Europa, was es war und was es ist. Der Osten.

Europa, was es war und was es ist. Der Osten.

Unter der Gesamtleitung von Ed. Hauswirth, Johanna Hierzegger, Monika Klengel und Helmut Köpping erzählt das vierköpfige Ensemble – Juliette Eröd, Lorenz Kabas, Monika Klengel und Rupert Lehofer – seine Eindrücke von einer Reise in den Osten. Nach Warschau / Treblinka ging es, nach Cluj, Wrocław und Ostrava zu „Blind Dates“. Begegnungen, die geplant und nicht geplant waren, um sich dem östlichen Teil Europas auf ganz individueller Ebene zu nähern. Köpping – der Fünfte auf der Bühne, agiert als Fake-Pianist und Fake-Gitarrist und lässt dabei das Publikum in der Illusion, einer musikalischen Live-Begleitung zu lauschen. Solange, bis das Klavier zu rauchen beginnt und er neben dem weiterlaufenden Bühnengeschehen alle Hände voll zu tun hat, das Rauchmonster zu bändigen.

Blind date Ost • Theater im Bahnhof Graz (Foto: Johannes Gellner)

Blind date Ost • Theater im Bahnhof Graz (Foto: Johannes Gellner)

Perücken mit feuerroten Haaren, die rund um weit in den Hinterkopf ragende Glatzen sprießen, lassen alle als clowneske Gestalten erscheinen. Der Anblick bietet viele Interpretationsmöglichkeiten, die eindringlichste davon wahrscheinlich ist jene, dass das, was erlebt und aufgearbeitet wurde letztlich nicht mehr als eine erzählte Clownerie ist, nicht mehr als Treppenwitze im Leben jeder einzelnen Person. Multipliziert man diese Erlebnisse jedoch mit einer Zahl x wird klar: Was ein Häufchen Menschen aus Österreich im Osten und danach bei der Nachbearbeitung in Graz erlebt hat, worüber sie sich austauschten, was für sie unverständlich und was unerklärlich war, ist stellvertretend für unsere Gesellschaft zu verstehen. Zumindest für jenen Teil, der in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts geboren wurde und bereits auf mehrere Lebensjahrzehnte zurückblicken kann.

Blind date Ost • Theater im Bahnhof Graz (Foto: Johannes Gellner)

Blind Date Ost • Theater im Bahnhof Graz (Foto: Johannes Gellner)

Dennoch gelingt es, einzementierte Standpunkte zu vermeiden, das aktuelle Lebensgefühl mehrerer Generationen streiflichtartig zu erhellen und auch in jene Vergangenheit zurückzuschauen, die Europa bis heute schwer belastet. Rupert Lehofer ist derjenige, der offensiv jene Orte bereist hat, an welchen die Nationalsozialisten tausende Menschen ermordeten. Seine Aussage „das Weinglas habe ich nicht bedacht“, einer der letzten Sätze des Stückes, subsumiert sowohl jenes emotionale als auch reflexive Dilemma, die Dualität des Bösen und des Humanen im Menschen nicht gleichzeitig erfassen zu können. Bevor man jedoch mit ihm in den Abgrund der europäischen Seele blickt, darf man öfter herzlich lachen.

Wenn Monika Klengel ihr Date nachahmt, einen untersetzten Galeristen aus Ostrava, der sie gleich dreimal versetzt hat, klopft man sich vor Freude auf die Schenkel. Ebenso bei der Performance von Lorenz Kabas, der den Spuren des Theatermachers und Schauspielers Jerzy Grotowski in Wrocław (Breslau) folgte. Dabei genügt ihm ein unautorisierter Griff eines Kollegen zum Gemeinschaftskühlschrank, um sich bis auf die letzte Emotion zu verausgaben und schließlich ausgepowert am Boden liegenzubleiben. Juliette Eröd macht deutlich, dass auch noch ihre Generation an der Judenverfolgung zu tragen hat. Die Kasernierung und Auslöschung ihrer Ahnen sublimiert sie durch Fantasien von imaginierten Gasexplosionen.

Blind date Ost • Theater im Bahnhof Graz (Foto: Johannes Gellner)

Blind date Ost • Theater im Bahnhof Graz (Foto: Johannes Gellner)

Naturalistische Arbeiterskulpturen, eine Opernaufführung von My fair Lady in Cluj auf Polnisch, monumentale Denkmäler, eine Fahrt durch ein verschneites Land – all das, worüber erzählt wird, wird am Schluss auf eine Leinwand projiziert und erlebt dadurch einen Transfer vom Gedachten ins Erschaute. Wunderbar, wie rauschknarzend sich die aufrollbare Projektionsfläche mehrfach gebärdet und sich damit zugleich vom benutzten Objekt zu einem sich aktiv einbringenden Subjekt verwandelt. Herrlich auch die Idee, eine Videosequenz aus einem Restaurant parallel durch das Ensemble mitspielen zu lassen. Heike Barnard, Johanna Hierzegger, Christina Helena Romirer und Helen Thümmel trugen zur in mehrerlei Hinsicht passgenauen Ausstattung bei.

Blind date Ost • Theater im Bahnhof Graz (Foto: Johannes Gellner)

Blind date Ost • Theater im Bahnhof Graz (Foto: Johannes Gellner)

„Die Wahrheit lässt sich dramaturgisch nicht darstellen“ akklamiert Lehofer schon kurz nach Vorstellungsbeginn und tatsächlich kann man diesen Satz am Ende nur doppelt unterstreichen. Denn was ist Erdachtes, was real Erlebtes, was Gefühltes überhaupt und welchen Wert hat dies alles? Für wen hat welches Geschehen welches Gewicht, welche Auswirkung und können wir auch nur ansatzweise die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert verstehen? Juliette Eröds Hannah Arendt-Imitation, hoch oben auf einem Kühlschrank sitzend – auch diese Szene ist voll von sich widersprechenden Aussagen und damit zugleich jene eingedampfte Wirklichkeit, die uns an unserem Leben gleichermaßen verzweifeln und lachen lässt.

„Blind Date Ost – Europatrilogie Teil 1“ gehört zum Sehenswertesten, was in dieser Saison in Österreich an einer Theaterbühne gezeigt wurde, hat aber den Nachteil, dass es Suchtcharakter besitzt. Teil 2 und 3 werden vom Publikum wohl auch ohne das Zuckerl eines Gratis-Getränkes besucht werden, das man erhält, wenn man allen drei Aufführungen beigewohnt hat.

Die Vampirin, das zu bekämpfende Wesen

Die Vampirin, das zu bekämpfende Wesen

„Carmilla“ wurde vom irischen Schriftsteller Joseph Sherida le Fanou verfasst und in einer Novelle 1872 veröffentlicht. Das einzig Interessante an der aus heutiger Sicht flachen Geschichte ist die Tatsache, dass mit der Figur von Carmilla der erste weibliche Vampir erfunden worden war. Dass sich die Vorgänge in einem abgelegenen steirischen Schloss ereigneten, ist nicht dem Ideenreichtum des Grazer Ensembles entsprungen, sondern stammt tatsächlich aus der Feder von Sherida le Fanou und darf wohl als Ausgangs- und Anknüpfungspunkt für die Aufnahme in den Spielplan angesehen werden.

"Carmilla" Schauspielhaus Graz (Foto: Lex Karelly)

„Carmilla“ Schauspielhaus Graz (Foto: Lex Karelly)

Unter der Regie von Luise Voigt schafft das Ensemble das Kunststück, aus einer literarischen Vorlage ohne nennenswerte Bedeutung – sieht man vom Einfluss für Stoker ab – ein dramatisches Ereignis mit immerhin mehreren Interpretationsebenen kreiert zu haben. Der darin verfolgte feministische Ansatz macht Sinn. Er weist auf tradierte Geschlechtsmuster hin, die zugleich hinterfragt werden. Möglich ist dies durch filmisch festgehaltene Interviews mit den Schauspielerinnen und Schauspielern, die über ihre Rolle und ihr Nachdenken über ebendiese Auskunft geben.

Maßgeblich tragen Maria Strauch mit ihrer Bühne und den Kostümen, sowie Frederik Werth und Nicolas Haumann mit der Videoarbeit und Musik zum Gelingen des Abends bei. Denn es sind diese Mittel, welche das Geschehen bühneninteressant machen.

Die in einem Schloss lebende Familie, der Vater, seine 19-jährige Tochter Laura, eine Gouvernante und eine Hauslehrerin, wird durch Carmilla erschüttert, die aufgrund eines Unfalles in der Nähe des Anwesens aufgenommen und gesund gepflegt wird. Bald schon entwickelt sich eine erotische Anziehung zwischen der Tochter und Carmilla, die von der jungen Frau nicht wirklich eingeordnet werden kann. Vielmehr werden die Dorfoberen – der Arzt und der Pfarrer hinzugezogen, um diese Gefühlsverirrungen zu unterbinden.

Annette Holzmann kommt als Carmilla ohne Text aus, wirkt jedoch als einzige Frau authentisch und nobel. Anna Klimovitskaya bleibt als Laura das gesamte Stück über naiv und manipulierbar. Thomas Kramer erheitert gleich bei seinem ersten Auftritt als braun gebräunter Landarzt mit gebleichtem Gebiss das Publikum. Željko Marović als General mit umgeschnalltem Plastik-Sixpack, der sich von Laura Onkel nennen lässt, mimt einen lächerlichen Macho, der dennoch mit seinem Machtgehabe die Frauen als Sexpuppen tanzen lässt. Marielle Layher und Sarah Sophia Meyer als Gouvernante und Hauslehrerin sind mehr als nur weibliche Staffagen. Sie erklären dem Publikum abseits des Originaltextes das Aufkommen von Vampir-Erzählungen und deren Ursprung im 18. Jahrhundert. Marielle Layher bringt in ihrer Videosequenz außerdem einen wichtigen Betrachtungsaspekt ein. Das Gefühl, dass offenbar jene Zeit vorbei ist, in welcher man dachte, mit seinem Tun zu einer besseren Zukunft beitragen zu können, benennt sie deutlich.

"Carmilla" Schauspielhaus Graz (Foto: Lex Karelly)

„Carmilla“ Schauspielhaus Graz (Foto: Lex Karelly)

Es sind nicht nur die grellen Kostüme im Stil der kunststoffschimmernden 70-er-Jahre und die übertriebenen Perücken, welche die Figuren überzeichnen. Ihre Stimmen werden elektronisch verändert und verstärkt, erhöht oder auch tiefer gesetzt, sodass sie wie mechanisiert klingen. Eine Persiflage auf die Entstehung von Softpornos, in der ausschließlich die vermeintliche Lust der Frauen videografiert wird, steht im Gegensatz zu einer etwas zu lange geratenen Liebes-Szene, untermalt mit sanften Klängen. In dieser geben sich alle Agierenden gemeinsamer Lustempfindungen hin, teilen ihre erotischen Freuden miteinander, ohne dabei jedoch platt und aufdringlich zu wirken.

"Carmilla" Schauspielhaus Graz (Foto: Lex Karelly)

„Carmilla“ Schauspielhaus Graz (Foto: Lex Karelly)

Die Motivation, warum Carmilla letztlich als Vampir bezeichnet wird und als solcher gepfählt werden muss, erhält in der Inszenierung eine plausible Grundlage. In einem Solo-Auftritt des Vaters – Sebastian Schindegger – erzählt er dem Publikum in einer verballhornten Kunstsprache von seinem Besuch bei der von ihm Begehrten. Dieser bringt ihm jedoch nicht, wie erhofft, ein sexuell befriedigendes Abenteuer, sondern vielmehr eine Zurückweisung, der er mit erkennbaren Beschimpfungen antwortet. Die Gehirnwäsche, die Laura sowohl vom Pfarrer als auch vom Arzt erhält, inklusive eines nur angedeuteten sexuellen Übergriffes, der von ihr komplett verdrängt wird, tun ein Übriges. Sie bewirken, dass auch die junge Frau von der Richtigkeit überzeugt ist, dass Carmilla als Vampir getötet werden muss.

Die Inszenierung lebt von den Ideen, die sich bei der Erarbeitung des Textes ergaben, wie zum Beispiel jener extrem komischen Szene, in welcher die „Textsicherheit“ von Schindegger nicht und nicht klappen will. Erst, als der Satz im breitesten Steirisch von ihm gesprochen wird, hat er damit Erfolg.

Eine besondere Rolle ist Dominik Puhl zugedacht. Er agiert nicht nur als Pfarrer mit aus der Hose gesprungenem Plastikpenis, den es zu geißeln gilt. Seine Aufgabe als Conferencier ist ihm auf den Leib geschnitten. Seine letzten Sätze – eine Hommage, zugleich aber auch eine in Domina-Manier ausgeführte Beschimpfung des Schauspielhauses selbst, entschädigen für so manch plattes Geschehen davor. Besonders erwähnenswert sind Helga Gräff, Nazar Mykytiuk, Jonathan Punguil und Laura Vincer, die als Blasmusikensemble dem Geschehen ein ordentliches Lokalcolorit beifügen.

Ein Abend, bei dem das Ensemble und die Bühnentechnik zum größten Teil wettmachen, was der Ursprungstext vermissen lässt.

Größenwahn und Selbsterniedrigung

Größenwahn und Selbsterniedrigung

Es gibt sie tatsächlich. Jene kleinen Inszenierungen, die ohne großes Brimborium durch die Welt reisen und egal, wo sie landen, das Publikum in jedem Land in ihren Bann ziehen.

Eine solche Inszenierung ist beim Festival der „wortwiege“ in den Kasematten in Wiener Neustadt gelandet. „fragil / fragile“ lautet das Motto dieser Saison und trifft damit auch den Kern des Stückes „The Anthology“. Smadar Yaaron und Moni Yossef vom Acco-Theater in Israel schaffen es, die Menschen in ihrem Salon über eine Stunde lang zu fesseln. Dabei darf auch gelacht werden, wenngleich einem das Lachen manches Mal auch im Hals stecken bleibt.

"The Anthology" zu Gast beim wortwiege Festival in Wiener Neustadt. (Foto: Julia Kampichler)

„The Anthology“ zu Gast beim wortwiege Festival in Wiener Neustadt. (Foto: Julia Kampichler)

Smadar spielt eine feine, alte, jüdische Dame am Klavier, die sich zu ihren Erzählungen über Gott und die Welt selbst musikalisch begleitet. Der spritzig-witzige Eingangsmonolog versteht sich in der Replik als das Konstrukt einer Identität, die aufgrund ihrer Zerbrechlichkeit und ihrer Beschädigung erhöht werden muss. Ohne diese Erhöhung wäre diese Frau längst untergegangen und so lacht man anfangs zwar über größenwahnsinnige Auslegungen der jüdischen Kultur, versteht aber erst nach geraumer Zeit, warum diese für die alte Dame pure Überlebensstrategie ist.

Smadar spricht in einem Sprachen-Misch-Masch in Hebräisch, englisch und deutsch über die Entstehung der Welt und dass das Judentum schlichtweg als Quelle allen Seins anzusehen ist – absurderweise auch jener des Blues oder Tangos. Sie berichtet über die Musik als Überlebensmittel genauso wie den Alkohol oder Tabletten, ohne welche sie schlichtweg ihre Bodenhaftung verlieren würde. Eine Bodenhaftung, die beim näheren Hinsehen jedoch gar keine ist. Aber die Geschichte dreht sich auch um eine Mutter-Sohn-Beziehung, die ungesünder nicht sein könnte. Grund dieses Missverhältnisses ist die ehemalige Internierung der alten Dame im KZ Auschwitz, dessen Trauma sie mit sich trägt und zu allem Überfluss auf ihren Sohn überstülpt. Dieser – auch schon 67 Jahre alt – erhält erst im zweiten Teil des Stückes seinen großen Auftritt und mischt sich sofort unter das Publikum, um sich mit ihm zu unterhalten. So sphärisch-künstlerisch seine Mutter die erste Halbzeit gestaltete, so gegensätzlich und direkt geht es im Anschluss bei ihm zu, der mit einer Gasmaske auf dem Kopf von Beginn an eine groteske Erscheinung ist.

In diesem psychologischen Kampf ums nackte Überleben, den die beiden Charaktere zeit ihres Lebens offenkundig spielen müssen, tun sich Abgründe auf. So tiefe, dass jegliche Political Correctness von Haus aus zum Scheitern verurteilt ist. Gerade aber die unverblümten, jedoch in charmante Worte verpackten Grauslichkeiten sind es, die verdeutlichen: Das, was einem Menschen in seinem Leben angetan wird, hinterlässt Spuren. Da kann er oder sie noch so kultiviert darüber hinwegleben wollen – das ihm oder ihr Böse zugefügte, bricht sich an gewissen Stellen dennoch seine Bahn und vergiftet die Nachkommen gleich mit.

Nichtsdestotrotz sind auch unerwartete, humorige Szenenwechsel zu erleben, dann aber auch zutiefst emotionale Ausbrüche. In einem solchen verwandelt sich der 67-jährige Mann in einen kleinen, wimmernden Jungen. Vom Grauen gepackt, von seiner Familie entfernt, knapp am Verdursten, brüllt er auf dem Klavier stehend seine Ängste heraus. Ob sich dieses Leid im KZ oder aktuellen Kampfgebieten abspielte oder abspielt, ist letztlich egal. Man wird Zeuge eines verzweifelten Menschenbündels, das völlig hilflos ist und sich nicht wehren kann. Weder gegen die Gewalt von außen, noch gegen die psychische seiner Mutter.

Smadar Yaaron und Moni Yossef schaffen das Meisterstück, mit intensivem Schauspiel, an dem man hautnah teilnimmt, tief in seelische Abgründe blicken zulassen, ohne anzuklagen. Vielmehr passiert im Laufe der Vorstellung eine Täter-Opfer-Umkehr, die fasziniert und abstößt zugleich. Das Aufplatzen von seelischen Wunden, die Sichtbarkeit von Wahnsinn, der nicht selbst verschuldet ist, sondern in den man getrieben wird, all das ist in einer Virtuosität umgesetzt, die unglaublich fasziniert.

Der Applaus, das Überlebensmittel jeder Schauspielerin und jedes Schauspielers, diese Anerkennung vom Publikum versagen sich die beiden. Was jedoch auf den ersten Blick als für sie bedauernswert erscheint, erweist sich schon wenige Augenblicke später, nachdem man den Raum verlassen hat, als psychologischer Rucksack, den sie unbemerkt dem Publikum umgehängt haben. Nicht klatschen zu dürfen und sich leise davonschleichen zu müssen, gleicht in seinem Gehabe einer Geste des Kopf-Einziehens, Schämens und Schuldbekenntnisses. Wie immer wieder postuliert wird, soll man nicht von Kollektivschuld sprechen. Wäre es aber nicht gerecht, Schuldgefühle genauso über Generationen hinweg weiterzutragen, wie auch Traumata an die kommenden Generationen weitergegeben werden?

„The Anthology“ ist nicht nur schauspielerisch von erster Güte. Auch der Inhalt, so einfach er auf den ersten Blick auch erscheinen mag, lebt von unglaublich vielen Ebenen, die jedem denkenden Menschen zwangsläufig eine ganze Reihe von Fragestellungen aufdrängen muss. Anna Maria Krassnigg bescherte dem Publikum mit der Einladung des israelischen Duos eine glanzvolle Premiere gegen Ende des Festivals in den Kasematten in Wiener Neustadt, das am 24. März 2024 endet.

Recht muss nicht zwangsläufig Gerechtigkeit bedeuten.

Recht muss nicht zwangsläufig Gerechtigkeit bedeuten.

Vor vier Jahren wurde das One-woman-Stück „Prima facie“ der Autorin Suzie Miller in Sydney uraufgeführt. Seither erlebt es einen Siegeszug in vielen Ländern rund um die Welt. Zu verdanken ist dieser Erfolg der intelligenten Geschichte, die zugleich einen Zeitnerv trifft.

Die junge Londoner Rechtsanwältin Tessa vertritt in Strafprozessen häufig Männer, die der Vergewaltigung bezichtigt werden. Durch und durch vom angelsächsischen Rechtssystem überzeugt, fasst Tessa ihre Verteidigungsreden als sportliche Herausforderung auf und gewinnt damit häufig. Die aus ärmlichen Verhältnissen stammende Frau muss jedoch eines Nachts am eigenen Leib erfahren, was es heißt, vergewaltigt zu werden.

Luisa Schwab, Anna Rausch, Otiti Engelhardt (c) Lex Karelly

Luisa Schwab, Anna Rausch, Otiti Engelhardt (c) Lex Karelly

Obwohl sie sich bewusst ist, dass die Anzeige, die sie daraufhin bei der Polizei macht, für sie unter Umständen nicht positiv ausgehen wird, wagt sie dennoch diesen Schritt. Auf den Prozess muss sie über eineinhalb Jahre warten. Alleine das schon eine ungeheure Zumutung für eine traumatisierte Person. Es ist jedoch ihr Gewissen, dem sie folgen muss, um sich – egal ob der Prozess für oder gegen sie entschieden wird – im Spiegel weiterhin ansehen zu können. Letztlich tritt jedoch der von ihr befürchtete Supergau ein. Der Vergewaltiger, ein ehemaliger Arbeitskollege, wird freigesprochen. Nicht zuletzt spielt dabei sein wesentlich höherer sozialer Status reine Rolle. Damit zeigt Miller auch ein Machtgefälle auf, das Frauen in vielen Fällen von Haus aus zu den Unterlegenen abstempelt.

Unter der Regie von Anne Bader spielt Anna Rausch die Juristin, als ob es kein Morgen gäbe. Mal ist sie mitten im Publikum, dann wieder alleine auf der Bühne, mal wird sie von zwei Alter-Egos unterstützt (Luisa Schwab und Otiti Engelhardt), dann findet sie sich im Kreuzverhör wieder. Die Idee, den Monolog durch zwei weitere Figuren zum Teil aufzuteilen, stammt von der Regisseurin Anne Bader. Auch mithilfe des gelungenen Bühnenbildes von Hannah von Eiff, schafft sie dadurch Räume und Situationen, die über die Form eines starren Monologes hinausgehen.

Anna Rausch (c) Lex Karelly

Anna Rausch (c) Lex Karelly

Immer wieder poppen kleine, enge Kämmerchen mit greller Beleuchtung auf, so in der Szene, in welcher Tessa bei der Polizei ihre Aussage macht. Aber auch das Setting kurz vor dem Gerichtsprozess wird so wiedergegeben. Gerade die Enge und das kalte Licht vermitteln gut einen emotionalen Zustand, der von Angst und Unsicherheit geprägt ist.

Suzie Miller zitiert in ihrem Drama immer wieder geltendes Recht aus Großbritannien, das sich doch erheblich vom österreichischen unterscheidet. Gleichwohl werden Männer auch in unserem Land in vielen Fällen aufgrund mangelnder Beweise freigesprochen. Das Leid, aber auch die Pein von Befragungen, in vielen Fällen auch von Männern durchgeführt, bleibt dort wie da aber immer bei den Frauen.

Die Eindringlichkeit, mit welcher Anna Rausch sowohl die erfolgreiche Karrierefrau als später auch die missbrauchte Kollegin spielt, ist atemberaubend. Im Laufe der Vorstellung wird klar – und das ist das Hauptverdienst der Autorin – dass das geltende Recht für viele Frauen schlicht unbrauchbar ist. Wie man es auch dreht und wendet.

Kluge Regie-Einfälle, bei welchen sich viele Frauen im Publikum direkt angesprochen fühlen, tragen auch zum Erfolg dieses Abends bei. Standing Ovations – und dies nicht bei der Premiere – sind in Graz eher selten. Dem Ensemble von „Prima facie“ ist dies jedoch gelungen.

Schlachtgebrüll anstelle von philharmonischen Klängen

Schlachtgebrüll anstelle von philharmonischen Klängen

In Polen ist er ein Säulenheiliger, im deutschsprachigen Raum ist er jedoch mittlerweile fast unbekannt. Slawomir Mrożek, jener Literat, der in den 70-er Jahren gerne mit kurzen Stücken an einem Abend gleichzeitig mit Einaktern von Vaclav Havel im Burgtheater vertreten war.

Anna Maria Krassnigg, künstlerische Leiterin des Festivals, ist dafür bekannt, in ihr Programm gerne vergessene dramatische Perlen einzubauen. So kommt beim diesjährigen Festival, welches das Motto „fragil / fragile“ trägt, Mrożeks Drama „Schlachthof – Wir essen nur Karfiol“ zur österreichischen Erstaufführung. Die Regie führte die in Russland geborene Ira Süssenbach, die 2012 ihr Heimatland aufgrund der politischen Entwicklung verlassen hat, in Wien ansässig wurde und hier die österreichische Staatsbürgerschaft erhielt.

"Schlachthof" wortwiege (Foto: Victoria Nazarova)

„Schlachthof“ wortwiege (Foto: Victoria Nazarova)

Mit einem Spitzen-Ensemble erzählt sie mit außergewöhnlichen Überraschungsmomenten die absurde Geschichte eines jungen Geigers, der unter der Fuchtel seiner Mutter steht, von der er sich trotz einer sich anbahnenden Liebe, nicht befreien kann. Nico Dorigatti, der schon im Vorjahr im Havel-Drama „Audienz“ das Publikum in den Kasematten von Wiener Neustadt rockte, wird seinem Ruf eines jungen Vollblutschauspielers ohne Angst vor akrobatischen Einsätzen, voll und ganz gerecht. Er mimt jenen jungen Mann, der – welch köstliche Idee – anstelle einer Geige eine singende Säge bedient, dessen musikalisches Talent jedoch begrenzt erscheint. Sein Frevel, einem Konterfei von Niccolò Paganini auf einem Notenbuch einen Schnurrbart aufzumalen, führt zu einer unerwarteten Wendung. Es soll nicht die einzige in diesem Stück bleiben.

Roberto Romeo überzeugt gleich in drei unterschiedlichen Rollen, als despotische Mutter, als Schlachter und als Paganini, der kraft seines neuen Schnurrbartes zum Leben erwacht ist. Mithilfe der Kostüme von Elena Kreuzberger verwandelt er sich in Windeseile in die gänzlich verschiedenen Charaktere. Diese Quick-Changes sind verblüffend und für das Publikum unglaublich unterhaltsam.

"Schlachthof" wortwiege (Foto: Victoria Nazarova)

„Schlachthof“ wortwiege (Foto: Victoria Nazarova)

Saskia Klar präsentiert gleich zu Beginn ihr musikalisches Talent mithilfe eines Kazoos, auf dem sie innigst und mehrstrophig Whitney Houstons „I will always love you“ intoniert. (Musik David Lipp) Unter der Maske von Henriette Zwölfer ist sie, welche in diesem Festival auch als Kreusa in „Medea – Alles Gegenwart“ auftritt, nicht wiederzuerkennen. Nachdem der junge Geiger mithilfe Paganinis Geist eine rasante Genie-Verwandlung hinter sich gebracht hat, erhält Mrożeks Farce einen neuen Dreh.

"Schlachthof" wortwiege (Foto: Victoria Nazarova)

„Schlachthof“ wortwiege (Foto: Victoria Nazarova)

Petra Staduan als Direktorin der ortsansässigen Philharmonie, welcher das Talent des Geigers zu Ohren gekommen ist, verpflichtet ihn zu einem Konzert anlässlich des städtischen Jubiläumsjahres in ihren „Gewölben“. Einer Ortsbezeichnung, die höchst passend zum aktuellen Aufführungsort im mittelalterlichen Wehrbau von Wiener Neustadt ist. Staduans Auftritte erinnern stark an jene von Varieté-Conférenciers, eindringlich, präsent und überzeugend mit einer bewussten, höchst outrierten Bühnen-Präsenz. Kaum hat sich der junge Künstler an seine neue Genie-Aura gewöhnt, holt ihn ein aus dem Nichts auftauchender Schlachter wieder auf den Boden der Realitäten zurück. Mit den Sätzen „Töten ist die Hauptsache! Der Schlachthof ist die Hauptsache!“, „Musik kann es geben, oder nicht!“, entzieht er dem seltsamen Genie im Handumdrehen seine Daseinsberechtigung.

So irritiert der Musiker – angesichts dieser unerwarteten Delegitimation seines Berufes – auch ist, so rasch findet sich die Konzertdirektorin in die neuen Gegebenheiten. Im Handumdrehen greift sie die Idee einer neuen, künstlerischen Darbietungsweise auf und begrüßt nun das Publikum mit der Titulierung „sehr verehrte Organismen, hochverehrte Eiweißsynthesen!“ Dass der Mensch unter solchen Gesichtspunkten nicht mehr moralisch agieren kann und keine Ehre und keinen Glauben mehr besitzt, ist für Mrożek logisch. Auch, dass die Kunst „ausgeheilt“ hat und man nur mehr an der Reinigung der Kultur teilnehmen kann.

In Süssenbachs letztem Bild (Bühne Andreas Lungenschmid) sitzt der Geiger mit entblößtem Oberkörper auf einem metallenen Pferd. Sein Erscheinungsbild erinnert nicht von ungefähr an jene Fotos, die den russischen Präsidenten im Jahr 2009 als kraftvollen Reiter in den Social-Media-Kanälen verewigten. Psychologisch schließt sich der Kreis, denn sowohl Geliebte als auch Mutter lassen sich nach vorherigen Rückholversuchen von seiner Macht und Herrschsucht nicht beeindrucken. Vielmehr erniedrigen sie ihn ein letztes Mal mit ihren Ansichten zu seinem Männlichkeitswahn und zu seiner Nicht-Begabung. Dorigattis finaler Abgang erschreckt mehr noch als die letzte Ansage der Konzertdirektorin an das Publikum, die danach fragt, wer denn in ihrem Realitäts-Spiel über Leben und Tod nun wohl der nächste wäre.

Es ist ratsam, sich auf die Absurdität von Mrożeks Text einzulassen, die auch durch unerwartete Bühnenbildwechsel unterstrichen wird und nicht darauf zu pochen, mit logischen Erklärungen der Geschichte Herr zu werden. Geschrieben unter dem Eindruck des kommunistischen Regimes, zeigt der Autor auf, wie rasch sich unterschiedliche Charaktere einer neuen Gesellschaftsordnung unterwerfen, die zwar menschenverachtend ist, aber in der man dennoch unter der Prämisse der Opportunität sein eigenes Fortkommen bewahren kann.

Erstaunlich ist, dass Passagen darin vorkommen, die zeitgeistiger nicht sein könnten und vom Publikum heute anders verstanden werden als noch vor 40 Jahren. Wenn die Direktorin der Philharmonie darüber spricht, dass die verspeisten Tiere aus den Bäuchen des Publikums hörbar werden, dann ist der Gedanke zur Fleisch-Industrie mit der massenhaften Tötung und zur Propagierung von Veganismus und vegetarischem Lebensstil ad hoc assoziiert.

Das Festival „wortwiege“ erfüllt mit dieser Inszenierung abermals sein Versprechen, auf die Arbeit von jungen Regisseurinnen aufmerksam zu machen, die nach ihrer Ausbildung meist nicht in Österreich verbleiben, sondern rasch ins Ausland verpflichtet werden. Allein das sollte Anlass genug sein, sich alljährlich aufzumachen an jenen Ort, in welchem in alten Gemäuern der frischeste Theaterwind weht, den man sich in Österreich nur vorstellen kann.

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