz besonderen Ästhetik verpflichtet ist. Seit Schweigens Intendanz sind es verschiedene, immer wieder verwendete Stilmittel, welche Produktionen auf den ersten Blick als solche des Schauspielhauses kennzeichnen.

Das ist zum einen der Umgang mit Musik (Jacob Suske). Das Ensemble macht diese auf der Bühne selbst. Greift in die Saiten, bedient Percussion- und Tasteninstrumente und singt dazu. Zum anderen ist es der ungewöhnliche Umgang mit dem Bühnenraum. In dieser Produktion sitzt das Publikum nicht wie gewohnt in Reihen, die in die Saaltiefe gehen. Vielmehr erstreckt sich die Bühne über die ganze Raumlänge und lässt die Zusehenden auf der Gegenüberseite Platz nehmen. Auch technische Eingriffe, wie das Ein- und Ausschalten von Licht, werden vom Ensemble selbst vorgenommen. Auch das Betreten des Zuschauerbereiches – hier durch rasche Auf- und Abgänge während des Stücks – gehört zum bereits bewährten Gestaltungskanon. Als Kostüme dienen Arbeitsoveralls jeglicher Couleur, das Bühnenbild präsentiert sich minimalistisch, aber stets trashig.

Traum Perle Tod (c) Susanne Einzenberger

Traum Perle Tod (c) Susanne Einzenberger

Nicht zuletzt ist es ein permanentes Augenzwinkern, mit dem Schweigen seine Inszenierungen ausstattet. Ein Augenzwinkern, das eine gewisse Distanz zum Theatermachen an sich offenbart. Nicht, dass dieses nicht lustvoll geschieht. Aber es als das Maß aller Dinge anzusehen, den Schauspielerinnen und Schauspielern gar Kultstatus zu verleihen, scheint ihm fern zu liegen. Damit schafft er aber zugleich auch eine Handreiche zu seinem Publikum, das sich oft aufgefordert fühlt, wenn schon nicht direkt mitzumachen, dann zumindest davor oder danach in irgendeiner Form partizipativ zu werden.

Das Geschehen orientiert sich an Kubins Text

In „Traum, Perle, Tod“ bleibt Schweigen zumindest vor der Pause sehr nahe an Kubins Text. In der ersten Spielhälfte wird eine Traumsequenz nach der anderen produziert. Dies geschieht durch den permanenten Einsatz von kleinen Scheinwerfern, welche die jeweils sprechende Person individuell beleuchtet, den Rest des Raumes aber im Dunkel belässt. Gautsch, ein Agent, der als einziger das Traumland verlassen darf, stellt dieses dem Publikum vor. Geschaffen wurde es von Patera, jenem reichen Mann, der sich die Menschen, die darin wohnen dürfen, selbst aussucht. Das Verbot von neuer Technik ist eine Restriktion, der alle gehorchen. Obwohl in die Hauptstadt des Landes, Perle, kein Sonnenstrahl eindringt, macht dies den Bewohnern scheinbar nichts aus. Der Arzt und seine Frau, ein stets nach einer Liebschaft Suchender, ein Frisör, sie alle haben sich an die düsteren Lichtumstände gewöhnt. Nur die Frau des Erzählers, der niemals sichtbar wird, begehrt bald auf, wird depressiv und stirbt nach gar nicht allzu langer Zeit in der Stadt.

Kubins Text, früher häufig unter dem Blickwinkel von Tramdeutungsideen seziert, bekommt unter den derzeitigen globalen, gesellschaftlichen Bedingungen einen neuen Dreh. Eine drohende Diktatur, wie auch immer politisch sie gestaltet sein mag, lässt sich mit jenen Zuständen gut vergleichen, in welchen die Menschen in Perle leben. Wer nichts hinterfragt und in seiner eigenen Traumwelt gefangen bleibt, hat nichts zu befürchten. Wer wissen möchte, wer hinter dem sagenumwobenen Übervater Patera steckt, ihn vielleicht auch noch sprechen möchte, setzt sich allergrößten Gefahren aus.

Die zwei Widersacher treffen aufeinander

Patera, der sich schließlich in der Inszenierung als Gautsch entpuppt, bekommt in der Halbzeit einen Widersacher. Mit dem Amerikaner Herkules Bell betritt ein Mann das Land, der mit Dosenfleisch seinen Reichtum erarbeitet hat und sich nun nichts sehnlicher wünscht, als gegen Patera und seine Herrschaft anzutreten. Der Kampf der beiden endet schließlich in einem wilden Revolver-Buben-Duell, während sich das Land rund um sie bereits in der vollkommenen Auflösung befindet.

Traum Perle Tod (c) Susanne Einzenberger

Traum Perle Tod (c) Susanne Einzenberger

Die Bühne wurde zur Pause mittels Vorhang in zwei Hälften getrennt. Jener, in der sich das duster das Traumland befindet und jener, in der Bell auf der anderen Seite von Scheinwerfern erleuchtet sich auf die Auseinandersetzung mit Patera vorbereitet. Zuvor dürfen sie sich noch im philosophischen Diskurs über die Demokratie ereifern. Während sich das Chaos im führungslosen Land ausbreitet, nimmt die Herrschaft von Tieren, welche das Land sukzessive bevölkern, überhand. An dieser Stelle ist die Inszenierung nicht weniger hypertroph angelegt als Kubins Text selbst. Haare, die mittels Perücken bis zum Boden wachsen, Arme, welche die doppelte Länge einer normal gewachsenen Statur erreichen, Brüste und Hinterteile, die so gewaltig sind, dass man meint, ihre Trägerin könne darin nur schwer das Gleichgewicht halten, sind nur einige Monstrositäten, mit welchen die Traumfiguren ausgestattet sind. Ein ständiges Hin- und Her, der sich wiederholende Versuch einer Figur, sich in den Tod zu stürzen, gegenseitige Liebesbekundungen, alles geschieht beinahe gleichzeitig und zeigt auf, dass die Menschen in diesem Land unfähig sind, in selbst gewählter Freiheit zu leben.

Hochaktuelle Gesellschaftsbezüge

Die Auflösungserscheinungen der Traumlandgesellschaft, die mit erschreckender Klarheit wenn schon nicht mit unserer Gegenwart, dann doch mit einer nahen Zukunft verglichen werden können, machen das Stück im Schauspielhaus hoch aktuell. Die Erkenntnis, dass sich Systeme abwechseln, jedoch nicht unbedingt zum gesellschaftlichen Vorteil hin verändern, bleibt eine bittere Pille. Wer könnte jedoch unsere Zeit glaubhaft in rosa Theater-Zuckerwatte verpacken? Das Team im Schauspielhaus um Thomas Schweigen sicher nicht.

Es spielen: Simon Bauer, Vera von Gunten, Jesse Inman, Steffen Link, Vassilissa Reznikoff, Sebastian Schindegger

Weitere Infos auf der Homepage des Schauspielhauses.

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