Von Bad Ischl in die große weite Welt und retour

Von Bad Ischl in die große weite Welt und retour

In Sichtweite des Kongress- und Theaterhauses von Bad Ischl befindet sich die ehemalige Villa des jüdischen Komponisten Oscar Straus (1870-1954). Phonetisch könnte man ihn der großen Strauß-Dynastie zuordnen, mit der er jedoch nichts zu tun hatte. Ganz im Gegenteil: Aufgrund etwaiger Verwechslungen ließ er das ursprünglich zweite s, das er am Namensende trug, sogar amtlich streichen. Anlässlich der Eröffnung der Kulturhauptstadt Bad Ischl und Salzkammergut 2024 wurde die Produktion der Komischen Oper Berlin „Eine Frau, die weiß, was sie will“ aus dem Jahr 2015 für zwei Abende nach Bad Ischl eingeladen. Ab diesem März wird das Stück in Berlin wieder aufgenommen. Die Entscheidung, Oscar Straus erklingen zu lassen und nicht auf den hier omnipräsenten Franz Lehár zurückzugreifen, macht Sinn. Denn, wie Elisabeth Schweeger, die künstlerische Leiterin der Kulturhauptstadt mehrfach betonte, war es ihr wichtig, auch auf die jüdische Vergangenheit der Stadt hinzuweisen. Eine Vergangenheit, die lange nicht aufgearbeitet wurde.

Villa von Oscar Straus in Bad Ischl.

Eingang der Villa von Oscar Straus in Bad Ischl (Foto. European-Cultural-News)

Die Villa, in welcher der viel gereiste Komponist seinen Lebensabend verbrachte, steht zu einem Teil heute leer. Am Haupteingang liegen verwaist Zeitungen, nur im ersten Stock ist eine aktuelle Wohnsituation zu erkennen. Doch gerade dieses Haus könnte mehrere Romane allein über seinen ehemaligen Besitzer erzählen. Oscar Nathan Straus kam schon als Kind mit seinen Großeltern jeden Sommer, wie es im 19. Jahrhundert üblich war, nach Bad Ischl zur Sommerfrische. Hier erlebte er eine Stadt voller Musik. Blasmusik, öffentliche Konzerte im Kurpark, aber auch Aufführungen im Lehár -Theater oder auch im Kongresshaus standen auf der Tagesordnung. Bald wünschte sich der Junge zwei Instrumente – eine Trompete und eine Trommel. Seine liebenden Großeltern erfüllten ihm den Wunsch und dürften sich bald danach die ehemalige Beschaulichkeit der Ischler Sommerfrische zurückgewünscht haben. Denn Oscar beherrschte bald beide Instrumente und brachte das Kunststück zusammen, sie gleichzeitig zu spielen. Von seinem Wunsch, Komponist zu werden, konnte ihn seine Familie nicht mehr abbringen. Die Jugendanekdote, welche von einer der Stadtführerinnen gerne erzählt wird, beleuchtet gut das gesellschaftliche Umfeld wieder, in welchem das Einzelkind aufwuchs. Zugleich auch jene Stimmung, die Ischl damals zu einem Zentrum des kulturellen Sommerlebens in Mitteleuropa werden ließ.

Seiner Hartnäckigkeit verdankte er es schließlich, dass sein Berufswunsch letztlich von seiner Familie doch akzeptiert wurde. Ausschlag gab ein Attest des bekannten Musikkritikers Eduard Hanslick, der darin dem jungen Mann „Frische und Einfachheit“ in zwei seiner Liedkompositionen bescheinigte. Straus studierte in Wien, später in Berlin und verdiente sein erstes Geld als Kapellmeister in Brünn, Teplitz-Schönau sowie Mainz. Für das Berliner Kabarett „Überbrettl“ schrieb er über 500 Kabarett-Lieder, geschuldet auch dem Umstand, dass fast jede Aufführung tags darauf von der Zensur verboten wurde.

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Oscar Straus: „Eine Frau, die weiß, was sie will“ (Foto: Iko Freese / drama-berlin.de)

Der finanzielle Erfolg stellte sich bei dieser Tätigkeit jedoch nicht ein, erst mit „Ein Walzertraum“, 1907 in Wien aufgeführt, gelang Straus sein großer Durchbruch. Sosehr Straus für seine „Operetten“ auch bekannt wurde, sosehr sollte man auch seine kritischen Lieder aus Berlin und die ersten Operetten wie „Die lustigen Nibelungen“ nicht vergessen. Letzte trug einen derart deutsch-kritischen Unterton, dass es bei einer Aufführung in Graz zu Tumulten kam und diese vom Spielplan abgesetzt werden musste. Untersuchungen, welche Straus und seinen Librettisten Fritz Oliven, einen Berliner Rechtsanwalt, der unter dem Pseudonym Rideamus Texte für ihn schrieb, zu Beginn des 20. Jahrhunderts beleuchten, zeigen einen Komponisten, der sich damals schon bewusst war, dass Zeiten anbrechen würden, die Gefahr für ihn bedeuten könnten. Ein Umstand, der sich mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten bewahrheiten sollte.

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Oscar Straus: „Eine Frau, die weiß, was sie will“ (Foto: Iko Freese / drama-berlin.de)

Vor den Nazis floh der Straus zuerst von Berlin aus nach Bad Ischl, anschließend in die Schweiz, danach nach Paris und Südfrankreich und letztlich in die USA, wo er für Hollywoodfilme Musik komponierte. Ein Sohn starb an der Front im 1. Weltkrieg, ein weiterer wurde 1944 im Konzentrationslager in Auschwitz ermordet. Nur zwei seiner fünf Kinder überlebten den Vater. Kurz nachdem er 1948 die amerikanische Staatsbürgerschaft erhalten hatte, kehrte Oscar Straus nach Bad Ischl zurück.

Als „Operette“ angekündigt, erwies sich „Eine Frau, die weiß, was sie will“ in der Fassung des Regisseurs Barrie Kosky, viel eher als eine rasante Nummern-Revue mit atemberaubenden Kostüm- und Charakterwechseln. Dagmar Manzel und Max Hopp schlüpften in insgesamt 20 Figuren, zum Teil sogar gleichzeitig in zwei verschiedene. Die Inszenierung, musikalisch geleitet von Adam Benzwi, versetzte das Geschehen in das Berlin der 30-er Jahre, also in jene Zeit, in welcher das Werk auch entstanden war. Ausgestattet mit einem einzigen Bühnenbild wird die Geschichte einer jungen, verwöhnten Frau erzählt, die nicht weiß, dass eine berühmte

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Oscar Straus: „Eine Frau, die weiß, was sie will“ (Foto: Iko Freese / drama-berlin.de)

Operettendiva ihre Mutter ist. Vielmehr lebt sie in der irrigen Annahme, dass ihr diese Soubrette ihren Mann ausspannen will. Erst in der letzten Szene lösen sich die psychologischen Verwicklungen auf. Es sind die schnellen Rollenwechsel, aufgrund der Minimalbesetzung mit zwei Personen und die überzeichneten Figuren, die keinen verkitschten Operettenstaub erkennen lassen. Aber nicht nur die aberwitzige Spielfreude, die von Manzel und Hopp gezeigt wurden, sondern auch der Witz der Liedtexte selbst, bescherte dem Publikum Heiterkeit. „Warum soll eine Frau kein Verhältnis haben?“ ist eines der wohl berühmtesten Lieder, das, aus dem Werk ausgekoppelt, in vielen Chanson-Abenden des deutschsprachigen Raumes zu hören war und auch wieder zu hören ist. Oscar Straus kann in diesem Werk als jemand wahrgenommen werden, der bestens auf der Unterhaltungsklaviatur des Musiktheaters seiner Zeit spielen konnte. Die Chance, dass seine Ohrwürmer auch zuhause nachgesungen werden konnten, hatte er genauso zu nutzen gewusst, wie die subtile Sichtbarmachung von moralischen Anforderungen, welchen die Menschen sowohl in den 30er-Jahren als auch heute nicht gerecht werden können.

2021 wurde anlässlich des „Festivals der Regionen“ ein Projekt in Angriff genommen, in dessen Verlauf eine Landkarte mit „Stecknadeln der Erinnerung“ für die Stadt Bad Ischl erstellt wurde. Das Straus-Haus ist darauf nicht markiert, vielleicht auch, da es in jener Zeit, welche die Spazier-Route „Jüdisches Ischl“ beleuchtet – nämlich die 30er- und 40er-Jahre – noch nicht in Besitz von Oskar Straus war. Es wäre jedoch an der Zeit, die Geschichte des Komponisten einem größeren Kreis von Interessierten bekannt zu machen, nicht nur Musikbegeisterten, die in den meisten Fällen selbst nicht darüber Bescheid wissen.

Die Aufführung in Bad Ischl darf man deshalb als Aufforderung zu weiteren, eigenen Recherchen ansehen. Was wir hier mit weiterführenden Links gerne unterstützen:

Oscar-Straus-Beiträge zur Annäherung an einen zu Unrecht Vergessenen. Im operetta-research-center.org
Oscar-Straus-Beiträge-zur-Annäherung-an-einen-zu-Unrecht-Vergessenen
Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen – Uni Hamburg
https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00002671
Webseite Kulturhauptstadt Bad Ischl – Salzkammergut</a>

Vom Feenland in den atomaren Supergau

Vom Feenland in den atomaren Supergau

Für das Publikum gestaltete sich die Raumsituation jedoch anders als gewohnt. Das Parkett war in seiner Mitte von den Sesselreihen befreit. Auf dem Konzertpodium und entlang der seitlichen Sitzreihen waren insgesamt 50 Klaviere und ein Cembalo sowie das Klangforum mit seinen Instrumenten verteilt. Auf diese Weise war es möglich, während der Aufführung im Saal seinen Platz zu wechseln, was jedoch aufgrund der vielen Menschen nur wenige tatsächlich auch taten. Zu dicht stand man etwas über eine Stunde lang nebeneinander, entschädigt jedoch durch die Musik, die als Programm-Musik bezeichnet werden kann.

Im Vorfeld schon wurden einzelne Teile des Klanggeschehens analysiert und besprochen, wurde dem Werk eine breite Palette an unterschiedlichen klanglichen Ausdrucksmitteln attestiert. Aus diesem Grund soll hier der Fokus auf andere Ebenen der Komposition mit dem Titel „11.000 Saiten“ gelegt werden.

Zuallererst verblüfft die Tatsache, dass Haas mit einem Klangapparat arbeitet, der sehr ungewöhnlich ist. Neben den herkömmlichen Streichern und Bläsern, sowie Percussion-Instrumenten verlangt er ein Cembalo und 50 Klaviere, die von der Firma Hailun zur Verfügung gestellt wurden. Auf deren Homepage liest man, dass das seit 20 Jahren bestehende chinesische Unternehmen Klaviere mit hohem Anspruch zu günstigen Preisen anbieten möchte und weiter, dass für die technische Entwicklung das Fachwissen des Wiener Klavierbauers Veletzky herangezogen wurde. Mit diesem Konzert hat sich der Bekanntheitsgrad von Hailun nicht nur bei jenen 50 Studierenden der MDW gesteigert, die auf den Klavieren spielten. Auch jener Teil des Publikums, der im Parterre vor den Instrumenten zu stehen kam, dürfte das erste Mal den Firmennamen auf den Instrumenten gelesen haben.

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11.000 Saiten von Georg Friedrich Haas (Foto: Markus Sepperer)

Haas lässt, zur großen Verblüffung, das Stück mit einigen Takten Cembalo-Musik beginnen. Die Orchesterbegleitung, die rasch einsetzt, verfremdet das Geschehen ein wenig und holt es aus einem barocken Umfeld in die Gegenwart. Kaum meint man, im nächsten Moment einem Feen- und Zauberspiel beizuwohnen, schon wird dieser Eindruck durch einen großen, symphonischen Schlussakkord abgelöst. Einem Schlussakkord, der kurioserweise ganz zu Beginn des Werkes steht. Ihm folgen Klänge, die an die Zündung einer Rakete denken lassen, ein Hörerlebnis, weitab von einem historischen Vorbild. Ab diesem Zeitpunkt beginnt ein sich wiederholendes, zugleich jedoch ständig wandelndes Kompositionsmuster, das durch Tension und Entspannung gekennzeichnet ist. Fast hat es den Anschein, als ob das klangliche Geschehen etwas Organisches wiedergibt, dessen Atmung wesentlich breiter und länger angelegt ist als jene von uns Menschen. Tatsächlich arbeitet Haas mit extrem assoziativem Material. Einen Großteil davon widmet er der Wiedergabe von technischen Klangereignissen. Dazu gehören, wie schon beschrieben, das Zünden einer Rakete oder das Aufheulen von Motoren, bei welchen man sich gut den Himmel voll bedrohlich wirkender  Propeller-Flugzeuge vorstellen kann. Sobald ein harmonischer Wohlklang auftaucht, wird er bald darauf dissonant abgestoppt. Immer wieder sind es die Pauken, die ein Klanggeschehen abrupt beenden. Nervöse Passagen, die Unheil verkündend wahrgenommen werden können, werden durch dunkel gefärbte Akkorde, dunkles Blech und ein Zittern in den Klavierstimmen erzeugt. Lange begleitet dabei ein tiefer Ton der Bläser die Erzählung, die sich, wie in guten Theater- oder Filmstücken, erst am Ende des Geschehens zu einem großen Ganzen fügt.

Haas legt seiner Komposition augenscheinlich eine Dramaturgie zugrunde, die als knappe Erzählung der Menschheitsgeschichte aufgefasst werden kann. Dabei beginnt er im Barock und wandert anschließend in wenigen Takten bis herauf in unsere Zeit. Immer wieder hört man zwischendurch die Klaviere, aber auch einzelne andere Instrumente „Musik machen“ – kleine Abfolgen von Tönen zu spielen, Akkorde zu formen oder auch ausformulierte Arpeggien anzuschlagen, ganz so, wie es Musikerinnen und Musiker rund um den Erdball tagtäglich tun. Ihnen entgegengesetzt bekommt die Technik ebenfalls einen hörbaren Raum. Die für Haas so typischen Klangschrauben, die sich permanent aufwärts bewegen, machen dennoch rasch klar, dass die Aufwärtsspirale nicht unendlich fortsetzbar ist.  Mit ihnen verbindet man keine erbaulichen Raumflüge mehr, denen man rettend beiwohnen kann. Ihr wahrer Gehalt bleibt diffus und zeigt sich erst ein wenig später, als das Klangmaterial umgedreht wird und die Höhe des musikalischen Geschehens förmlich Stück für Stück in sich zusammenzufallen und zu zerbröseln beginnt.

Wenn lang gezogene Klangflächen gespielt werden, erweitert sich das Hörspektrum durch die im mikrotonalen Abstand gestimmten Klaviere, da die additiven Akkorde weit weniger statisch erscheinen als bei herkömmlichen, gleich gestimmten Saiteninstrumenten. Der Einsatz von Bongos, die an das Prasseln eines plötzlichen Regengusses denken lassen, oder das hohe Gezirpe von Streichern und Bläsern, in welchen Vogelstimmen hörbar werden, vermitteln eine direkte organische Verbindung zu unserer Welt. Diese ist jedoch weder heiter noch fröhlich. Was da zu hören ist, ist vielmehr ein Jammern und Zetern mit einer unterschwelligen Angst vor dem Kommenden. Neben den kleinen Lebewesen, die vor dem inneren Auge hier erscheinen, sind es aber auch überdimensioniert große, die zu brüllen beginnen, als ob ihnen ihre letzte Stunde geschlagen hätte.

Und tatsächlich tritt das, was die Tierstimmen schon vorausahnten, auch wirklich ein. Mit einer unglaublichen Wucht bricht der auditive Supergau in den Saal. Alle Instrumente, vorrangig das Schlagwerk, kommen zum Einsatz, um eine Explosion hörbar zu machen, die wir zum Glück gar nicht kennen, sondern uns nur vorstellen. Der Sound ist so laut, dass der Boden unter den Füßen zu vibrieren beginnt, so heftig, dass man meint, man könne die Luft zerschneiden. Nicht einmal ereilt das Publikum dieses multidimensionale Erfahrung, sondern mehrfach hintereinander, mit abnehmender Intensität, so oft, bis die Explosionen wie aus der Ferne wahrgenommen werden. Das Hochschrauben der Klänge und ihr späterer Zerfall, die Nervosität der unbekannten, aber doch vorstellbaren Tiere, das Abheben der Rakete und die atomaren Explosionsgeräusche nach einer Kernexplosion, all das fügt sich in der Replik zu einem musikalischen Drama, das keine Worte benötigt.

In diesem lässt Haas unsere eigene Position jedoch offen. Wer hat sich im Raumschiff auf die Reise von der Erde weg gemacht? Wer ist hier geblieben und hat – ungeachtet des drohenden Kollapses fröhlich weiter musiziert? Wo befinden wir uns aber, die wir die Explosionen gehört und gespürt haben? Eine Wahrnehmung ist ja nur dann möglich, wenn wir das Inferno unbeschadet überlebt haben. Aber von wo aus? Haben wir das Ende unseres Planeten miterlebt oder ist es nur eine Vorstellung, die uns auffordert, aktiv zu werden und alles zu unternehmen, damit sich unsere Natur wieder erholen kann? Gerade diese Offenheit des Werkes macht es so spannend und diskussionswürdig.

Georg Friedrich Haas „11.000 Saiten“ ist vielschichtig, nicht nur wegen der mannigfaltigen Interpretationsmöglichkeiten. Es zeigt auch seine Meisterschaft, organische Klänge zu produzieren, die man heute von computergesteuerten Programmen her kennt. Der Umstand, dass das Publikum minutenlangen, frenetischen Beifall spendete, macht deutlich, dass diese Leistung verstanden wurde und breite Zustimmung erreichte.

Nitsch und seine Musik

Nitsch und seine Musik

Zwar liegt das auf der Hand, denn sein Orgien Mysterien Theater ist ohne Unterlass von Live-Musik begleitet. Dass Nitsch selbst jedoch die Kompositionen geschrieben hat, gelangte nicht an eine größere Öffentlichkeit.

Obwohl seine Stücke ursprünglich nur für die Performances gedacht waren und er selbst einmal davon sprach, dass sie nur in dem Kontext aufgeführt werden sollten, revidierte er später diese Ansicht. Seine Symphonie Nr. 9 – „Die Ägyptische“ – wollte er doch wenigstens einmal in einem Konzertsaal hören. Die Tatsache, dass sie nun, posthum, im Wiener Musikverein erklang, gespielt vom Niederösterreichischen Tonkünstlerorchester unter der Leitung des jungen Dirigenten Patrick Hahn, hätte ihm wahrscheinlich gefallen.

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Tonkünstler-Orchester vor dem Musikverein (Foto: Martina Siebenhandl)

Webern, Wagner und Skrjabin

Der Titel des Konzertes war Programm, denn im ersten Teil des Abends wurden drei Stücke präsentiert, die für Hermann Nitsch nach eigenen Aussagen wichtig waren. Zu Beginn wurden Anton Weberns „6 Stücke für Orchester op. 6“ aufgeführt: eine radikale Minimalisierung von musikalischen Ideen, bis hin zur Skizzenhaftigkeit. Danach erklangen Richard Wagners Vorspiel von „Tristan und Isolde“ sowie Alexander Skrjabins „«Le Poème de l‘Extase» op. 54.Der Dirigent nahm sich die Freiheit, die Stücke so aneinanderzusetzen, dass keine Pause entstand und somit zu Wagners Werk nicht geklatscht werden konnte. Vielmehr verdeutlichte der fließende Übergang der beiden Kompositionen ihre starke Nähe und erlaubte einen Vergleich, der direkter nicht gestaltet werden kann.

Die Idee passte hervorragend zu dem Abend, in dessen zweiten Teil eine Musik zu hören war, die – obgleich sie sich in die zeitgenössische Musikproduktion perfekt einreiht – dennoch für einige aus dem Publikum eine Herausforderung darstellte.

Albert Hosp, bekannt von seinen profunden Ö1-Moderationen, gestaltete nicht nur eine Einführung zum kompositorischen Schaffen von Nitsch mit musikalischen Vergleichsbeispielen, sondern moderierte auch im großen Saal. Dabei legte er  Wert auf den Blick des Neuen in der Musik, dem auch Webern und Schönberg im Musikverein einst ausgesetzt waren.

Symphonie Nr. 9 „Die Ägyptische“

Den Titel „Die Ägyptische“ wählte Nitsch, da er in der Komposition Erinnerungen an seine Ägyptenreise verarbeitet hatte. Im Herbst 2010 äußerte er sich in den Doblinger Verlagsnachrichten „Klang:punkte 31“ folgendermaßen: „Die Wahl des Beinamens ‚Ägyptische‘ für diese Symphonie resultiert aus den Eindrücken meiner Ägypten-Reise zu Beginn dieses Jahres [2009] sowie aus der damit verbundenen
leibhaftigen Begegnung mit der monumental-archaischen Kultur dieses Landes. Inhaltlich wird die ‚Ägyptische‘ von ‚dionysischer‘ Ekstase ebenso geprägt wie von ruhigeren ‚apollinischen‘ Passagen. Sich wellenförmig ausbreitende Farbklangschichtungen und die Majestät unendlicher Weiten des Klangraumes sollen dem Hörer das Eintauchen in imaginäre, urmythische, meist unbewusste tiefe Schichten unseres Seins ermöglichen – wie dies ja auch im jahrtausendealten ‚Ägyptischen Totenbuch‘ auf sprachmagische Art bereits anklingt.“

Tatsächlich sind in der Symphonie Hörmomente verarbeitet, die an archaische Gesellschaftsstrukturen und ebensolche Rituale erinnern. Vor allem immer wiederkehrende Passagen in den tiefen Bläsern und Streichern, unterfüttert vom gesamten restlichen Klangapparat, breit ausgewalzt, majestätisch und zugleich Furcht einflößend, lassen leicht Bilder der ägyptischen Totenstätten und auch der dazugehörigen Rituale aufkommen. Dennoch erfährt man in diesem Werk auch eine Unmittelbarkeit an österreichischer Musiktradition, die einen direkt zu Nitschs Orgien Mysterien Spielen beamen. Neben dem Symphonieorchester agierte die Musikkapelle Zellerndorf in großer Besetzung von unterschiedlichen Saalpositionen aus. Zu Beginn hatte sie Aufstellung im Bereich der Stehplätze genommen, dann wieder agierte sie vom Balkon aus. An anderer Stelle marschierte die Kapelle durch den Saal, inklusive Stabführer und Marketenderinnen. Auftritte der Blasmusik sind auch in Prinzendorf ein wesentlicher Bestandteil der Aktionen, im Musikverein verstärkte sich jedoch die Idee der gegensätzlichen musikalischen Positionen. Das zeugt einerseits von einer großen Portion Nitsch-Humor, andererseits liegt aber auch der Vergleich mit der historischen Aufführungspraxis der mehrchörigen Renaissancemusik Italiens auf der Hand, für die in den Kirchen einzelne Ensembleeinheiten an unterschiedlichen Raumpositionen verteilt wurden. So reizvoll der Geschichtsvergleich auch ist, sosehr kann aber auch der Vergleich mit der zeitgenössischen Musikpraxis in den Konzertsälen herangezogen werden, in welcher „Raummusik“ das Hörerlebnis auf eine andere Dimension schieben soll.

Hermann Nitsch Ferry Nielsen

Hermann Nitsch (Foto: Ferry Nielsen)

Nitsch selbst erklärte sein Werk als viersätzig:

  1. satz: gewaltige exposition
  2. satz: meditatives adagio
  3. satz: ein oft bis ins dämonische ausladendes scherzo
  4. satz: grossangelegtes, positives oder tragisches finale.

Neben den unterschiedlichen emotionalen Ausdruckswerten, welche diese Sätze kennzeichnen, ist es vielmehr ein besonders Stilmittel, das ihnen eigen ist und sich nicht an die Viersatz-Teilung hält. Immer wieder kommt es zu abrupten, zum Teil überhaupt nicht vorhersehbaren, im Fortissimo gespielten Abbrüchen, welche in das musikalische Geschehen brutal einschneiden. Einige dieser Tuschs sind vorhersehbar, andere kommen mit voller Wucht unerwartet und schrecken das Publikum hörbar auf. Neben dieser musikalischen Urgewalt gibt es noch ein zweites, markantes Hörerlebnis dieses Werkes. Es ist der Einsatz der Orgel, die gleich zu Beginn allein ein Intervall intoniert, bis andere Instrumente brachial und mit voller Wucht einsteigen und die Orgel übertönen. Immer wieder kommt jedoch im Laufe der Symphonie dieser Eingangs-Orgelton zwischen den Klangmassen zum Vorschein, sodass der Eindruck entsteht, die Musik würde sich entlang dieses musikalischen Fadens hanteln und sich daran festhalten.

Von Beginn an lösen sich zarte, melodische Ereignisse mit wuchtigen Klangballungen ab. Eine einfache Melodie, von der Piccolo-Flöte vorgetragen, mäandert anschließend durch das ganze Orchester, um dann, unerwartet, von der Blasmusikkapelle aufgenommen zu werden, die, am Saal-Ende positioniert, auf ihren Einsatz gewartet hat. Dieses kleine Motiv entpuppt sich als Wanderer, der immer wieder unerwartet anzutreffen ist. Manches Mal zerfällt es, manches Mal verschieben sich seine Klänge ins Dissonante, manches Mal beruhigt es die tobenden Klangwogen.

Ebenfalls markant gibt sich das Scherzo, in welchem das musikalische Material der Streicher und Bläser ausgelassen zu hüpfen und springen beginnt. Die beinahe kindliche Freude hält aber nicht lange an und wird von den Holzbläsern mit einer schrägen Melodie-Verfremdung in einen neuen emotionalen Zustand übergeführt. Ein stark rhythmisch gegliederter Teil, an dem das Percussion-Ensemble seine helle Freude hat, steht vor einer dunklen Klangballung.

Der letzte Satz, wie die vorhergegangen nicht durch eine Pause unterbrochen, wartet mit lang gezogenen Akkordflächen auf, die eine Art Schwebezustand hervorrufen. Ein Flirren und Wogen in den Bläsern und Streichern, ohne herausragende rhythmische Akzente, macht dies möglich. Mehrfach noch bäumt sich das Orchester auf, mehrfach noch fallen die Klangmassen in sich zusammen oder werden abrupt unterbrochen und mehrfach noch sind die archaischen Blecheinsätze mit tiefen Bässen gekoppelt, angsteinflößend. So ist es logisch, dass das Finale nicht anders als mit dramatisch eingesetzten Pauken ausfällt.

Die Kompositionsweise von Hermann Nitsch, der sich auf sein eigenes Notationssystem verließ, hält zu einem großen Teil neben visuellen Markierungen auch sprachliche Anweisungen bereit.  Diese unkonventionelle Notation erforderte jedoch eine weitere Bearbeitung für die Musizierenden, die von Peter Jan Marthé vorgenommen worden war, der neben Hahn einen großen Anteil am Gelingen des Konzertes hatte. Der große Reiz für das Orchester bestand sicher auch darin, dass gewisse Stellen improvisatorisch ausgelegt werden konnten, was bedeutete, dass die Musizierenden so dem Konzert ihren unverwechselbaren, eigenen Stempel mit aufdrücken durften.

Das Leben in seiner ganzen Vielfalt, von seiner kindlichen Ausgelassenheit bis zu seinem beängstigenden Ende und darüber hinaus – all das ist in der Neunten von Nitsch zu hören. Dass ihm zugleich auch ein logisch nachvollziehbarer Spagat zwischen Volksmusik und symphonischem Werk gelang, verleiht dem Werk einen eigenen Platz in der zeitgenössischen Musikproduktion.

Klavierspielen mit Bergsteigerausrüstung

Klavierspielen mit Bergsteigerausrüstung

„IX KLA VIER E“ nannte sich die rund halbstündige Performance von Nick Acorne, für die im Vorraum 3×3 Klaviere übereinander aufgebaut worden waren. Vor ihnen erstreckte sich ein Gerüst, das von Acorne behende erklommen werden konnte. Ausgestattet mit einem Helm und einem Hüftgurt, an dem allerlei Küchengerät hing, durch ein Seil gegengesichert, schwang er sich nicht von Ast zu Ast, sondern von Klavier zu Klavier, um auf jedem kurze Passagen zu spielen. Sie alle ergaben eine wahrlich atemraubende Komposition – zuallererst jedoch für den Pianisten selbst. Musste er doch jedes Mal einige Höhenmeter überwinden, sowohl nach oben als auch nach unten oder auf den Metallverstrebungen sich quer entlanghangelnd, um zum nächsten Instrument zu gelangen. Die Klaviere selbst waren präpariert und wiesen unterschiedliche Klangcharakteristiken auf.

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„IX Kla vier e“ (Foto: ORF musikprotokoll/Martin Gross)

Das Um und Auf jeder Klavierlektion – die richtige Sitz- und Handhaltung führte sich bei dieser Performance ad absurdum. Musste Acorne in den höheren Regionen doch hängend im Seil Halt finden oder sich zum Teil im untersten Bereich vor die Klaviere knien. Erstaunlich war, dass sich trotz der sportlichen Unbillen dennoch eine improvisierte Komposition ergab, die sich auch ohne Klettereinlagen hören lassen konnte. Dass sich jede Vorstellung – insgesamt waren es drei – anders gestaltete, liegt bei dem Konzept auf der Hand. Der Künstler, der zuvor einen Kletterkurs für Anfänger absolvierte, stellte in einem Interview mit Daniela Fietzek fest, dass er die körperliche Anstrengung nicht unterschätzen würde, „aber ich weiß von mir selbst, sobald es um die Kunst geht, finde ich immer Ressourcen in meinem Körper.“

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„IX Kla vier e“ (Foto: ORF musikprotokoll/Martin Gross)

Die farblich unterschiedlichen Socken bei der 2. Aufführung – einer war gelb, der andere blau – sowie die kurze Zugabe – auf dem Kopf im Seil hängend, sprachen eine deutliche Sprache.

Man darf zwar die körperliche und künstlerische Leistung von Nick Acorne würdigen, zugleich aber nicht vergessen, dass sein Tun auch mit einer großen Menge Humor gespickt ist. Lachen und Staunen waren gleichermaßen erlaubt.

Großes Aufgebot beim  musikprotokoll im Steirischen Herbst 23

Großes Aufgebot beim musikprotokoll im Steirischen Herbst 23

Am Beginn stand Sappho / Bioluminescence von Liza Lim auf dem Programm. In ihrer Komposition wollte sie „einen Raum für Spekulationen eröffnen“, was aufgrund des Titels ein Leichtes ist. Lim spricht sowohl von der antiken Schriftstellerin, über die wir mehr ahnen, als das von ihr überliefert wäre, aber auch von einem Oktopus, der sich in einen Sternenhimmel verwandeln kann, um so seine Feinde zu täuschen. Ein Zittern in den Flöten, das in das Orchester übergeht, steht am Beginn. Bald schon ist eine harmonische Abfolge in den Bläserstimmen zu hören, die stark an die Praxis von Filmmusik erinnert. Hauptakteure sind immer wieder die Hörner, die gut hörbar aus dem Orchester herausstechen.

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Marin Alsop und das RSO (Foto: ORF musikprotokoll/Martin Gross)

Auffallend und charakteristisch ist auch, dass das gesamte Instrumentarium beinahe im Dauereinsatz agiert. Glockenschläge, flirrende Geigen und eine rüde Interruption der Harfen – die noch mehrfach zu hören sein wird, folgen. Wieder ist es aber ein Bläserwohlklang, der sich vom übrigen Geschehen abhebt. Nach einem majestätischen Orchesterklang und sphärischen Streichern, erklingt das Zittern, das zu Beginn zu vernehmen war, abermals. Sowohl die Blech- als auch die Holzbläser bekommen ihren eigenen Part, wobei immer wieder ein Wohlklang durch das Instrumentarium fließt. Aber auch ein kleines Geigensolo darf sich präsentieren, unterstützt von kleinen Harfeneinsprengseln. Immer wieder  wird das Schöne, in das man sich gerne fallen lässt, von unerwartet harten Klängen wie von einem Xylophon, einem Vibraphon oder Harfen unterbrochen. Dass am Ende einer Art Schwebezustand beschrieben wird, fügt sich gut und logisch an das zuvor Gehörte. Ein schönes Werk, das Lust macht, mehr von der Komponistin zu hören.

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Karl Heinz Schütz als Solist an der Flöte (Foto: ORF musikprotokoll/Martin Gross)

Der zweite Programmpunkt „making of – intimacy“ stammt von Clemens Gadenstätter und ist für Soloflöte und Orchester verfasst. Karl-Heinz Schütz übernahm den anspruchsvollen Solistenpart und reizte dabei eine breite Klangpalette seines Instrumentes aus. Den Beginn macht das gesamte Orchester gleichzeitig in einem aufgeregten, raschen Duktus. Die Flöte, die kurz darauf hörbar wird, wird vom großen Klangapparat rasch genutzt, um auf sie zu reagieren. Dieses Spiel zwischen Vorgabe und Reaktion wird sich bald umgekehrt, nach einem wilden Zwischenspiel ohne Flöte, wiederholen. So intensiv der Beginn war, so melancholisch setzt sich bald danach ein Flötensolo in den Raum, dessen Klageton abermals vom gesamten Instrumentarium aufgenommen wird. Das, was eben noch an Trauer hörbar war, verändert sich atmosphärisch in ein Aufbegehren. Schlagen und lautes Blech, ein Aufbrüllen und laute Trommeln prägen diesen Teil. Wie schon zuvor ändert sich das Geschehen komplett und zu Flüsterstimmen bleibt die leise Flöte lange auf einem Ton. Die lange, ruhige Passage ist auch durch ein zartes Solo gekennzeichnet, das vom Flötisten auch stimmlich während des Spiels begleitet wird. Währenddessen agiert das Orchester wie ein schlafendes Tier, das auf die Dynamik eines Flatterzungeneinsatzes von Schütz und dessen Läufe reagiert. Eine darauffolgende Klangverdichtung mit vollem Orchestereinsatz begibt sich aufwühlend in einen brüllenden Zustand, wie der eines waidwunden Tiers. Nun ist es an der Flöte, die an- und absteigenden Läufe des Orchesters zu übernehmen und ihm danach wieder die Bühne zu überlassen. Glocken, Becken, ein aufbrüllendes Blech, harte Schläge und Klopfen kennzeichnen die heftige Passage, die abermals von einer langen, leisen Passage mit Stimmhauchen abgelöst wird. Wie zuvor flammt das Geschehen abermals auf, um sich rasch wieder zu beruhigen. Zu hören sind nun Stimmen, dunkles Blech und eine flatternde Flöte – bis alles in eine lange ruhige Passage übergeht, die langsam verweht. Es ist ein Auf und Ab, ein emotionales Klagen und Brüllen genauso wie ein in sich gekehrtes, melancholisches Verweilen, das in Gadenstätters musikalische Sprache verwandelt wurde. An oberster Stelle stehen in diesem Werk hörbar gewordene Emotionen. Emotionen, welche vom Publikum ähnlich, aber nicht ident ausgelegt werden können und damit für jede und jeden genug eigenen interpretatorischen Spielraum bereithalten. Auch „strange bird – no longer navigating by a star” von Clara Iannotta, beschreibt emotionale Zustände, in welchen die Metapher eines seltsamen, flatternden Vogels, aufgenommen ist, „dessen zielloses Kreisen die Quelle der Schreie ist, die auf einem leeren Platz widerhallen“ – so die Komponistin. Ihr Klangmaterial ist nicht immer genau definierbar, eine E-Gitarre wird häufig als Rhythmusinstrument eingesetzt, Geigenbögen streichen an Becken entlang, tiefes Blechbrummen markiert einen düsteren Gesamteindruck. Immer wieder kommt es zu aufgeregten Zwitschergeräuschen und Zuständen, in welchen es den Anschein hat, als bliebe die Zeit stehen. Mit Vogellauten endet der Emil-Breisach-Kompositionsauftrag 2023 und hinterlässt den Eindruck, mithilfe der Musik kurz in einen psychischen Abgrund geblickt zu haben.

Am Ende der Konzertreihe stand „Scorching Scherzo“, ein Klavierkonzert von Bernhard Gander. Das Werk ist ein typischer „Gander“: Intensiv, pulsierend, aufpeitschend, furios. Und es belässt das Klavier in seinem ursprünglichen Aggregatzustand, ohne Präparierung oder rhythmische Erweiterungsmöglichkeiten. Diese sind auch nicht nötig, so furios ist der Part größtenteils, der ihm zugedacht ist. Joonas Ahonen benötigt Kraft und Ausdauer, um die raschen Akkordabfolgen dem Orchester so entgegenzusetzen, dass sie an der Klangspitze stehen bleiben und nicht von den Instrumenten übertönt werden. Ein einpeitschender, jazziger Rhythmus, begleitet von Pauken und Bässen zu Beginn, sowie ansteigende, repetitive Läufe, die in Bassakkorden abschließen, gehen sofort ins Ohr. Die Wildheit, die zu Beginn schon ihr Gesicht gezeigt hat, kehrt immer wieder und zerfällt an einer Stelle erst im Solopart des Klavieres. Dieses nimmt dabei die ansteigenden Läufe der Bläser, die zu Beginn zu hören waren, auf, bis sich das Orchester wieder wild zurückmeldet. Ein abermaliges Solo mit kurzen Stoßläufen lässt eine harmonische Struktur aus dem 19. Jahrhundert erkennen, die wieder von kurzen Läufen unterbrochen wird, aber abermals eine Melodie eingeschoben bekommt. Schief setzten sich die Streicher mit einer dennoch lieblichen Klangfarbe dazu und erfahren mit den Celli und wilden Pauken einen abermaligen Beginn zu einem furiosen Part. Ein wilder Rhythmus, hetzend und atemlos erfasst das Orchester und stülpt sich über das Klavier, das nun kaum mehr hörbar ist. Das Geschehen bewegt sich in einem Part, der von den Bässen, tiefem Blech und Holz geprägt ist und für sich allein, ausgekoppelt, schon ein eigenes, beeindruckendes Werk darstellen würde. Wilde Akkordabfolgen mit ebensolchen Läufen, unterstützt abermals vom ganzen Orchester, bilden gegen Ende der Komposition einen weiteren Höhepunkt, der abrupt endet und in einen abwechslungsreichen, zarten Teil mündet, der vom Klavier und den Geigen getragen wird. Nun sind es keine ansteigenden, sondern abwärts laufende Spiralen in hellem Dur, die eine neue Farbe ins Geschehen bringen. Der Einfall, im Finale jene Läufe wieder erklingen zu lassen, die zu Beginn im Bass des Klavieres hörbar waren, dieses Mal jedoch im Diskant, bildet eine wunderbare Klammer, mit welcher das Konzert endet. Es ist die Kombination aus der mitreißenden Wildheit des technisch anspruchsvollen Klavierparts und den Zitaten aus der romantischen Klavierliteratur, die das Publikum extrem begeisterte. Viermal holte es Gander, Alsop und Ahonen zur Akklamation auf die Bühne zurück. Ein Umstand, der bei Aufführungen von zeitgenössischer Musik eine absolute Ausnahme bildet. Mit diesem Abend bot das musikprotokoll eine Klang-Opulenz, die zugleich auch aufzeigte, dass Kompositionen für großes Orchester nichts von ihrer Faszination eingebüßt haben. Sehr zur Freude der Zuhörerschaft.

Der Klang der Natur im Konzertsaal

Der Klang der Natur im Konzertsaal

Das musikprotokoll präsentierte dem Publikum des Steirischen Herbst pro Abend ein derart dichtes Programm, dass viele Menschen in etwa zur Halbzeit den jeweiligen Aufführungsort verließen. Das mag weniger am nicht vorhandenen Interesse liegen, als vielmehr an einem Overflow an Gehörtem und Gesehenen. Dazu kommt auch, dass die List-Halle, in welcher drei Abende hintereinander bestritten wurden, nur bis 23.15 Uhr mit der Straßenbahn in Richtung Innenstadt befahren wird. Leider blieb auf diese Weise für viele einiges auf der Strecke, was hörenswert gewesen wäre. Wie an diesem Abend die „Aria“ von Beat Furrer, an deren Aufführung wir nicht mehr teilnehmen konnten.

Eröffnet wurde der Abend fulminant mit dem „Piano Concerto“ von Kristine Tjøgersen. Am Klavier in Aktion zu sehen war Ellen Ugelvik, die dieses nicht von den Tasten aus zum Klingen brachte. Vielmehr baute sie nach und nach, während das Orchester spielte, in den Resonanzraum einen Wald von kleinen Bäumen ein, wie man sie von der Staffage von Modelleisenbahnen kennt. Die Komponistin ist von der Kommunikation der Bäume, die unter der Erde unsichtbar vonstattengeht, fasziniert und fand damit eine adäquate Umsetzung der Sichtbarmachung. Neben Klängen sind es vor allem auch Geräusche, wie ein Knistern und Knattern, aber auch ein Rauschen, Windgeräusche oder das Summen von Bienen, die neben repetitiv absteigenden Basslinien, aber auch kleinen Melodieschnipseln zu hören waren. Nachdem der Aufbau des künstlichen Waldes beendet war, kümmerte sich die Performerin um eine Live-Videoaufnahme, die auf den großen Bildschirm hinter dem Orchester projiziert wurde. Die Aufgabe, die sich die Komponistin für dieses Konzert gestellt hatte, der Natur im Konzertsaal eine Stimme zu verleihen, wurde von ihr in diesem Setting tatsächlich hör- und sichtbar umgesetzt.

Madli Marje Gildemann interessiert sich für nachtaktive Vögel und versuchte, sich bei der Observierung in diese Tiere einzufühlen. In ihrer Komposition „Nocturnal Migrants“ erzeugt sie einen Schwebeklang, der an- und abschwillt und in ähnlicher, aber nicht derselben Ausführung wiederholt wird. Ein panisches Zirpen verrät an einer Stelle der Komposition Unheil, genauso wie ein sehr dunkel eingefärbter Part, der im Bass des Klavieres nach den Vogelangstlauten auftaucht. Der Grundtenor wird von einer Aufregung beherrscht, einer permanenten Anspannung, die erst beim Ersterben der Musik am Ende der Komposition nachlässt. Ihre Arbeit beschäftigt sich mit der Anziehungskraft von Licht, welche auf Vögel ausgeübt wird und letztlich fatale Folgen haben kann. Sie selbst beschreibt dies aber auch „als Metapher für die impulsiven und zwanghaften Verhaltensweisen von Menschen…die wenig Ahnung von den Motiven haben, die sie antreiben.“

„if left to soar on winds wings” von Karen Power entstand neben dem Live-Part des Klangforums aus aufgezeichneten Sounds, welche die Komponistin rund um den Erdball gesammelt hat. Bevorzugt geht sie an Orte mit wenig Menschen, um aber immer wieder aufs Neue festzustellen, dass es auf der Welt keine Orte mehr gibt, an welchen nicht schon Menschen waren und ihre Spuren hinterlassen haben. Was als Konstanzte überall zu hören ist, ist Wind – wenngleich auch in unterschiedlichen Ausformungen. Dieses Naturphänomen ist es auch, welches gleich zu Beginn ihrer Komposition zu hören ist. Auch in ihrem Werk kommen Zirpgeräusche und Vogelstimmen vor, das bestimmende Element bleibt jedoch der Wind, dem sogar die Funktion eines Generalbasses zugeschrieben werden kann. „Wie viele meiner Werke, so fordert auch „…if left to soar on winds wings…“ jeden Performer und Zuschauer auf, alle Klänge einfach als Musik zu hören, die wir noch nie zuvor gehört haben. Ich bitte uns alle, unsere Ohren zu öffnen und uns wieder mit unserer Umwelt zu verbinden, als etwas, das uns vereint, anstatt uns zu trennen, und unsere Macht und unseren Einfluss auf alles, was uns umgibt, zu überdenken.“ – so Karen Power in ihrem Statement, nachzulesen im Programmheft.

Originell zeigte sich die Aufführung von „Exercises in Estrangement II – L’animal que donc je suis“ von Sandeep Bhagwati.

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„Exercises in Estrangement II – L’animal que donc je suis“ (Foto: ORF musikprotokoll/Martin Gross)

Das Ensemble durfte sich dabei auf der Bühne choreografisch bewegen und fand dabei in immer neuen Konstellationen zueinander. Kniend zu Beginn, danach aber schreitend oder sich um die eigene Achse drehend, boten die Musizierenden in ihrem Tun nicht nur Hör- sondern auch Augenfutter. Ausgangsbasis für das Werk war ein Buch von Jacques Derrida, in welchem er den engen Verbindungen zwischen Tier und Mensch nachgeht. Die Musikerinnen und Musiker schlüpften immer wieder in die Rolle verschiedener Tiere und kommunizierten dabei beständig miteinander. Verbunden mit eingespielten Stimmen, deren Text zum Teil bewusst nicht verständlich ist, ergab sich so ein tierisch-menschlich-auditives Geflecht, dessen einzelne Komponenten keinen Schwerpunkt mehr bildeten. Vogelstimmen, Elefantenbrüllen, oder Zikadengezirpe, all das durfte man mithilfe der Umsetzung einzelner Instrumente aber auch aktivem Stimmeinsatz vernehmen.

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Schallfeld Ensemble (Foto: ORF musikprotokoll/Martin Gross)

Im zweiten Teil des Abends wurde vom Schallfeld-Ensemble „My fake plastic love“ von Sehyung Kim, Dune von Carlo Elia Praderio und Katharina Klements „Monde II“ aufgeführt. Das letzte Werk erlebte mit zwei wieder instand gesetzten Mischmaschinen eine Art „historische Aufführungspraxis“, wurden diese beiden doch schon in einer früheren Arbeit von Klement eingesetzt.

Aufgrund großer Ähnlichkeiten, besser gesagt, großer Verwandtschaften in Teilen der Kompositionen, darf man die Programmierung dieser Konzertabfolge als in sich sehr stimmig bezeichnen. Alle waren von immer wiederkehrenden Klangballungen sowie einem entgegen gesetzten Abschwellen gekennzeichnet. Sehyung Kim arbeitet mit unterschiedlichsten Klangfarben der Instrumente und gegen Schluss mit immer enger werdenden Intervallabständen. Praderios Komposition erfuhr man minimalistisch-kontemplativ und dunkel im Gesamteindruck. Klement setzt häufige Glockenklänge im Gegensatz zu den Geräuschen der Mischmaschinen ein. Elektronische Einspielungen erweitern ihren Klangkosmos, der auch durch immer wieder kehrende Passagen charakteristisch ist.

Ein bis zum Bersten gefüllter Konzertabend, der Neues bot, aber auch die Möglichkeit, Vergleiche zwischen einzelnen Kompositionen zu ziehen.

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