Chornobyldorf – ein Blick zurück und einer nach vorne

Chornobyldorf – ein Blick zurück und einer nach vorne

Michaela Preiner

Foto: ( (c) Anastasiia Yakovenko eSel )

19.

September 2022

Die Bedrohung der Erde durch den technischen Fortschritt, hybride Menschenformen, die sich in Kunstgattungen üben, die von ihnen dennoch niemals beseelt werden können, das aber noch viel mehr beinhaltet „Chornobyldorf“. Das Stück ist neben aller künstlerischer Intention auch ein starkes Europa-Bekenntnis.

Im Dunkel des Saales wird eine Männerstimme hörbar. Sie erzählt davon, dass das Gesprochene eigentlich das Ende eines Briefes sei; eines Briefes, der nie abgeschickt wurde, aber dennoch einmal geschrieben werden wird. Kurz darauf wird seine Stimme von einer Frau visuell begleitet, deren Portrait auf einem Video erscheint. Während der Mann spricht und auf Ukrainisch ein längeres Gedicht rezitiert, beginnt sie, sich mit lautmalerischen Geräuschen in einer unbekannten Kunstsprache auszudrücken. Obwohl man – wenn man nicht Ukrainisch spricht – weder dem Inhalt der Männerstimme folgen kann noch genau weiß, was die Frau sagen will, bekommt man ein Gefühl, dass das, was hier vermittelt werden soll, aus Erfahrungen resultiert, die schmerzhaft sind.

Tatsächlich ist der Titel „Chornobyldorf. Archeological opera“ bereits ein Hinweis darauf, dass eine Referenz dieser neuen Oper die Tragödie von Tschernobyl ist. Die Kombination mit dem Substantiv-Anhang ‚dorf‘ kam zustande, da das Ensemble zu Beginn der Arbeit Zwentendorf und seine Umgebung besuchte. Das nie in Betrieb genommene Kernkraftwerk in Österreich und jenes in der Ukraine, dessen Baubeginn 1970 war, also noch vor der Unabhängigkeit des Landes, veranlasste die ukrainischen Kulturschaffenden zur Idee einer globalen Sichtweise auf das Thema Kernkraftwerk und dessen dystopische Auswirkungen; unabhängig davon, wo diese Meiler stehen, stellen sie eine grenzübergreifende Bedrohung der Menschheit dar.

Die Oper spielt zwischen dem 23. – 27. Jahrhundert, in einer Zeit, in der wir längst Geschichte sind und verschwunden sein werden. Sie geht von der Annahme einer weltumspannenden Katastrophe aus, in der sich die Überlebenden erneut ihrer Identität bewusst werden müssen. In einer Zukunft, in der neue Rituale erschaffen werden und dennoch all das, was zwischenmenschlich in Gesellschaften abläuft, bewusst oder unbewusst auf historische Vorbilder zurückgreift.

Die sieben Kapitel, die ohne Pause, aber doch erkennbar, ineinander übergehen, tragen die Überschriften: Elektra, Dramma per musica, Rhea, The little Akkorden girl, Messe de Chornobyldorf, Orfeo ed Euridice sowie Saturnalia. Damit greifen die beiden Komponisten Roman Grygoriv und Illia Razumeiko einerseits große griechische Mythen auf, die zum primären Nährboden der europäischen Kunstproduktion wurden. Andererseits verweisen sie direkt auf slawische Musiktraditionen. Diese künstlerische Verzahnung, in der unterschiedliche musikalische Stilmittel verwendet werden, macht eines klar: Die Menschen, die hier auf der Bühne stehen und all jene, die an dieser Oper arbeiteten, verstehen sich zutiefst Europa zugehörig. Die aktuelle Diskussion, die Ukraine in die EU aufzunehmen, wird in den historischen Bezügen, die hier hergestellt werden, quasi kulturhistorisch legitimiert. Aber auch das, was Europa ausmacht, die Individualität der Länder und ihre darin befindlichen, unterschiedlichen Ethnien, kommt vehement zum Ausdruck. Immer wieder werden historisch-musikalische Zitate – umgewandelt in moderne Klangbilder – von bosnien-herzegowinischen und ukrainischen Volksweisen abgelöst. Klage- aber auch Hochzeitslieder werden dafür angestimmt und in ihrer typischen Melodieführung gesungen. Unisono-Linien trennen sich in eine kurz hörbar werdende Mikrotonalität, die jahrhundertealt ist und dennoch neu und frisch klingt. Sich davon ablösende, schon beinahe rein empfundene Sekunden, sowie anschließende Septsprünge verstärken den emotional-schmerzlichen Ausdruck. Mahler’sche Akkordabfolgen, chorisch gesungen, und eine Fuge von Bach, die außer Rand und Band zu geraten scheint, legen eine musikhistorische Spur in jenen Kern Europas, der vom Barock bis ins vergangene Jahrhundert im wahrsten Sinn des Wortes tonangebend war.

Auf all dies trifft eine Füllte von neuem Klangmaterial: schräge Saitenklänge, unterschiedlichste, zum Teil stark akzentuierte Rhythmen, gespielt auf einem Percussion-Konstrukt, das aus verschiedenen Fundstücken zusammengesetzt wurde (Evhen Bal), sowie elektronische Ergänzungen, die Windstimmungen oder ein bedrohliches, undefinierbares Dröhnen hörbar machen.

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Chornobyldorf (Foto: Anastasiia Yakovenko eSel)

Eine rasche Abfolge von Bildern, unterstützt durch Video-Einspielungen, auf welchen fragile Menschenfiguren in ukrainische Landschaften zu sehen sind, häufige Personen- und Kostümwechsel sowie die Erzeugung von emotionalen Wechselbädern, bewirken eine Fülle von theatralen Ereignissen, die wie ein Tsunami über einen schwappen. Zugleich wird man in das zum Teil somnambule Geschehen derart sogartig hineingezogen, dass es einem schwerfällt, die kognitiven Fähigkeiten über die eigenen, starken Empfindungen zu stellen.

Die beinahe surreal, zugleich jedoch hochromantisch anmutende „Krönung“ einer jungen Akkordeonistin, unterstützt durch eine den Raum erweiternde Videoeinspielung, wird von religiösen Klängen und Bildern abgelöst. Ein passendes, in einem klassisch-harmonischen Gefüge gesungenes Agnus Dei wird durch ein ebensolches, jedoch explosiv-punkartiges unterbrochen. Schockartig befindet man sich im Hier und Heute, in einem Zustand, in dem Romantik keinen Platz mehr findet. Die Grablegung von Euridice, das Lamento ihres Orpheus wird in einer bildstarken Choreografie umgesetzt, in welcher die Nacktheit der Beteiligten besonders ihre Zerbrechlichkeit und ihr Schutzbedürfnis hervorhebt. Den Ausklang bildet eine saturnalische Orgie, um ein auf den Kopf gestelltes Papp-Portrait von Lenin.  Alles, was sich an unaussprechbaren Gefühlen und Leid zuvor angesammelt hat, alles, worüber man schwer sprechen kann, löst sich in dieser wilden, ausgelassenen Szene auf, in welcher man selbst gerne mittanzen würde. Dass das Ende mit seinem Windgeräusch an den Beginn der Produktion erinnert, mag wohl einen ewigen Kreislauf symbolisieren. Einen Kreislauf, in dem das existenziell Menschliche letztlich immer und immer wieder gelebt, aber auch neu erfunden wird, ja erfunden werden muss. Wenn nichts mehr so ist, wie es einmal war, dann muss auf das zurückgegriffen werden, was tief im Menschsein schlummert, aber auch das, was ihn als Lebewesen auf der Erde auszeichnet. Er ist ein Wesen, das sich ständig neu formiert und anpasst und dennoch seine vermeintlich gekappten Wurzeln in sich trägt.

Niemand der Künstlerinnen und Künstler hätte sich, als die Oper entstand, träumen lassen, dass so viel davon, was in ihr gezeigt wird, einen aktuellen Bezug erhalten würde. Die Kriegsgräuel und das Leid, das derzeit in der Ukraine herrschen, schwingen in der Rezeption im Moment stark mit. Die Bedrohung der Erde durch den technischen Fortschritt, hybride Menschenformen, die sich in Kunstgattungen üben, die von ihnen dennoch niemals beseelt werden können, auch das beinhaltet „Chornobyldorf“. Es ist zu wünschen, dass die Oper nach ihrer Uraufführung in Rotterdam und der zweiten Station im WUK in Wien, anlässlich der ‚Musiktheatertage Wien‘, noch viele weitere Stationen erleben darf. Und es ist zu wünschen, dass das Ensemble dabei vom Publikum übermittelt bekommt, dass eine Arbeit wie diese gerade in schwierigen Zeiten eine ist, die gebraucht wird, mehr noch: auch zum Überleben beiträgt. Angesichts der Brutalität der Geschehnisse meinte beim Publikumsgespräch eine Sängerin, sie sei nicht mehr davon überzeugt, dass das Theater etwas bewirken könne. Zu sehr stünde das Erlebnis von Gewalt, die alles verdrängt, dieser Idee diametral gegenüber.

Die Aussage „vita brevis, ars longa“ möge ihr und dem Ensemble einen kleinen Shiftwechsel ermöglichen. Sie möge ihnen einen Hoffnungsschimmer bieten, dass die Kunst das Leben überdauert und somit auch diese, ihre Produktion. Sie wird späteren Generationen einmal – in welcher Art und Weise auch immer – zur Verfügung stehen und einen Einblick in jene aktuelle Gegenwart bieten, die für die ukrainische Bevölkerung, aber auch alle anderen, leidenden Beteiligten, so schwer zu ertragen ist.

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