Zuerst die Analyse, dann der Tanz

Zuerst die Analyse, dann der Tanz

Michaela Preiner

Foto: ( )

30.

Juli 2017

Viele Choreografien nehmen direkten Bezug auf den Rhythmus und den musikalischen Ausdruck des jeweiligen Musikstückes. „A Love supreme“ von De Keersmaker und Sanchis ist da anders.

Das Festival Impulstanz lud Anne Teresa De Keersmaeker und Salva Sanchis mit der Compagnie Rosas ins ausverkaufte Volkstheater. Ihre ursprünglich für zwei Personen angelegte Choreografie „A Love Supreme“, nach dem gleichnamigen Album von John Coltrane, setzten die beiden für vier Tänzer neu auf.

Am Beginn betreten José Paulo dos Santos, Bilal El Had, Jason Respilieux und Thomas Vantuycom die Bühne und beginnen ganz ohne Musik zu tanzen. Ungewöhnlich, erwartet das Publikum doch Coltranes legendäre Komposition aus dem Jahr 1965. Dafür hatte er sich fünf Tage Auszeit von seiner Umwelt genommen und ein Werk geschaffen, dass seiner Zeit weit voraus war.

Vier Instrumente – vier Tänzer

Die Besetzung – Saxophon, Bass, Schlagzeug und Piano, forderte ein Team aus gleichrangigen Musikern. Denn obwohl Coltrane einige wichtige Solopassagen für sein Tenorsaxophon vorgesehen hatte, konnten auch seine Kollegen McCoy Tyner am Klavier, Jimmy Garrison am Bass und Elvin Jones am Schlagzeug ihr solistisches Können vollends einbringen.

Um die nur über knapp eine halbe Stunde dauernde Einspielung auf ein bühnentaugliches Mindestmaß auszudehnen, griffen De Keersmaeker und Sanchis zu einem Trick. Sie stellten – wie angedeutet – der musikalischen Wiedergabe eine stumme Tanz-Szene voran, die sich erst am Ende erklären ließ. Der Choreografie der vier Männer, die sich dabei sowohl synchron als auch in kleinen eigenen Parts  bewegten, folgte ein Solo.

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Rosas_A Love Supreme (c) Anne Van Aerschot

Die Visualisierung eines kreativen Prozesses

Dabei steht Thomas Vantuycom lange regungslos, blickt bisweilen ins Publikum und durchmisst dann die Bühne, in dem er diese nachdenklich in alle möglichen Richtungen hin beschreitet. An manchen Stellen hält er inne, macht die eine oder andere, kurze Bewegung, um dann wieder regungslos zu verharren.

Wenn man um die Entstehungsgeschichte des Albums weiß, ist es nicht schwer, diese Szene zu interpretieren. Vor allem dann, wenn sich in den darauffolgenden Choreografien herausstellt, dass der Tänzer Coltranes Saxophonpart tanzt. Damit wird klar, dass De Keersmaeker und Sanchis mit dem Solo den Prozess der kreativen Phase verdeutlichten, in welcher Coltrane, abgeschlossen von der Umwelt, ganz für sich allein sein Konzept für „A Love supreme“ erarbeitete.

Es wurde viel darüber geschrieben, dass das Stück für Coltrane einen religiös konnotierten Hintergrund aufweist. Um die Choreografie aber zu verstehen, bedarf es dieses Wissens nicht. Denn De Keersmaeker und Sanchis griffen auf ein sehr simples, aber effektvolles Konzept zurück. Sie schlüsselten jedem Tänzer ein Instrument zu, das sie während der Performance verkörperten. Hat man diese Idee einmal begriffen, wird die Komposition von Coltrane durch ihre Visualisierung kristallklar. Wer ein wenig Kombinationsgabe und ein gutes Auge hatte, konnte auch ein kleines Rebus entdecken – den weißen Streifen auf der schwarzen Hose, der jenen Tänzer markierte, der die Rolle des Piano-Parts einnahm. Ebony and Ivory hatten Paul McCartny und Steeve Wonder die Schwarz-Weiß-Symbolik der Klaviertasten einst besungen.

Die sichtbare Partitur

Die jeweils agierende Hauptstimme tanzt dabei im Vordergrund. Die Begleitstimmen verhalten sich – je nach Notierung – entweder synchron oder werden ebenfalls völlig individuell ausgeformt. Dabei kann man wunderbar jene Partiturteile erkennen, die komplett ausnotiert wurden und in denen sich die vier Stimmen – wie zum Beispiel beim Thema selbst – aufeinander harmonisch beziehen.

Drehungen in verschiedensten Varianten um die eigene Achse, das Hochstrecken und Ausbreiten der Arme sind dabei immer wieder kehrende, stilistische Merkmale. Ein sich Zusammenballen und wieder Auseinanderdriften der Gruppe, ebenfalls.

Besonders der letzte, vierte Satz, den Coltrane als Gebet verstanden wissen wollte, weist eine ganze Reihe von Figuren auf, in welchen die vier Tänzer Körperkontakt haben. Darin zeigen sie eine sich in der Waage haltende Balance von Zug und Gegenzug. Dafür halten sie sich in verschiedenen Formationen an den Händen und legen ihr Gewicht in die entgegen gesetzte Richtung ihrer Partner. Dadurch entstehen – nicht nur wie es in der Musik zu hören, sondern eben auch zu sehen ist – kurze Schwebezustände. In ihnen gibt es kein Oben und kein Unten, keinen Leader und keine Begleitung.

Dieser letzte, besonders ruhige Satz ist zugleich auch jener, welcher am Beginn der Produktion stand. Zu einem Zeitpunkt, da man die einzelnen Bewegungszuschreibungen für die einzelnen Instrumente noch nicht wissen konnte. Es ist jener Satz, in dem Coltrane den Musikern keine Improvisationen zugestand, was in der Choreografie durch den Zusammenhalt der Tänzer klar sichtbar wird.

An dieser Stelle wird auch deutlich, dass das theoretische Verständnis für die Choreografie zu „A Love supreme“ erst mit der Analyse von Coltranes Musik selbst einhergeht.

Begeisterter, lang anhaltender Applaus für eine Arbeit, die Tanz und Musik gleichermaßen zu ihrem Recht kommen lassen.

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