von Elisabeth Ritonja | Feb 8, 2017 | Theater
Der unbekannte Junge, der nur einen beschränkten Sprachschatz vorweisen konnte und behauptete, sein Leben bei Wasser und Brot im Dunkeln verbracht zu haben, gab seiner Umwelt Rätsel auf. Laut einem Brief 1812 geboren, tauchte Kaspar Hauser 16-jährig in Nürnberg auf, um dort schließlich bei seinem ihm zugewiesenen Vormund wie ein Ausstellungsstück von der Bevölkerung beäugt zu werden. Um sein kurzes Leben, er starb mit 21 Jahren an einer Stichverletzung, ranken sich Legenden, die viele Künstler inspirierten.
Eine Regie mit Anleihen an die 60-er Jahre
Kaspar Hauser im Schauspielhaus Regie Lisa Lie (c) Matthias Heschl
So auch Lisa Lie, eine norwegische Regisseurin und Autorin, die im Schauspielhaus mit „Kaspar Hauser oder die Ausgestoßenen könnten jeden Augenblick angreifen!“, ihr Österreich-Debut gab. Bekannt für ihr Cross-over von Theater, Bildender Kunst und Pop-Kultur setzt sie diese Regiearbeit verdächtig nahe an ehemals provokante Arbeiten der 60er Jahre, als Nacktheit, offen gezeigte Brutalität oder Chaos auf der Bühne noch für Publikumsentrüstung sorgten. In ihrer Inszenierung jedoch entrüstet sich niemand mehr, schreit niemand mehr auf, vielleicht auch deswegen, weil die Kopulationsszenen, von denen es jede Menge in der Inszenierung gibt, brav in hautfarbener Unterwäsche vollführt werden. Und auch der Rest ist nicht schockierend, aber auch nicht sonderlich erkenntnisreich oder emotional packend. Die Regisseurin lässt das 4-köpfige Ensemble, drei Männer und eine Frau, abtanzen, dass die Schwarten krachen. Sie dürfen zum Teil herumkommandieren, was das Zeug hält, sich tierisch benehmen und ab und zu auch über die hehre Kunst palavern, die über allem steht, vor allem über Menschen, die wie Tiere behandelt werden.
Ein Monolog pro und contra Kindsweglegungen
Ein großer, weiß getünchter, verwachsener Baumstamm (Bühne und Kostüme Maja Nilsen) steht mitten auf der Bühne und bildet Podest und Unterschlupf zugleich. Vassilissa Reznikoff darf, darauf sitzend, als junge Mutter mit einem Tarncape bekleidet, einen langen Anfangsmonolog halten. In diesem wechselt sie zwischen unterschiedlichen Identitäten hin und her, dass einem schwindlig werden kann. Gerade noch Frau eines Herrschers, sammelt sie in der nächsten Minute – laut ihrer Erzählung – Dreck aus Mülleimern. Gerade noch Verfechterin von übermenschlicher Mutterliebe, kippt sie im nächsten Moment ins Gegenteil und möchte ihre Schlangenbrut so schnell wie möglich loswerden. Auf diese Weise verkörpert sie nicht eine bestimmte Frau, sondern mehrere zum Teil höchst gespaltene Persönlichkeiten. Diese können zwischen dem Akt der Kindesweglegung und der Beschwörung, so etwas nie tun zu können, völlig emotionslos wechseln. Vielleicht lässt Lie diese Mutter die Sorgen und Nöte vieler junger Frauen artikulieren, die sich angesichts einer ungewollten Schwangerschaft die Frage stellen, ob sie das Neugeborenen weggeben sollen. Vielleicht sind es die Sorgen all jener, die missgebildete Kinder zur Welt bringen und sich vor dem gesellschaftlichen Druck der Konformität fürchten. Annahmen hierzu gibt es viele, denn der Text ist offen dafür. Der Kaspar-Hauser-Mythos, den der Titel des Stückes ankündigt, wird jedoch gänzlich verweigert. Mit der Kindesweglegung hat sich die Sache, zumindest was die biografischen Repetitionen anlangt, auch schon erledigt.
Kaspar Hauser im Schauspielhaus Regie Lisa Lie (c) Matthias Heschl
Der Mensch stammt unwiderlegbar vom Tier ab
Denn auch nach dieser langen Intro folgt keine weitere Erwähnung dieser historischen Person, sondern vielmehr eine wilde, szenische Jagd des Ensembles quer durch die Evolution der Menschheit. Von den Primaten angefangen bis hin zu Disco-Tänzerinnen und Tänzern spannt Lisa Lie den Bogen, in dem alle Szenen, so unabhängig sie auch von den vorangegangenen sein mögen, eine Hauptaussage haben: Der Mensch stammt vom Tier ab und ist und gebärdet sich, so er sich in einer Machtposition befindet, schlimmer als ein solches. Lie zeigt aber auch jene Unterwürfigkeit auf, die unterdrückte Menschen als überlebensnotwendige Strategie verwenden müssen. Ihr tierähnliches Vegetieren in Kerkern, ihr Opportunismus, wenn es darum geht, den Herrschern hilfreich zu sein, ihre Unterwürfigkeit rückt die Regisseurin in die Nähe von tierischen Verhaltensmustern und geht dabei auch über Schmerzgrenzen.
Kaspar Hauser im Schauspielhaus Regie Lisa Lie (c) Matthias Heschl
Wie in jener Szene, in der ein von allen skurril überzeichnetes, getanztes, klassisches Ballett dazu genützt wird, sich gegenseitig zu boxen, zu treten und zu verletzen, was das Zeug hält. Hier präsentiert Lie einen persönlichen Zugang zur Kulturkritik nach Auschwitz. Macht sie dabei doch klar, dass Kunst nicht einen Funken dazu beitragen kann, dass sich Menschen anderen gegenüber nicht wie wilde Tiere benehmen, wenn sie Gelegenheit dazu bekommen.
Das Tier ist der bessere Mensch
Dieser kulturpessimistische Ansatz zieht sich von Beginn an durch, wenn Reznikoff in ihrem Monolog die Kindsweglegung zu rechtfertigen versucht. Er geht weiter in jener Szene, in der die Affen zu Menschen mutieren und sich zum Five O’Clock Tea treffen, bei dem der Diener übelste Beschimpfungen erleiden muss. Es gibt nur eine Szene, in der Gewalt ausgespart wird. Es ist ausgerechnet jene, in welcher sich eine kleine Affenherde ihr Futter – folierte Glashausgurken – friedlich teilen. Alles, was der Mensch dann im Laufe der Evolution zustande bringt, sind bei Lisa Lie Gewaltakte gegen Schwächere. Dass die Kunst dabei auch dafür herhält, die angebliche, höherwertige Stellung der Unterdrücker zu beweisen, wurde schon kurz erwähnt. Zumindest ist diese zynische Betrachtungsweise des eigenen Agierens im Kulturbetrieb, das naive Kulturfreaks gerne ausblenden möchten, der Regisseurin hoch anzurechnen.
Kaspar Hauser im Schauspielhaus Regie Lisa Lie (c) Matthias Heschl
Zwar ist es ein praller und intensiver Theaterabend – vor allem für das Ensemble, das sich bis zur körperlichen Erschöpfung verausgaben muss. Der Funke eines packenden Erlebnisses, einer Neuerkenntnis oder zumindest eines gelungenen Déjà-vu springt auf das Publikum jedoch nicht über. Es ist nicht die freie Herangehensweise an die Thematik, die kritisiert wird, denn diese ist legitim. Es ist auch nicht die Zweisprachigkeit, die verwendet wird. Oft wird vom Deutschen ins Englische geswitcht. Es ist die extrem verkürzte Sichtweise auf die Problematik von Ausgestoßenen und der trashige, ja als beliebig zu bezeichnende Umgang damit, der, wie eingangs schon erwähnt, leider auch keinen Neuigkeitswert hat. Das Positive des Abends: Ein fulminant spielendes Ensemble: Kenneth Homstad, Jesse Inman, Gabriel Zschache und Vassilissa Reznikoff, wobei Letztgenannte mit ihrem Eingangsmonolog eine schauspielerische Höchstleistung hinlegt. Nicht zu vergessen einige schöne Bonmots wie: „Das Fehlen von Respekt gegenüber Menschen darf nicht mit Freiheit verwechselt werden.“, oder: „Das Wichtigste ist, sich an das Wichtigste zu erinnern.“ Wobei es nicht ganz sicher ist, was das Wichtigste dieses Abends ist.
Weitere Termine auf der Homepage des Schauspielhauses.
von Michaela Preiner | Sep 30, 2016 | Theater
Gute Literatur, wie gute Kunst im Allgemeinen, zeichnet sich dadurch aus, dass sie auch lange nach ihrer Entstehung aktuell bleibt. Das Schauspielhaus zeigt derzeit „Traum, Perle, Tod“ nach dem einzigen Roman von Alfred Kubin „Die andere Seite“. Dass es ein guter Roman ist, einer der weit über seine Zeit hinaus von Bedeutung blieb und wahrscheinlich auch bleiben wird, wird in dieser Produktion überdeutlich.
Traum Perle Tod (c) Susanne Einzenberger
Tomas Schweigen pflegt eine eigene Theaterästhetik
Unter der Regie des Schauspielhausleiters Tomas Schweigen und mit dem Bühnenbild von Stephan Weber entstand ein Abend, der einer ganz besonderen Ästhetik verpflichtet ist. Seit Schweigens Intendanz sind es verschiedene, immer wieder verwendete Stilmittel, welche Produktionen auf den ersten Blick als solche des Schauspielhauses kennzeichnen.
Das ist zum einen der Umgang mit Musik (Jacob Suske). Das Ensemble macht diese auf der Bühne selbst. Greift in die Saiten, bedient Percussion- und Tasteninstrumente und singt dazu. Zum anderen ist es der ungewöhnliche Umgang mit dem Bühnenraum. In dieser Produktion sitzt das Publikum nicht wie gewohnt in Reihen, die in die Saaltiefe gehen. Vielmehr erstreckt sich die Bühne über die ganze Raumlänge und lässt die Zusehenden auf der Gegenüberseite Platz nehmen. Auch technische Eingriffe, wie das Ein- und Ausschalten von Licht, werden vom Ensemble selbst vorgenommen. Auch das Betreten des Zuschauerbereiches – hier durch rasche Auf- und Abgänge während des Stücks – gehört zum bereits bewährten Gestaltungskanon. Als Kostüme dienen Arbeitsoveralls jeglicher Couleur, das Bühnenbild präsentiert sich minimalistisch, aber stets trashig.
Traum Perle Tod (c) Susanne Einzenberger
Nicht zuletzt ist es ein permanentes Augenzwinkern, mit dem Schweigen seine Inszenierungen ausstattet. Ein Augenzwinkern, das eine gewisse Distanz zum Theatermachen an sich offenbart. Nicht, dass dieses nicht lustvoll geschieht. Aber es als das Maß aller Dinge anzusehen, den Schauspielerinnen und Schauspielern gar Kultstatus zu verleihen, scheint ihm fern zu liegen. Damit schafft er aber zugleich auch eine Handreiche zu seinem Publikum, das sich oft aufgefordert fühlt, wenn schon nicht direkt mitzumachen, dann zumindest davor oder danach in irgendeiner Form partizipativ zu werden.
Das Geschehen orientiert sich an Kubins Text
In „Traum, Perle, Tod“ bleibt Schweigen zumindest vor der Pause sehr nahe an Kubins Text. In der ersten Spielhälfte wird eine Traumsequenz nach der anderen produziert. Dies geschieht durch den permanenten Einsatz von kleinen Scheinwerfern, welche die jeweils sprechende Person individuell beleuchtet, den Rest des Raumes aber im Dunkel belässt. Gautsch, ein Agent, der als einziger das Traumland verlassen darf, stellt dieses dem Publikum vor. Geschaffen wurde es von Patera, jenem reichen Mann, der sich die Menschen, die darin wohnen dürfen, selbst aussucht. Das Verbot von neuer Technik ist eine Restriktion, der alle gehorchen. Obwohl in die Hauptstadt des Landes, Perle, kein Sonnenstrahl eindringt, macht dies den Bewohnern scheinbar nichts aus. Der Arzt und seine Frau, ein stets nach einer Liebschaft Suchender, ein Frisör, sie alle haben sich an die düsteren Lichtumstände gewöhnt. Nur die Frau des Erzählers, der niemals sichtbar wird, begehrt bald auf, wird depressiv und stirbt nach gar nicht allzu langer Zeit in der Stadt.
Kubins Text, früher häufig unter dem Blickwinkel von Tramdeutungsideen seziert, bekommt unter den derzeitigen globalen, gesellschaftlichen Bedingungen einen neuen Dreh. Eine drohende Diktatur, wie auch immer politisch sie gestaltet sein mag, lässt sich mit jenen Zuständen gut vergleichen, in welchen die Menschen in Perle leben. Wer nichts hinterfragt und in seiner eigenen Traumwelt gefangen bleibt, hat nichts zu befürchten. Wer wissen möchte, wer hinter dem sagenumwobenen Übervater Patera steckt, ihn vielleicht auch noch sprechen möchte, setzt sich allergrößten Gefahren aus.
Die zwei Widersacher treffen aufeinander
Patera, der sich schließlich in der Inszenierung als Gautsch entpuppt, bekommt in der Halbzeit einen Widersacher. Mit dem Amerikaner Herkules Bell betritt ein Mann das Land, der mit Dosenfleisch seinen Reichtum erarbeitet hat und sich nun nichts sehnlicher wünscht, als gegen Patera und seine Herrschaft anzutreten. Der Kampf der beiden endet schließlich in einem wilden Revolver-Buben-Duell, während sich das Land rund um sie bereits in der vollkommenen Auflösung befindet.
Traum Perle Tod (c) Susanne Einzenberger
Die Bühne wurde zur Pause mittels Vorhang in zwei Hälften getrennt. Jener, in der sich das duster das Traumland befindet und jener, in der Bell auf der anderen Seite von Scheinwerfern erleuchtet sich auf die Auseinandersetzung mit Patera vorbereitet. Zuvor dürfen sie sich noch im philosophischen Diskurs über die Demokratie ereifern. Während sich das Chaos im führungslosen Land ausbreitet, nimmt die Herrschaft von Tieren, welche das Land sukzessive bevölkern, überhand. An dieser Stelle ist die Inszenierung nicht weniger hypertroph angelegt als Kubins Text selbst. Haare, die mittels Perücken bis zum Boden wachsen, Arme, welche die doppelte Länge einer normal gewachsenen Statur erreichen, Brüste und Hinterteile, die so gewaltig sind, dass man meint, ihre Trägerin könne darin nur schwer das Gleichgewicht halten, sind nur einige Monstrositäten, mit welchen die Traumfiguren ausgestattet sind. Ein ständiges Hin- und Her, der sich wiederholende Versuch einer Figur, sich in den Tod zu stürzen, gegenseitige Liebesbekundungen, alles geschieht beinahe gleichzeitig und zeigt auf, dass die Menschen in diesem Land unfähig sind, in selbst gewählter Freiheit zu leben.
Hochaktuelle Gesellschaftsbezüge
Die Auflösungserscheinungen der Traumlandgesellschaft, die mit erschreckender Klarheit wenn schon nicht mit unserer Gegenwart, dann doch mit einer nahen Zukunft verglichen werden können, machen das Stück im Schauspielhaus hoch aktuell. Die Erkenntnis, dass sich Systeme abwechseln, jedoch nicht unbedingt zum gesellschaftlichen Vorteil hin verändern, bleibt eine bittere Pille. Wer könnte jedoch unsere Zeit glaubhaft in rosa Theater-Zuckerwatte verpacken? Das Team im Schauspielhaus um Thomas Schweigen sicher nicht.
Es spielen: Simon Bauer, Vera von Gunten, Jesse Inman, Steffen Link, Vassilissa Reznikoff, Sebastian Schindegger
Weitere Infos auf der Homepage des Schauspielhauses.