In Turbogeschwindigkeit vom Businesskostüm in den Schlabberlook

In Turbogeschwindigkeit vom Businesskostüm in den Schlabberlook

„Tür auf, Tür zu“, ein humorvoll-gesellschaftskritisches Stück der deutschen Autorin Ingrid Lausund, erzählt anhand der Geschichte einer Frau um die Fünfzig ein Schicksal nach, das wohl millionenfach vorkommt und dennoch von jeder einzelnen Person ganz individuell wahrgenommen wird. Im Theater Spielraum, bekannt für seine intelligente, stimmige und zeitgemäße Programmierung, hat Peter Pausz die Regie dafür übernommen und eine gekonnte Mischung zwischen starken Emotionen und hoch reflexiven Momenten erschaffen.

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Fotos: Barbara Pálffy


Lausund kickt in ihrem Stück ihre Hauptprotagonistin, Anneliz, ohne Vorwarnung aus dem Arbeitsprozess in die Erwerbslosigkeit. Nicole Metzger ist mit dieser Rolle typgerecht besetzt. In den ersten Szenen noch im Businesskostüm agierend, verwandelt sie sich im Lauf des Spiels letztlich in eine desillusionierte Arbeitslose, eingemummelt in Sternchenfleece, der ihr in ihrem Zuhause noch jene Restwärme vermittelt, die sie bei ihren Mitmenschen komplett vermissen muss. Der Text, der noch zwei weiteren Personen Raum gibt, dreht sich einzig um die Gefühlslage von Anneliz, welche sich im Laufe der Zeit umstandsbedingt verändert. Zu Beginn noch ungläubig, aufmüpfig und kämpferisch, tritt bald eine Panikreaktion ein, in der jedes zielgerichtete Denken unmöglich wird. Unterstützt wird sie kräftig von einem einstimmigen Chor – Johannes Sautner, sowie der „Türe“ – Christopher Korkisch. Letzterer erklärt unablässig, in welchem Zustand sich „die Türe“ gerade befindet: offen oder geschlossen.

Mit „Türe“ wird symbolhaft jener Zustand beschrieben, welcher den Eintritt und die Zugehörigkeit in die Gemeinschaft der Werktätigen ermöglicht oder auch verhindert. Lausunds Text, über viele Strecken im Telegrammstil gehalten, in welchem jene Menschen charakterisiert werden, die durch die Türe ein- und austreten, bietet Johannes Sautner viele Möglichkeiten, sein schauspielerisches Können zu demonstrieren. Innerhalb weniger Augenblicke schlüpft er in unterschiedlichste Rollen, als da exemplarisch wären ein Dr. Leutselig, ein Adi Adrenalin, eine Gerüchteliesl oder eine Frau Spinnefeind. Es macht unglaublich Spaß, ihm bei seinen verbalen Verwandlungskünsten zuzusehen, während Korkisch als Stichwortgeber fungiert und die überbordenden, humoristischen „Chor-Einlagen“ gekonnt kontrapunktisch in Zaum hält.

Herrlich auch jener Einschub, in welchem sich der Chor darüber beklagt, bei dieser Produktion ausgenutzt zu werden, müsse er doch wesentlich mehr Rollen und Agenden übernehmen, als ursprünglich vereinbart. Es sind Hinweise wie diese, welche das Gedankenpendel zwischen dem Theater und unserer alltäglichen Realität gekonnt hin und her schwingen lässt und klarmacht: Auch im künstlerischen Bereich feiert der Neoliberalismus mit seiner Selbstausbeutung nach wie vor fröhliche Urständ.


Nicole Metzger gelingt es scheinbar mühelos, das Publikum auf die Reise ihrer Gefühlsachterbahn mitzunehmen. Dabei kommen bei so mancher Hinterfragung, ob sie denn an ihrer Kündigung nicht selbst schuld sei oder so manchem unausweichlichen Wutausbruch eigene Emotionen und Erinnerungen hoch – ein Verdienst sowohl des Textes als auch dessen Interpretation. Anna Pollack schuf ein reduziertes Bühnenbild mit einem beweglichen Türrahmen und Kostümen, die sowohl die anfängliche Zugehörigkeit zu einer Firmengemeinschaft als auch den sozialen und finanziellen Abstieg im Zustand der Arbeitslosigkeit unaufdringlich dokumentieren. Dass der Glücksmoment eines neuen Jobs nicht ihr, sondern ihrem Freund zuteilwird und es tatsächlich nur Männer sind, welche Anneliz durch die Türe eintreten sieht, verweist auf die Ungleichbehandlung am Arbeitsmarkt. Frauen, die schon viele Jahrzehnte Beschäftigung hinter sich haben und an einem gewissen Punkt erwerbslos werden, müssen sich einer ganzen Reihe von Fragen stellen, warum sie ausgemustert wurden, die Männer überhaupt nicht betreffen. Diesem Problemfeld widmet sich ausgiebig auch das Programmheft, in dem Julya Rabinowich, Christina Focken, Judith Fischer, Rosemarie Schwaiger, Anna Dunst, Nina Vogl und Robert Vallelunga einen Beitrag leisteten. Rosa Kornfeld-Matte ist ein Interview gewidmet, das sie der Wiener Zeitung im Rahmen ihrer Beschäftigung als UN-Expertin für die Wahrnehmung aller Menschenrechte älterer Menschen gab.

Die unerwartete Wende hin zu einem glücklichen Ende, das sich nicht an der Realität orientiert, unter der cineastischer Musikuntermalung von „Chariots of fire“ dramatisch in Szene gesetzt, rechtfertigt Anneliz folgendermaßen: „Das ist die einzige Realität, die ich auf dem Theater akzeptiere.“ Die emotionale Beruhigungspille, die dem Publikum damit verpasst wird, soll jedoch nicht daran hindern, sich Gedanken zu machen, ob und wie man dem inhumanen Arbeitsmarktwahnsinn entgegentreten kann. Die golden schimmernde asiatische Winke-Glücks-Katze, die mehrere prominente Auftritte hat, wird den betroffenen Frauen dabei leider nicht helfen.

Empfehlung: Freundinnen motivieren, Bekannte aus dem Hobby-Umfeld, Schwestern, Mütter, Tanten oder Cousinen, nicht zuletzt Arbeitskolleginnen und all jene Männer, die gerne mit dabei sein möchten und die Vorstellungen im Theater Spielraum besuchen. Gesprächsstoff für das Zusammensein danach wird reichlich geliefert.

Momente voller Leben und Tod

Momente voller Leben und Tod

„So sehen also Menschen aus, die sich an einem Sonntag im Frühling mit dem Tod beschäftigen wollen.“ Dieses knappe Statement, das logischerweise Publikumslacher mit sich brachte, stammt von Carl Achleitner, seines Zeichens Schauspieler und Trauerredner. Engagiert wurde er von Regina Picker für ihr Format „Performance Brunch“ – mit dem Titel „Guade Nocht“, das im Volkskundemuseum Wien Mitte April gezeigt wurde.

Ein Format, das begeistert und verbindet

Das von Picker schon seit 9 Jahren verfolgte Format vereint, was viele ihrer Kolleginnen und Kollegen häufig vergebens versuchen: Performances, Konzerte, Lesungen und kulinarischen Genuss auf höchstem Niveau zugleich anzubieten. Es sind wechselnde Themen, die immer wieder aufs Neue Lust machen, sich zu einem Performance-Brunch zu gesellen. Titel wie „Woiza“ oder „Ondersch“, bewusst dialektal gehalten, senken vom ersten Augenblick an die Hemmschwelle, an diesem Kulturangebot teilzunehmen. So angesprochen vereinen sich Menschen unterschiedlicher Altersstufen und verschiedenster gesellschaftlicher Gruppierungen letztlich an einem Tisch. Ob Jung oder Alt, ob mit universitärer Ausbildung ausgestattet oder Lehrling – alle vereint letztlich die Freude am Essen. Und das war bei dieser Session ausgesucht köstlich.

Speed Dating mit dem Tod als pure Lebensäußerung

Peter Koblhirt sorgte für den kulinarischen, vegetarischen Hochgenuss mit insgesamt fünf Gängen. Serviert wurden diese – bis auf die Haupt- und Nachspeise zwischen den einzelnen Performances. Nach Carl Achleitners hoch emotionaler Lesung aus seinem Buch „Das Geheimnis eines guten Lebens“, gestalteten Verena Brunnbauer und Nicole Honeck (Death positiv) ein „Speed Dating mit dem Tod“. Was sich etwas morbide anhört, entpuppte sich jedoch als pure Lebensäußerungen. In kurzen Zeitabständen von nur wenigen Minuten, wechselte das Publikum jeweils zu einem neuen, unbekannten Gegenüber und unterhielt sich in Einzelgesprächen mithilfe von Spielkartenvorgaben rund um das Thema Tod. Weit davon entfernt in Trauermienen zu verfallen, kam es zu einem intensiven, persönlichen Austausch, der schließlich sogar dazu führte, dass man sich später gemeinsam an die gedeckten Tische setzte und sich unterhielt, als würde man sich schon seit Langem kennen.

Intensive künstlerische Darbietungen und unerwartete Begegnungen

Mit Bernhard Eder, vielen aus unterschiedlichen Theaterproduktionen in Österreich bekannt, für deren Musik er verantwortlich zeichnet, wurde ein Live-Konzert aufgeboten, bei dem man näher nicht dabei sein hätte können. Ohne verdunkelten Saal, in der hellen Tagesmitte, im Abstand von nur einem Meter vom Publikum entfernt, präsentierte er Coverversionen, aber auch selbst Komponiertes rund um das Thema Abschied vom Leben. An seiner Gitarre, ergänzt durch Loop-Maschinen, schuf er neben ruhigen, lyrischen Passagen auch volle, zum Teil auch mehrstimmige, überzeugende Sounds. Wer braucht eine Band, wenn es einen Bernhard Eder gibt?!


Der brasilianische Butoh-Tänzer Will Lopes gestaltete den fulminanten, künstlerischen Schlusspunkt. In „Kagebara“ verkörperte er unterschiedliche Archetypen menschlicher Existenz. Ausdrucksstark und hoch konzentriert verwandelte er sich während seiner Performance vom Krieger in ein weibliches Wesen, vom Tier hin zu einer vergeistigten Existenz, verbunden mit Energien außerhalb unserer menschlichen Wahrnehmung.


Neben den künstlerischen Darbietungen bleibt vor allem der Austausch mit Menschen im Gedächtnis, die man vorher nicht gekannt hat und mit welchen man wahrscheinlich ohne diese Veranstaltung nie in Berührung gekommen wäre. Welches andere künstlerische Format kann diesen Moment für sich tatsächlich reklamieren? Wer sich für kommende Veranstaltungen von Regina Picker anmelden möchte, kann dies hier tun: https://www.performancebrunch.at/anmeldung-1/

Janáček in der Kirche

Janáček in der Kirche

Eine Oper mit der Länge von nur eindreiviertel Stunden muss ein Libretto vorweisen, welches eine Handlung, die sich über einen Zeitraum von mehreren Wochen erstreckt, gekonnt zusammenfasst. Leoš Janáčeks Text zu seiner Oper ‚Katja Kabanova‘ holpert jedoch ein wenig dahin. Das mag daher rühren, dass er selbst den Text nach einem Drama des Russen Alexander Nikolajewitsch Ostrowski (1823 – 1886) auf ein Kondensat zusammengestrichen hat, welches so manche darin vorkommende Figur charakterlich nicht wirklich erklärt. Ostrowski hat sein Drama unter dem Titel „Gewitter“ 1859 veröffentlicht, was insofern bemerkenswert ist, als der Schriftsteller die Scheinheiligkeit der Gesellschaft im Hinblick auf Ehebruch und sexuelles Verlangen sowie die Unterwerfung in einem familiären System zu den Hauptthemen seines Stückes machte. Bei uns wenig bekannt, gehört er zu den Großen der russischen Literatur und übte starken Einfluss auf Leo Tolstoi aus.

Interpretationsspielraum oder Verwirrung?

In der Oper Graz erlebte das Werk am 18.3.2023 seine Premiere, wofür das Team um die Regisseurin Anika Rutkofsky mit einigen Regieeinfällen die ohnehin schon etwas schlingernde Handlung weiter verkomplizierte, sodass sich am Ende die Frage stellt: Wie viel Interpretationsspielraum, wie viele mythologischen Verweise, wie viele Handlungsumdeutungen verträgt ein Stück, um dennoch verständlich zu bleiben? Wie sich zeigt, führen große Bemühungen manches Mal nicht immer zum Ziel.

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Leoš Janáčeks „Katja Kabanova“ an der Oper Graz ( Foto: © Werner Kmetitsch)


Womit die Kritik bei ihrem Kern angelangt ist. Die Regisseurin versetzt das Geschehen in ein kirchliches Umfeld, genauer in das Innere einer orthodoxen Dorfkirche. Der bei Ostrowski und Janáček noch als Kaufmann ausgewiesene Dikoj, (Wilfried Zelinka) wird zum Popen der Gemeinde, sein Neffe Boris, der ihm anvertraut wurde, zu seinem Novizen. (Arnold Rutkofski) Die Idee, die Geschichte in einen orthodox-religiösen Kontext zu stellen, schiebt die eigentliche Aussage, dass jede Gesellschaft scheinheilig ist und Sündenböcke sucht, vom Grazer Publikum weit weg. Vielmehr verleitet diese Konstellation vom roten Plüschsessel der Oper aus mit dem Finger auf ein System zu zeigen, das „so bei uns nicht vorkommt“.

Gleich in den ersten Minuten, nachdem sich der Vorhang gehoben hat, wird man Zeuge, wie ein Mann auf einer Leiter das kommunistische Sichelsymbol von einem Kirchenfenster abwischt, welches später durch ein Marienbildnis ersetzt werden wird. Damit ist der Zeithorizont, in welchem sich das Drama abspielt, geklärt. Man befindet sich offenbar kurz nach dem Zusammenbruch der UDSSR. Vor dem Kircheninnenraum erstreckt sich eine blau gekachelte Wand mit einem Einstieg, wie man ihn von Schwimmbädern her kennt. Im zweiten Akt wird sich dieses Schwimmbad noch um ein Zimmerchen erweitern, das als Liebesabsteige dienen wird. Hier gibt das Programmheft Erläuterungen: „Der Bühnenraum von Eleni Konstantatou – eine Schwimmbadkirche – macht den Systemwechsel architektonisch sichtbar: Hierfür steht die St.-Petri-Kirche einer protestantischen Gemeinde nahe des Newski Prospekts Pate, die im Kommunismus zum Schwimmbad umfunktioniert wurde. Heute wird auf dem abgedeckten Becken wieder Messe gefeiert, wobei der Altarstein noch an das Sprungbrett erinnert.“

Die Reduktion der Aussage des Stückes durch den orthodox-religiösen Rahmen

Die Verlogenheit der Gesellschaft, die Ostrowski in seinem Drama aufzeigte, wird in der Grazer Opernfassung zu einer Bigotterie herabgestuft, in der weder für eine tiefgläubige religiöse Erleuchtung noch für ein öffentliches Bekenntnis der eigenen Fehlbarkeit Platz ist.

Katja Kabanova (Marjukka Tepponen), die junge Ehefrau von Tichon (Matthias Koziorowski) steht ganz unter der Kuratel ihrer despotischen Schwiegermutter, die ihren Sohn nicht von der mütterlichen Leine lässt. Als dieser zwei Wochen das Dorf verlassen muss, schwant seiner Frau Unheil. Sie spürt, dass ihre bis dato nicht ausgelebte Sexualität Anlass zu einem Ehebetrug sein wird. Und tatsächlich dauert es nur wenige Stunden, bis sie sich Boris, Dikojs Neffen, hingibt, der sie bis dahin nur von der Ferne anhimmeln konnte.

In jener Szene, in welcher die beiden jungen Leute zueinanderfinden, geht es auf der Bühne in allerlei parallel gezeigten Paarungsvarianten freizügig zu. Anhand der Kostüme wird man später erkennen, dass Mitglieder der religiösen Gemeinschaft, die sich in der Kirche ständig bekreuzigen, Moral offenkundig nur vom Hörensagen kennen.

Janáčeks herausragende Musik als Rettungsanker

So verschwurbelt das Libretto und die Inszenierung an sich auch daherkommen, so wohltuend steht ihnen die Musik von Leoš Janáček mit dem Dirigat von Roland Kluttig gegenüber. Neben aufbrausenden Klängen mit harten und tiefen Bläsern, die Unheil verkünden, stehen höchst lyrische Passagen, die tief in verschiedene Seelenzustände eintauchen lassen. Katja Kabanova selbst ist mit mehreren wunderbaren Arien ausgestattet, die Tepponen im Laufe der Vorstellung immer glanzvoller interpretiert. Herausgestrichen soll auch ihre schauspielerische Darstellung dieser jungen Frau werden. Jegliche Emotion, jegliches Geschehen, über das sie berichtet, kommt authentisch beim Publikum an. Herrlich anzuhören sind auch jene Volksliedmotive, die der Komponist dem Charakter von Kudrjasch (Mario Lerchenberger) zugeordnet hat. Die Womanizer-Rolle, die er in Graz verkörpert, schieben diese innigen Melodien in die Schublade eines kaltblütigen, ausgebufften Verführers, wodurch sie nur im ersten Moment lieblich wahrgenommen werden können.

In Janáčeks Kompositionstechnik kann man häufig den Klang einzelner vorgetragener Worte und ganzer Sätze gut nachvollziehen. So wartet die Rolle der Schwiegermutter (Iris Vermillion) von Katja mit einigen harten und kantigen Einsprengseln auf, in welchen auch der Satz „Die Menschheit will betrogen werden“ ausgesprochen wird. Kleine, auf- und ab wiegende Melodiekaskaden hingegen lassen jene Vögel hörbar werden, die Katja sowohl besingt, als sie daran denkt, wie gerne sie doch frei wäre. Sie kommen jedoch noch einmal vor – kurz bevor die junge Frau, ausgestoßen von der Gesellschaft, den Freitod wählt. Dass letztlich auch Katjas Ehemann Tichon der gesellschaftlichen Lynchjustiz zum Opfer fällt, da er sich in der Grazer Version als homosexuell outet, ist ebenfalls ein Regie-Einfall von Anika Rutkofsky.

Das Kostümpotpourri von Marie Sturminger lässt eine Gesellschaft erkennen, die, ländlich geprägt, nichts vom Chic der oberen Zehntausend in Moskau vorweisen kann. Einzig der Prunkornat des Popen und die blendend weiße Sonntags-Staffage von Kabanicha, der bösen Schwiegermutter, vermitteln Glanz und damit zugleich auch ihren Obrigkeitsanspruch.

Ein hervorragendes Ensemble sorgt für einen gelungenen Abend

Musikalisch agiert das Ensemble extrem einheitlich auf hohem Niveau. Es gibt keinerlei Ausreißer nach unten, was der Aufführung sehr guttut. Neben den schon genannten sind Mareike Jankowski als Schwägerin und Martin Fournier in der Rolle von Kuligin hier noch hervorzuheben. Es ist die Leistung der Sängerinnen und Sänger und auch des Orchesters, welche den Abend in der Grazer Oper zu einem Erlebnis werden lassen. Auch, wenn man über die Inszenierung an sich heftig diskutieren kann.

Kaum da, schon ist sie wieder weg, unsere Erde

Kaum da, schon ist sie wieder weg, unsere Erde

Ist es heute noch möglich, ein Stück, ausgestattet mit einer gehörigen Portion Humor, bei dem man sich richtig auf die Schenkel klopfen kann zu schreiben, das dennoch Tiefgang hat? Was sich anhört, wie die Quadratur des Kreises, ist der deutschen Autorin Nele Stuhler gelungen. Der Titel des Stückes – bitte festhalten – lautet:

Gaia rettet die Welt (Gaia rettet sich selbst) (Oder auch: (Wie alles so geworden ist Wie es ist) (Bzw. dann auch noch: Wie es vorher war Und wie es zwischendurch war)

Es dürfte wohl kaum jemanden geben, der diesen Titel nach dem ersten Mal Lesen flüssig und auswendig nachsprechen kann. Das muss man auch nicht tun. Man kann ihn auch sehr stark verkürzen und kommt mit „Gaia rettet die Welt“ auch einigermaßen gut über die Runden. Was er aber tatsächlich preisgibt, ist der Sprachduktus, mit dem das Stück ausgestattet ist. Über lange Strecken darf die Sprache mäandern, um Begriffe kreisen, diese negieren, von einer anderen Warte aus betrachten, um dann doch wieder zu ihrem Ursprung zurückzukommen. Das allein macht schon Spaß. Aber nicht zuletzt sind es doch die Figuren, von welchen man gar nicht genug bekommen kann als da wären:

Gaia, die Schöpferin der Welt herself, die aus einer Laune heraus das Menschengeschlecht schaffen will. „Etwas, das einmal stirbt“.

Zeus, der an Eitelkeit und Paarungswillen nicht zu übertreffen ist, beherrscht Blitze verströmend das Anfangsgeschehen. Dabei macht er sich an alles heran, was kreucht und fleucht, um die „Päckchen seines Samens“ so breit gestreut wie möglich zu verteilen.

Mythos, ein geschlechtsneutrales Wesen, das die Dinge beim Namen nennt und weiterträgt, sodass sie nicht in Vergessenheit geraten. Zu erkennen ist es am Outfit, auf welchem in großen Lettern der Auftrittstext prangt.

Prometheus, ein junger Nachwuchsgott, der Zeus gehörig herausfordert, jedoch noch ein wenig unbeholfen mit seiner göttlichen Macht agiert.

Pallas Athene – die von ihrem Vater prompt als „Kopfgeburt“ degradiert wird und nicht zu vergessen: die Sonne – in güldenem Gewande, stets bereit, zu strahlen.

Die Gesamtheit dieser Figuren ergibt eine Gesellschaft, bei der man sich nicht wundern braucht, dass so manches aus dem Ruder läuft. Thomas Frank darf als Zeus alle Schauspielregister ziehen, die es gibt. Eitel und vergesslich, etwas unterbelichtet und jähzornig, sich ständig in andere Wesen verwandelnd, unterhält es das Publikum ohne Unterbrechung. Martin Hemmer tritt als Prometheus in Hergottsschlapfen auf und sieht aus, als käme er gerade aus einer Drehpause von Monty Pythons „Das Leben des Brian“. So verwundert es nicht, dass es ihm genauso wenig wie Zeus zuvor gelingt, ein Menschengeschlecht zu erschaffen, mit dem man zufrieden sein kann. Doch als die Götterwelt plötzlich erfährt, dass es sie eigentlich gar nicht gibt, sie nur von den Menschen erdacht wurde, wendet sie sich ungläubig und zu Tode beleidigt ab.

Ab diesem Zeitpunkt heißt es Schluss mit lustig! Jetzt muss debattiert werden. Wer bestimmt was und vor allem, wer ist Schuld daran, dass die Welt so aussieht, wie sie heute aussieht? Ein netter Regiekniff von Maria Sendlhofer bezieht das Publikum in das Geschehen auf der Bühne ein und lässt es von dort aus am Weltengeschick teilhaben. Kurz nachdem die Götterdämmerung stattgefunden hat, geht es auch schon mit großen Schritten dem Weltuntergang entgegen. Nicht, ohne zuvor noch Gaia um Hilfe gebeten zu haben. Als dies nicht gelingt, wird fröhlich der Argumentationsspieß umgedreht und sie selbst zum Übel der Weltverschmutzung abgestempelt. „Du lässt alle immer machen!“

Dass sie in einem Schlussmonolog an sich zu zweifeln beginnt und klarmacht, dass die Erde die Menschen keineswegs benötigt, löst all das, worüber vorher so herzlich gelacht werden konnte, in Luft auf. Versöhnlich und berührend ist dennoch eine ihrer letzten Aussagen: Die Widersprüchlichkeit, die sie für sich ausmacht, ist auch jene Eigenschaft, die den Menschen kennzeichnet. Nichts ist nur gut und böse, nichts nur schwarz und weiß.

Was bleibt, ist die Erinnerung an einen spritzig-witzigen Theaterabend mit einem fulminanten Ensemble und der Wunsch, den geistreichen Text ganz in Ruhe nachlesen zu können. Am besten, noch bevor die Welt demnächst untergeht.

Okan Cömert, Thomas Frank, Martin Hemmer, Hannah Joe Huberty, Aline-Sarah Kunisch, Karola Niederhuber und Helena Vogel begeistern von Anfang bis zum Ende. Tanja Maderna schuf die witzigen, zeitgeistigen Kostüme und die reduzierte Bühne, mit einigen wenigen Versatzstücken.

Eine Absurdität, die schmerzt

Eine Absurdität, die schmerzt

Es gibt zwei Sätze und ein Nein, welche in aller Kürze eine Zusammenfassung für den Einakter bilden könnten, den Václav Havel an den Beginn seiner Vaněk-Trilogie setzte. Die beiden Sätze sind: „So bin ich erzogen“ sowie „Ich kann mich doch nicht selbst denunzieren“ und ein klares Nein folgt auf die Frage der Bierbrauerin, ob er, Ferdinand Vaněk, der Schriftsteller, der in ihrer Brauerei schuften muss, Kinder habe. In diesen Sätzen spiegelt sich wider, wie der junge Vaněk gestrickt ist und warum er so agiert, wie er agiert. Warum er das Angebot nicht annimmt, seine Arbeitsbedingungen zu erleichtern und warum er stattdessen lieber weiter körperlich schuftet, ohne Zeit zu haben, geistig zu arbeiten.

Havels Kunstfigur Ferdinand Vaněk muss als oppositioneller und damit unerwünschter Schriftsteller der Arbeit als Fass-Roller in einer Brauerei nachgehen, was er zur Zufriedenheit aller auch tut. Eines Tages wird er zum Braumeister gerufen. In Thiels Interpretation ist es eine Braumeisterin, womit ausgedrückt wird, dass das Agieren dieses Charakters nicht geschlechterspezifisch ist. Vaněk, der Alkohol verschmäht, weiß nicht, was ihn bei der Unterredung erwartet.

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„Audienz“ (Foto: Julia Kampichler)

Thiel lässt sowohl Nico Dorigatti in der Rolle Vaněks als auch Alexandra Schmidt in der Rolle der Braumeisterin extrem körperintensiv arbeiten. Verrenkt liegt die junge Frau, benommen wohl vom schon genossenen Alkohol, gleich zu Beginn auf einem Sessel, während ihr Angestellter mehrfach versucht, sich ihr zu nähern. Immer jedoch wird er wie von Krämpfen gebeutelt, sodass er zu Boden fällt, um sofort darauf einen neuen Anlauf zu nehmen. Unterstützt wird dieser szenische Einstieg von einer Musikeinspielung von Oscar Böhm. Ein dramaturgischer Schachzug, der sich später in abgewandelter Form wiederholen wird. Ohne noch ein Wort gesprochen zu haben, kann man verstehen, dass hier zwei unterschiedliche Charaktere aufeinandertreffen. Die Braumeisterin, die durch Alkohol ihr Gewissen betäubt und die versucht, menschenverachtende Anweisungen des Regimes auszuhalten und abzumildern und der junge Intellektuelle. Er, von Natur aus ruhig und bescheiden, wird von den Repressalien, die nicht nur ihn treffen, fast aus der Bahn geworfen. Aber nichts liegt ihm ferner, als aufzufallen oder anderen Menschen zu schaden. So viel Slapstick auch in der ersten und in weiteren Szenen steckt, so bedrückend, ja schmerzhaft kann diese physische Clownerie auch empfunden werden.

Im Laufe der Unterredung, bei der, ganz zum Leidwesen Vaněks, in Strömen Bier fließt, gibt seine Vorgesetzte ihm zu verstehen, dass sie sich für ihn einsetzen möchte, was eine Dankeskaskade bei ihm auslöst. Solange, bis es der Braumeisterin zu viel wird und sie ihn anherrscht, sich nicht dauernd zu bedanken. „So bin ich erzogen“, antwortet der junge Mann und man darf annehmen, dass dies Worte sind, die Václav Havel sich selbst oft nicht nur gedacht, sondern wahrscheinlich anderen gegenüber tatsächlich auch ausgesprochen hat.

Bis zu seinem 12. Lebensjahr war Havel in einer großbürgerlichen, angesehenen Prager Familie aufgewachsen. Vater, Onkel und ein Großvater waren erfolgreiche Bauunternehmer, der Großvater mütterlicherseits Diplomat in Wien. Im Jahr 1948 wurde jedoch der gesamte Besitz der Familie konfisziert und Vater und Mutter mussten sich als Sekretär und Fremdenführerin verdingen. Dass dieser Lebensumsturz in dem Jungen, der nach der Schulpflicht aufgrund seiner bourgeoisen Herkunft keine weiterführende Schule besuchen durfte, tiefe seelische Spuren hinterlassen hat, liegt auf der Hand. Aber auch, dass er eine Erziehung genossen hatte, die für sein gesamtes Leben prägend sein sollte. Havel galt zwar als scheu, aber überaus höflich.

Mit Ferdinand Vaněk schuf er sich ein literarisches Alter Ego. Der Autor und Dramatiker, ist den Menschen unserer Tage jedoch hauptsächlich als jener Mann in Erinnerung geblieben, der als erster Präsident der Tschechoslowakei und nach dem Zerfall des Staatenbundes als erster Präsident Tschechiens in die Geschichte Europas einging. Dass er als Dissident dazu beitrug, das menschenverachtende Regime 1989 zu Fall zu bringen, ist auch noch den meisten Menschen in Österreich bekannt. Dass seine Dramen – sieben davon – unter der Leitung von Achim Benning am Burgtheater uraufgeführt wurden, wissen schon weitaus weniger. Der Schriftsteller, der sein Land während einer gewissen Zeit nicht verlassen wollte, in der Angst, nicht mehr zurückkehren zu können und später wegen seiner Inhaftierung nicht verlassen konnte, war bei keiner der Aufführungen anwesend. Beklatscht konnte er dennoch gemeinsam mit dem jeweiligen Ensemble werden, da vom Schnürlboden eine Tafel mit seinem Namen abgesenkt wurde. Havel bezeichnete die Burg in einer außergewöhnlichen Sprachschöpfung als sein „Muttertheater“. Die Analogie zur Muttersprache liegt dabei auf der Hand und kann als etwas Essenzielles, Lebensnotwendiges verstanden werden, was es für Havel tatsächlich war.

Die Sätze, die Vaněk in „Audienz“ spricht, bis hin zur Erklärung an die Braumeisterin, dass er vier Semester Ökonomie studiert habe und dass er ihr Angebot der Arbeitserleichterung nicht annehmen könne, denn er könne sich ja nicht selbst denunzieren – entsprechen biografischen Tatsachen. Havel musste, mit Aufführungsverbot belegt, in einer Brauerei arbeiten und hat sich, trotz schwerster Menschenrechtsverletzungen ihm gegenüber und trotz Gefängnisstrafe nie verbogen oder gar angedient.

In einem großartigen Monolog, in welchem Alexandra Schmidt alle Register ihres Könnens zieht, macht die Braumeisterin klar, in welchem Dilemma sie steckt und wie sehr sie die Ablehnung Vaněks missbilligt. Er, der intellektuelle Schriftsteller, sosehr er im Moment auch gedemütigt würde und am Boden sei, er fände zumindest Beachtung und stünde im Rampenlicht. Sie aber würde niemand kennen und müsse erdulden, was an sie an Ungerechtigkeit herangetragen wird. Dieser Monolog gehört zu den beeindruckendsten der neueren Literaturgeschichte. Wird doch deutlich, dass Havel, selbst Opfer und lebensbedrohlich unterdrückt, sich dennoch empathisch in sein Gegenüber versetzen konnte. Ja, dass er verstand, warum Menschen wie die Braumeisterin so handeln, wie sie handeln. Die charakterliche Größe, die hinter diesem Stück Literatur steckt, ist schier unermesslich.

Oft fragen sich Menschen, wie sie in Zeiten von Regimen agiert hätten oder agieren würden, ohne eine endgültige Antwort darauf zu bekommen. Und auch dafür liefert Havel eine Erklärung, wie Mitläufertum unter einer menschenverachtenden Regierung, zustande kommen kann. Es ist die Sorge um die eigene Familie, die Pflicht, seine Kinder bestmöglich zu erziehen und ins Leben zu begleiten. Mit der Verneinung Vaněks auf die Frage, ob er Kinder habe und dem Hinweis, dass die Braumeisterin selbst drei habe, weist er gezielt auf diesen Umstand hin.

Es ist nicht nur die exzessive Spielweise, die einem beim Zusehen den Atem raubt. Wie Nico Dorigatti das Bier aus Mund und Nase fließt, dass es nur so fontänenartig durch die Gegend spritzt und den Bühnenboden zu einem glitschigen, gefährlichen und haltlosen Untergrund verwandelt, ist ein wunderbarer Regie-Einfall. Florian Thiel lässt neben Vaněk und der Braumeisterin noch eine dritte Person auftreten. Eine junge, hübsche Frau, die sich stumm den beiden in ihren Alkoholexzessen nähert. Einmal wirkt sie anziehend, dann Liebe verströmend, ein anderes Mal hart und bedrohlich. Letztlich liegt sie wie leblos am Bühnenrand, ohne von den anderen beachtet zu werden. Die Rolle von Sophie Borchardt kann unterschiedlich ausgelegt werden. Man kann in ihr jene berühmte Schauspielerin erkennen, in welche die Braumeisterin all ihre Zukunftshoffnungen projiziert, dann erscheint sie als Verkörperung jener Dauerüberwachung, die in der CSSR üblich war. Schließlich verkörpert sie aber auch jene Idee, an welcher sich Vaněk immer wieder hochrappelt. Jenes Gerechtigkeitsprinzip, das für ihn über allem und über alle steht, sogar über ihm selbst.

Die allerletzte Szene hat Thomas Bernhardt´sche Charakterzüge. Stellt sie doch mit einem Augenblick all das auf den Kopf, was zuvor gesagt, getan und wahrgenommen wurde. Mit einem einzigen Wort und einer einzigen neuen Attitüde – nämlich die eines Bier trinkenden Vaněks – beginnt das Stück noch einmal von vorn. Dieses Mal jedoch mit gänzlich anderen Vorzeichen. Vaněk brüllt roh und rüpelhaft der Braumeisterin auf die Frage, wie es ihm gehe „Scheiße“ entgegen. Der darauffolgende wilde Zug an der Flasche und das polternde Aufstellen derselben am Tisch, dass sich der Gerstensaft in einer hohen Fontäne aus ihr ergießt, machen klar: Die Geschichte wird noch einmal erzählt, aber anders. Es wäre nicht Havel, hätte er damit nicht auch sein eigenes Handeln, seine zurückhaltende Art, die niemandem wehtun möchte, infrage gestellt. Womit er sich in eine jahrhundertealte Geistestradition einreiht. Der große Humanist und Philosoph Michel de Montaigne stellte schon im 16. Jahrhundert fest, dass es keine unumstößlichen Wahrheiten gäbe und dass man stets die eigene Meinung hinterfragen müsse. Die beiden Männer hätten sich sicherlich viel zu sagen gehabt.

Dass „Audienz“ heute nichts an Aktualität eingebüßt hat, wobei wir nicht in die Ukraine, nach Russland, China oder in den Iran blicken müssen, ist bedrückend. Umso wichtiger ist es, sich mit diesen Phänomenen auseinanderzusetzen.

Diese Möglichkeit bietet das Festival „Europa in Szene“ mit vielen begleitenden Diskursformaten noch bis zum 2. April.

Eine Seelenschau, die Gänsehaut hinterlässt

Eine Seelenschau, die Gänsehaut hinterlässt

Ingmar Bergmann ist allen Cineasten ein Begriff. Seine „Herbstsonate“, die 1978 in die Kinos kam, war mit Ingrid Bergmann und Liv Ullmann in den Hauptrollen genial besetzt und ist allen, die den Film gesehen haben, noch Jahrzehnte danach in Erinnerung. Es war nicht allein die Geschichte an sich, die fesselte. Ein Drama, in dem die psychologischen Hintergründe einer Mutter-Tochter-Beziehung offengelegt wurde. Es war auch das Setting, angesiedelt im Norden Europas und die Kameraführung mit vielen Close-ups, die den Film einzigartig machten.

„Als ich den Film gesehen habe, wusste ich, dass ich die Geschichte unbedingt auch auf die Bühne bringen wollte“, O-Ton von Gerhard Werdeker. Dass die Geschichte der Pianistin Charlotte Andergast, die ihre beiden Töchter über lange Strecken allein bei ihrem Vater ließ, um ihrer Karriere nachzugehen, auch nach 45 Jahren noch fesselt, zeigt, dass Bergmann mit den Konflikten eine zeitlose Materie aufgegriffen hat. Ende der 70er-Jahre von vielen noch als Affront gegenüber dem 5. Christlichen Gebot „Du sollst Vater und Mutter ehren“ empfunden, bietet es heute viele Momente, in welchen sich Menschen wiederfinden können, die von ihren Eltern in ihrer Kindheit nicht die Liebe erfuhren, die sie sich gewünscht haben.

Werdeker arbeitet mit einem reduzierten Bühnenbild von Raoul Rettberg, in dem ein Tisch mit Sesseln, eine große, rote Kiste und leicht gebogene Wandfragmente ausreichen, um das Pfarrhaus, aber auch den Friedhof der kleinen Gemeinde, in der Eva mit ihrem Mann Viktor leben, darzustellen. Wie immer, wenn Werdeker Regie führt, gibt es nichts, was unabsichtlich auf der Bühne positioniert ist. Über dem Setting hängt eine weiße, runde Tafel hoch in der Luft, mit der Zeichnung der typischen Cello-Schall-Löcher. Diese Tafel, aber auch ein blauer Ball, so wird sich bald zeigen, fungieren als Platzhalter zweier Menschen, die in der Fassung von Werdeker nicht gezeigt werden, dennoch aber für das Geschehen bestimmend sind.


Der blaue Ball steht als Symbol für den Sohn von Eva, der im hauseigenen Brunnen im Alter von vier Jahren ertrank. Die runde Tafel mit der Cello-Assoziation hingegen für Leonardo, den Partner von Charlotte, Evas Mutter. Der ebenfalls verstorbene Cellist hatte nicht nur großen Einfluss auf die Pianistin, sondern auch auf ihre kranke Tochter Helena, die in Werdekers Fassung nur erwähnt, aber nicht gezeigt wird. Die Reduktion auf drei Personen tut der Handlung keinen Abbruch, ganz im Gegenteil. Sie konzentriert diese auf die wesentlichsten Ereignisse, die sich Mutter und Tochter wechselweise erzählen und vorhalten. Überdies evoziert die Absenz der kranken Helena noch zusätzliche Gänsehaut, denn alles, was an Grauen nicht sichtbar, sondern nur im Kopfkino abgeht, wird meistens noch schlimmer empfunden, als wenn dieses halb realistisch vorexerziert wird.

Brigitte West in der Mutterrolle und Dana Proetsch als ihre Tochter spielen sich innerhalb kurzer Zeit in einen Furor, der seinesgleichen sucht. Nicht nur, dass jede einzelne Mimik, jede einzelne Geste bei beiden sitzt. Sie schaffen es, das Publikum so mitzureißen, dass es die Umgebung des Theaters komplett vergessen kann. In ihrem Spiel stimmt absolut alles. Der Ton der erhitzten Gemüter ebenso wie das zunehmende Sprachtempo. Die theatralischen, ausufernden Bewegungen der Mutter genauso, wie das Erschrecken der Tochter vor ihrer eigenen Courage. West wechselt innerhalb weniger Augenblicke so schnell zwischen Trauer, Selbstdisziplin und Selbstmitleid, dass einem Hören und Sehen vergehen kann. Proetsch hingegen erscheint über lange Strecken hinweg ihrer Mutter charakterlich überlegen. Erst, als sich das Dilemma der Double Bind Erziehung stärker zeigt, verliert auch sie ihre Beherrschung und bricht aus der bis dahin reflektieren Frauenrolle aus. Anna Pollack zeigt in der Kostümwahl auch deutlich den charakterlichen Unterschied zwischen Mutter, die häufige Kleiderwechsel hat, und ihrer Tochter. Bei dieser wird der Wechsel zum nächtlichen Outfit allein in der veränderten Sockenwahl deutlich.

Christian Kohlhofer agiert in der Rolle des Ehemannes von Eva, wie auch im Film, zum Teil als Erzähler. Ganz zu Beginn spricht er direkt von der ersten Publikumsreihe aus und lässt sich nicht, während die beiden Frauen immer hitziger agieren, von deren seelischen Turbulenzen mitreißen.

In einer atemberaubend schönen Szene gelang es Werdeker, Eva ohne Klavier ihrer Mutter die Prélude No. 2 von Frédéric Chopin vorzuspielen. Wie diese danach ihre Interpretation zu Gehör bringt – ebenfalls ohne Instrument – ist mehr als sehenswert. Allein wegen dieses Aktes lohnt es sich, sich die Herbstsonate im Theater Spielraum anzusehen. Alle, die einen Theaterabend erleben möchten, der alles beinhaltet, was gutes Theater ausmacht, sollten sich diesen in der Kaiserstraße nicht entgehen lassen.

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