Zeitgenössische Kunst vom Feinsten

Zeitgenössische Kunst vom Feinsten

Das fulminante Abschlusskonzert des Festivals Musica in Strasbourg bestritt das Ensemble intercontemporain gemeinsam mit UnterstĂŒtzung des accentus – axe 21 unter der Leitung der finnischen Dirigentin Susanna MĂ€lkki.

Susanna MÀlkki, Alain Billard - Foto: © Aymeric Warmé-Janville

Susanna MÀlkki, Alain Billard - Foto: © Aymeric Warmé-Janville

Das Konzert war nicht nur von der Besetzung her vom Feinsten, sondern auch das Programm war so gut gewÀhlt, dass es schon Vorfreude auf die nÀchste Saison weckte. Werke vom japanischen Komponisten Dai Fujikura (geb. 1977) sowie vom Australier Yann Robin (geb. 1974) standen auf dem Programm, dessen Abschluss von Luciano Berios (1925-2003) Laborintus II zelebriert wurde.

Alle Werke verdienen die Bezeichnung zeitgenössische Musik tatsĂ€chlich, denn sie stehen in keiner Weise nachahmend und epigonenhaft in Traditionen, deren tief eingefahrenen Ackerwege nur mĂŒhsam entkommen werden kann. Ganz im Gegenteil. Lucianos Werk, entstanden 1965, in welchem er sich auf Dante bezieht, dessen Texte in einer Bearbeitung von Edoardo Sanguineti zum Einsatz kamen, hat von seiner ursprĂŒnglichen Frische ĂŒberhaupt nichts eingebĂŒĂŸt und kann heute noch als Meilenstein auf dem Weg vorwĂ€rts in eine neue musikalische Epoche gelten. Nicht umsonst ist es bewusst als Finale des gesamten Festivals ausgewĂ€hlt worden. Die Vermischung zwischen dem szenischen Spiel des ErzĂ€hlers, der sich zwischen den Musikern des Orchesters und den SĂ€ngern bewegt, die neuartige Stimmverwendung von rasendem Geschrei bis hin zu gezischelten und dennoch gut verstĂ€ndlichen Textpassagen, sowie der respektlose Umgang mit den Instrumenten, die sich weit von ihrem herkömmlichen, symphonischen Einsatz entfernen, verleiht diesem Werk zurecht Kultstatus. Beeindruckend waren die solistischen Leistungen von Fosco Perinti sowie ValĂ©rie Philippin, Laurence Favier Durand und ValĂ©rie Rio, die auch mit ihrer Spielfreude dazu beitrugen, dass die Grenze zwischen Kunst und RealitĂ€t nur mehr durch eine hauchfeine, unsichtbare Membran getrennt war. Sein ungestilltes Verlangen nach dieser Frau, das in Raserei und schließlich endgĂŒltiger Aufgabe umschlĂ€gt, berĂŒhrte und wĂŒhlte auf, seine LĂ€uterung erweckte Mitleid und als er schließlich sich neben das Dirigentenpult auf den Boden legte und seine Augen schloss, hatte man das BedĂŒrfnis diesen verletzten Menschen zu beschĂŒtzen – besser können Emotionen musikalisch ausgedrĂŒckt, nicht auf die BĂŒhne gebracht werden.

Dai Fujikura ist ganz ein Kind seiner Zeit, die von visuellen, elektronischen Medien geprĂ€gt ist. Er prĂ€sentierte „secret forest“ ein Werk aus dem Jahr 2008, in welchem er eine musikalische Natur erschafft, die er nach seinen WĂŒnschen gestaltet.  „Wenn ich im Wald bin, wĂŒrde ich den Vögeln am liebsten sagen, dass sie nicht so einen Krach machen sollen und ihre GesĂ€nge mehr abwandeln könnten“ meint der Komponist. Er teilt das Orchester in zwei Gruppen, einerseits den Streichern auf der BĂŒhne und andererseits den BlĂ€sern und Percussionisten, die er neben dem Publikum Aufstellung nehmen lĂ€sst und verbindet diese beiden Teile durch den Fagottisten, der inmitten des Publikums leicht erhöht thront. Ihm ist die Rolle des Mannes zugeschrieben, der durch den Wald schreitet und die beiden Elemente – die die Streicher, die sich durch die Dirigentin in Fujikuras Welt wie Marionetten leiten lassen und die BlĂ€ser – die das unbĂ€ndigbare Getier des Waldes imitieren, verbindet. Besonders schön gelang ihm der Schluss seines Werkes, in welchem er Wind- und Wasserrauschen imitiert und in die polyphone Partitur einarbeitet – bis hin zum allmĂ€hlichen Ausklingen, dem man noch lange in die Stille seines kĂŒnstlichen Waldes nachlauschte.

Als eine Überraschung und einen Höhepunkt zugleich muss das Konzert von Yann Robin bezeichnet werden. Die orchestralen SchlĂ€ge im Fortissimo, die schon von der ersten Note weg Schneisen in die Saalluft schnitten und ihre stĂ€ndige Wiederaufnahme, lassen zwar EinflĂŒsse gerade von Berio erkennen, sind aber so eigenstĂ€ndig verarbeitet, dass nicht der leiseste Gedanke an Eklektizismus aufkommen kann. Das Werk „Metal III“ ist der letzte Teil einer Serie, in welcher sich der Komponist mit der Kontrabassklarinette besonders auseinandergesetzt hat. Die Kraft, Macht, Brillanz, Energie und das Leuchten des Metalls standen laut seinen eigenen Aussagen Pate fĂŒr die Arbeit. Was man hingegen tatsĂ€chlich hört, sind Urschreie, GebrĂŒll, Gewinsel, Aufbegehren und Raserei von einer undefinierten Mensch-Tier-Gattung, die vor allem durch das Soloinstrument, gespielt von Alain Billard, ausgedrĂŒckt wird. Die Verfremdung und Einspielung ĂŒber die Lautsprecherboxen, kurz zuvor vernommener Töne und Laute, lĂ€sst das Publikum sich nicht nur inmitten dieses beinahe schon körperlich greifbaren, akustischen Geschehens befinden, sondern es verursacht dumpfe GefĂŒhle von Bedrohung und Irritation. Immer wieder schwappen die klanglichen Eruptionen des Orchesters in Soloparts der Kontrabassklarinette ĂŒber, in welcher alle Möglichkeiten, das Instrument zu verwenden, ausgeschöpft werden. Rein aspirierende, rhythmische KlĂ€nge wechseln mit solchen, in welchen Billard seine Stimme zugleich mit einsetzt, oder zeigen in aberwitzigen, sprunghaften Passagen, wie virtuos er sein Instrument beherrscht. Eine Komposition, die deutlich macht, dass Yann Robin eine Möglichkeit gefunden hat, dem instrumentalen, orchestralen Klangkörper eine neue Bedeutung zu verleihen. Er hat sich damit eine TĂŒre geöffnet, durch die er auf einem strahlenden Weg in seine persönliche, kĂŒnstlerische Entwicklung schreiten kann.

Dass der Abend so gelungen war, weil sich das Ensemble intercontemporain und accentus – axe 21 hier von seinen absoluten besten Seiten gezeigt hat, kommt schon einem Nebensatz gleich, der aber keinesfalls nebensĂ€chlich aufzufassen ist. Susann MĂ€lkki, die 40 Jahre junge Dirigentin mit dem knabenhaften Aussehen, sprengte alles, was landlĂ€ufig an Schemata des Weiblichen in den Köpfen geistert. Ihre Zartheit ist mit einer Kraft und Musizierfreude gepaart, die auch unter MĂ€nnern schwer zu finden ist. Ihre prĂ€zisen, mit feiner Gestik ihrer HĂ€nde unterstĂŒtzten, fĂŒr alle gut sichtbaren EinsĂ€tze, erinnern an Haltungen des klassischen Thai-Tanzes. Die schwierigen, zeitgenössischen Partituren scheinen keinerlei Herausforderung fĂŒr sie darzustellen, wirken vielmehr so, als hĂ€tte sie diese schon hundertfach vorher interpretiert. Susann MĂ€lkki ist eine absolute Ausnahmeerscheinung, der man wĂŒnscht, sich in die Reihe der Unsterblichen Dirigenten emporzuarbeiten. Wer jedoch einen Abend wie diesen erlebt hat, fĂŒr den oder die wird sie sowieso unvergesslich bleiben.

Das eigene Heim als Trauma und Traum

Das eigene Heim als Trauma und Traum

musikFabrik - Shelter - Foto: Klaus Rudolph

musikFabrik - Shelter - Foto: Klaus Rudolph

Shelter - Szenisches Konzert mit Videoprojektionen - Foto: Klaus Rudoph

Shelter - Szenisches Konzert mit Videoprojektionen - Foto: Klaus Rudoph

Die dunkle BĂŒhne ist von den rohen ZiegelwĂ€nden umgeben, in deren Mitte sie platziert ist. Kein BĂŒhnenbild im kĂŒnstlerischen Sinne, sondern eine BĂŒhne inmitten einer realen Architektur. Mit einem 16köpfigen Ensemble, einem Dirigenten, drei SĂ€ngerinnen sowie zwei zusĂ€tzlichen LeinwĂ€nden – eine hinter und eine vor den Musikern – kommt Shelter aus, um eine Reihe von Bildern im Kopf entstehen zu lassen, die von den filmischen Projektionen geleitet und von der Musik unterstĂŒtzt werden.

Shelter, dieses multimediale Spektakel mit der Musik von Michael Gordon, David Lang und Julia Wolfe, erzĂ€hlt von persönlichen Lebensmomenten, die jedoch in kollektiv Erlebtes kippen, wobei der Blick mehr zurĂŒck als noch vorne gerichtet ist. Die Musik switcht innerhalb der 7 gezeigten Filme, die von Bill Morrison ĂŒberarbeitet, collagiert und remixt wurden, zwischen Minimalmusic, wie man sie Ă€hnlich auch von Philipp Glass gehört hat, hin zu symphonischen RocksĂ€tzen; zwar schon lange her, aber noch immer beispielgebend von Deep Purple mit dem London Symphonic Orchestra vorexerziert, um auch elektronische UrvĂ€ter wie z.B. Kraftwerk aus Deutschland, zu zitieren, ohne diese jedoch wirklich zu kopieren.

Shelter – also Schutz im weitesten Sinne – zĂ€hlt auf, worin der Mensch Schutz sucht. In seinen eigenen vier WĂ€nden genauso wie in seiner Familie – immer jedoch am Rande der möglichen Katastrophe, und sei sie nur das ganz AlltĂ€gliche oder auch LĂ€cherliche. Bill Morrison lĂ€sst die Zuseher seiner Filme stets im Ungewissen. Sie pendeln zwischen reinen dokumentarischen Aufnahmen und angstschwangeren Aussagen hin und her wobei vor allem jedes SicherheitsbedĂŒrfnis vermieden wird. Selbst in Szenen wie jenen von amerikanischen Familien, die sich im Sommer zum Grillen treffen, meint man einen spĂ€teren, schlechten Ausgang der Idyllen voraussehen zu können. Shelter zieht vor allem durch die Live-Performance der Instrumentalisten aber auch der drei Vokalsolistinnen das Publikum in seinen Bann. Der Sopran von Amy Haworth und Micaela Hasiam sowie die Altstimme von Heather Cairncross kommen klar, manchmal schneidend und dringen immer durch alle Bildebenen in den Vordergrund. Dabei ist es egal, ob sie davon singen, wie sie sich ihrer Wohnung annĂ€hern oder wie viele einzelne Bauelemente ihr Haus besitzt.

Im Take „The boy sleeps“ , in welchem die schöne, minimale Komposition perfekt in Bilder umgesetzt wurde, gelingt ihnen der Transfer von einer persönlichen ErzĂ€hlebene hin zum Bewusstsein, dass viele Jungen nĂ€chtens schlafen, vor allem auch aufgrund ihres subtilen Stimmeinsatzes. Zu Beginn des Satzes lagert die Aussage „The boy sleeps“ auf einem einzigen Ton, der von den SĂ€ngerinnen oftmals repetiert wird. Nach und nach geht es in eine Polyphonie ĂŒber, der sich auch Instrumentalstimmen anschließen, bis es schließlich auch filmisch in eine Abfolge von hintereinander geschnittenen Filmsequenzen lĂ€uft, in welcher Buben – vom Baby bis hin zum Teenager – in ihren Betten schlafen. Die letzten filmischen EindrĂŒcke zeigen Überschwemmungen und Menschen, die ihr Hab und Gut mit Pferdekarren in Sicherheit bringen. Die Musik nimmt, auch unterstĂŒtzt durch eine harte Trommelpassage, an Dramatik zu und endet schließlich furios symphonisch. Wenngleich der Abend keine musikalische Brisanz von Avantgarde in sich trug, war er gelungen, wozu die Ensemblemitglieder der musikFabrik unter der Leitung von Peter Rundel maßgeblich beitrugen.

Orchester trifft auf Virtuosen

Orchester trifft auf Virtuosen

Les SiÚcles - © Simone Poltronieri

Les SiÚcles - © Simone Poltronieri

Ein Abend des großen Orchesters mit Werken zeitgenössischer Musik, so kann die Vorstellung des Ensembles Les SiĂšcles unter der Leitung von Francois-Xavier Roth in KĂŒrze zusammengefasst werden. Gleich vier zeitgenössiche Kompositionen kamen zur AuffĂŒhrung.

Zu Beginn war „So nah, so weit“ aus dem Jahre 2006 des jungen Komponisten Bruno Mantovani (geb. 1974) zu hören. Eine Arbeit, die mit Stereoeffekten im Orchester zu spielen wusste. Mantovani platzierte das Ensemble so, dass ein linker und ein rechter Klangkörper etwas getrennt voneinander saßen. Flankiert waren sie jeweils von einem Klavier. Überaus vielfĂ€ltig prĂ€sentierte sich dieses Konzert, mit schwingenden Stellen in den BlĂ€sern und Streichern, denen laute Rhythmuseffekte in den Schlagwerken aber auch im Klavier entgegengesetzt wurden. Kurze, hintereinander abrollende Sequenzen endeten mit abrupten, hart akzentuierten Schlussakkorden. NatĂŒrliche Laute, wie jenes eines weit entfernten Folgetonhornes oder eines tropfenden Wasserhahnes, imitierte Bruno Mantovani mit den Instrumenten meisterlich. Ein leises Ausklingen durch sparsame KlĂ€nge, die aus gegenĂŒberliegenden Klavieren ertönte, stand ganz im Gegensatz zur fulminanten, vorherigen Entwicklung. Ein sehr komplexes, schönes Werk, von großer Kurzweiligkeit.

Ihm folgte Wolfgang Rihms (geb. 1952) Versuchung von 2009, die er selbst eine Hommage an Max Beckmann nennt. Das Konzert fĂŒr Violoncello und Orchester ist so eigentlich falsch beschrieben. Eigentlich mĂŒsste es heißen fĂŒr Violoncello mit Orchesterbegleitung, denn der Part, den dieses Instrument ausfĂŒllt, ist nicht nur volumen- sondern auch raumgfreifend. Interpretiert wurde er von Sonia Wieder-Atherton, die in atemberaubender Weise Rihms Komposition umsetzte. Ihr Cello sang das komplette StĂŒck ĂŒber, zeigte kraftvolle, tiefe Lagen genauso wie saubere hohe Intonationen – und dies im raschen Wechsel hintereinander und ordnete sich nur einmal der Geige kurz unter, um deren Motiv sofort lagenversetzt laut nachzusingen. Rihms Komposition schwankt zwischen eruptiven AusbrĂŒchen und zarten, melodischen EinsprĂ€ngseln und verlangt von der Solistin 25 Minuten lang vollen Einsatz. Es zeigt, dass es auch heute noch möglich ist, ein Konzert fĂŒr ein Instrument und Orchester zu verfassen, welches imstande ist, das Publikum zu fesseln.

Ein jĂ€her Kontrast dazu stellte Marin Matalons Werk (Trame VIII) dar, das zum grĂ¶ĂŸten Teil von der Japanerin Eriko Minami beherrscht wurde, die eine Meisterin des Marimbaspieles ist. Sie zeigte dies dadurch, dass sie zwischen den einzelnen SĂ€tzen ihre Position zu unterschiedlichen Marimbas und Glockenspielen Ă€ndern musste und eine Partitur wiedergab, die fĂŒr sie aufgrund der weit auseinanderliegenden Melodiebögen nur tanzend zu bewerkstelligen war. Das Symbol der Zeit, eingeleitet durch ein feines Tik-Tak-Tik-Tak im Schlagwerk, zog sich wie ein roter Faden durch das Werk, dessen Steigerung im dritten Satz sich zu einem Höllentempo fĂŒr das Soloinstrument entwickelte. Bravouröse UnterstĂŒtzung dabei erfuhr Minami durch das Ensemble, das in keinem einzigen Konzert dieses Abends auch nur eine leichte SchwĂ€che zeigte. Im letzten, ruhigen Satz perlte zu Beginn das Klavier gemeinsam mit dem hohen Glockenspiel um von einem gemeinsamen Auf- und Abschwellen der BlĂ€ser abgelöst zu werden. Das langsame, leise hallende Finale wurde ĂŒberraschend, aber sinnvoll, vom zarten Rauschen einer Sambakugel beendet. Eine fulminante Darstellung, basierend auf einer fulminanten Komposition – schöner kann sich zeitgenössiche Musik wahrlich nicht mehr prĂ€sentieren.

Yan Maresz (geb. 1966) „Mosaiques“ von 1992/94 schloss schließlich den Bogen zu den beiden erstgehörten Werken dieses Abends. Auch er versteht zeitgenössische Musik unter Einsatz des gesamten Orchesters unter Referenznahme zu historischen Vorbildern und schließt sein vielschichtiges Werk in welchem Teile des Ensembles wie zum Beispiel die Streicher oder auch die BlĂ€ser mit gemeinsam intonierten Partien aufhorchen ließen . Sein augenzwinkernder Schluss, nach einer kurzen Pause eines einzelnen, langen Tones quasi noch einmal mit einem kleinen Stolperer versehen, brachte das Publikum zum Lachen – eine leider viel zu selten zu beobachtende GefĂŒhlsregung in einem Konzertsaal. Herausragend prĂ€sentierte sich Francois-Xavier Roth, der die Leitung an diesem Abend ĂŒber hatte. Sein körperlicher Einsatz tĂ€nzerischer Natur zeigte, wie stark er in die einzelnen Partituren eintauchte. Er hielt auch in den rhythmisch schwierigsten Passagen alle FĂ€den in seiner Hand und wusste auch die Solistinnen so zu unterstĂŒtzen, dass diese mit ihrer VirtuositĂ€t brillieren konnten.

In einer Viertelstunde von Lagrein nach Asien

In einer Viertelstunde von Lagrein nach Asien

Das Ensemle Recherche beim Festival Musica in Straßburg

Ensemble Recherche (c) Martin Geier

Ensemble Recherche (c) Martin Geier

Bereits zum wiederholten Male war das deutsche Ensemble Recherche, das bekannt fĂŒr seine zeitgenössischen Interpretationen ist, beim Festival Musica in Strasbourg eingeladen. Es gab dort eine Kostprobe seines virtuosen und musikalisch exzellenten Könnens, gleich mit fĂŒnf verschiedenen Kompositionen von ebenso vielen unterschiedlichen Komponisten. George Benjamin, Johannes Maria Staud, Hector Parra, Franco Donatoni und Hugues Dufourt waren mit Werken vertreten, die als große Klammer das beschreibende Element in ihren Kompositionen vereint. Unter den StĂŒcken waren auch zwei französische UrauffĂŒhrungen – „Lagrein“ vom österreichischen Komponisten Johannes Maria Staud sowie „L`Asie dÂŽaprĂšs Tiepolo“ vom französischen Komponisten Hugues Dufourt. Staud versuchte das KunststĂŒck, den Geschmack eines sĂŒdtiroler Rotweines, der ĂŒber eine bestimmte literarische Formel definiert wird, in Musik umzusetzen: „Mitteltiefe, intensive, kirschrote Farbe mit intensivem Schimmer. Reiches, fruchtiges (Zwetschge) wĂŒrziges Aroma mit Geruchsnoten von Leder, Teer und Kakao, aber auch floralen Nuancen (Veilchen). Voller, ziemlich milder Geschmack mit „erdigem“ Nachhall und spĂŒrbarem Gerbstoff“. Der Herausforderung, Geschmack in Musik umzusetzen, stellte sich Staud, indem er eine Ensemblebesetzung wĂ€hlte, die bereits bei Olivier Messiaens „Quartett auf das Ende der Zeit“ Anwendung fand. Klarinette, Klavier, Geige und Cello bieten ihm hierfĂŒr jene Ausdrucksmöglichkeiten, die sowohl zarte Geschmackstöne als auch tiefe, erdige, ja berauschende Wahrnehmungen wiederzugeben imstande sind. Staud verknĂŒpft in seiner Komposition aber nicht nur sensorische Sensationen sondern gelangt in seinem StĂŒck in eine Dramaturgie, die sich zu einer rauschhaften Steigerung hin entwickelt, so als ob zu viel des guten Tropfens konsumiert worden wĂ€re. Das eher schroffe Ende, spiegelt keinen sĂŒĂŸlichen Nachhall, was einem „Lagreiner“ – wie die Weine aus diesen Lagen allgemein genannt werden – tatsĂ€chlich entspricht. Am interessantesten bei dieser Komposition ist die Spannung, die sich dadurch ergibt, dass das Publikum einem musikalischen Prozess folgt, welcher sich zeitlich gĂ€nzlich anders gestaltet als die Zeit wĂ€hrend des Verkostens von Wein empfunden wird. Zwar explodiert innerhalb kurzer Zeit eine ganze Vielzahl von Aromen auf den Papillen und entwickeln sich wiederum andere subtiler im sogenannten „Abgang“ wie es in der Fachsprache der Vinophilen heißt, dennoch lĂ€sst sich diese zeitliche Abfolge nicht mit jener der Komposition ein Einklang bringen. Dies wird auch beim Hören mehr als deutlich, was dazu fĂŒhrt, auch anderen Assoziationen wĂ€hrend der AuffĂŒhrung freien Lauf zu lassen. Johannes Maria Stauds musikalische Umsetzung einer literarischen Abstraktion, die eine geschmackliche und olfaktorische Sinneswahrnehmung beschreibt, dĂŒrfte bis jetzt als einzigartig in der Musik gelten – man kann gespannt sein, ob das Experiment Nachfolger findet. Die zweite UrauffĂŒhrung stammt von Hugues Dufourt, der in seinem Werk „Asien – nach Giovanni Battista Tiepolo“ eine Beschreibung des bekannten Freskos in der WĂŒrzburger Residenz vornahm. In ihm erklang zu Beginn ein schnarrendes Thema von den  Streichern und BlĂ€sern gewaltvoll intoniert, welches vom Klavier mit AkkordanschlĂ€gen und langem Hall begleitet wurde. Auch im anschließenden Satz herrschten das Dunkel und die Bedrohung vor, ausgelöst durch starke Vibrati, die parallel in allen Instrumenten gespielt wurden. Erst eine eingeschobene Kadenz fĂŒr Glocken  und Schlagwerk durchbrach die dĂŒstere und dichte AtmosphĂ€re, die sich zu Ende des StĂŒckes, auch von den ĂŒbrigen Instrumenten wieder aufgenommen,  in eine beinahe schon meditative Sequenz auflöste. Dufourt gelang mit dem Werk eine musikalische Beschreibung des barocken GemĂ€ldes, welche sich auch als zeitgenössische Beschreibung dieses Kontinents lesen lassen könnte. Er vereint in dieser Komposition schwere, körperliche Last mit leichter, meditativer Gedanklichkeit und erntete dafĂŒr beim Straßburger Publikum zu Recht langanhaltenden Applaus. Das Ensemble Recherche erwies sich als genialer Klangkörper, der zeigte, dass gerade Musik keine Grenzen kennt.

Weitere Konzerte des Festival Musica sind noch bis 3. Oktober zu hören:

NĂ€here Infos unter: https://www.festival-musica.org

link Ensemble Recherche: https://www.ensemble-recherche.de/frame.php?version=high

Extremes vom Ensemble „In extremis“

Extremes vom Ensemble „In extremis“

Das bemerkenswerte Ensemble „In Extremis“ ließ im Rahmen des Festivals Musica in Strasbourg das Publikum im wahrsten Sinne des Wortes aufhorchen. Die aus ehemaligen Absolventen des Straßburger Konservatoriums zusammengesetzte Gruppe, unter der Leitung von Guillaume Bourgogne, prĂ€sentierte vier StĂŒcke von unterschiedlichen Komponisten, die eine weite Bandbreite zeitgenössischer Musik widerspiegelten.

Ensemble in Extremis (c): ensemble in extremis

Ensemble in Extremis (c): ensemble in extremis

Der Beginn, George Crumbs „Vox Balenae“ – zu Deutsch die Stimme des Wales, war ein gelungener Einstieg in das Programm. Crumb, der in diesem Jahr seinen 80. Geburtstag feiert, lehnt sich in seinen Kompositionen ganz nahe an die Natur und notiert gerne KlĂ€nge, die dem Publikum vertraut sind. Er lĂ€sst den Flötisten gleich zu Beginn seine Melodie nicht nur spielen, sondern auch in die Flöte mitbrummen, und baut rasch kurze KlangeindrĂŒcke auf, die arabische Wurzeln haben könnten. Das StĂŒck – in neun Intervalle unterteilt – ist kurzweilig, werden doch nicht nur die beteiligten Instrumente verfremdet eingesetzt, sondern wechseln sich auch ruhige, fast meditative Passagen mit TanzsĂ€tzen ab. Gegen Ende des StĂŒckes belustigen der Flötist und der Cellist mit einer kleinen, auf 6 Tönen gepfiffenen Melodie, die der letzte, tonale Satz schließlich aufnimmt und sphĂ€risch in einem kleinen Glockenspiel ausklingen lĂ€sst. Ein wunderschönes MusikstĂŒck, das die beteiligten Interpreten meisterlich zur AuffĂŒhrung brachten. Sie spielten mit einer sehr feinen, gegenseitigen Abstimmung und horchten den Tönen empfindsam nach und nahmen dennoch ihre EinsĂ€tze mit PrĂ€zision wahr. Die zweite Komposition stammte von dem Franzosen Philippe Hurel und machte deutlich, dass seine Art MusikverstĂ€ndnis sich grundsĂ€tzlich von Crumb unterscheidet. Das StĂŒck beginnt mit einem polyphonen Einsatz aller Instrumente, welcher zugleich von einer strengen Rhythmik geprĂ€gt ist, der alle Stimmen parallel unterliegen. Im Laufe der VorfĂŒhrung löst sich diese strenge Rhythmik, sowie auch die Polyphonie auf, zerfĂ€llt in einzelne, kleine Partien, nimmt andere Mikromotive auf um sich schließlich gegen Ende hin wieder polyphon und rhythmisch zu vereinigen. Ein Werk, welches dem Publikum ermöglicht, der Kompositionsstruktur zu folgen, die – obgleich im MittelstĂŒck stark auseinanderfließend – dennoch als sehr rigide empfunden wird. Wiederum – wie bei den beiden folgenden StĂŒcken auch – ĂŒberzeugte das Ensemble völlig. Die Wiedergabe von Gerard Pessons „Mes beatitudes“ stellte die grĂ¶ĂŸte Hörherausforderung an das Publikum, wird das StĂŒck doch zu großen Teilen in den höchsten Lagen der Instrumente gespielt oder gezupft oder auch nur angedeutet, was den Klang auf ein Wispern und leises Zischen reduziert. Ab und zu blitzen vereinzelte ausgestrichene Töne durch, die Rhythmik des StĂŒckes ist jedoch immer prĂ€zise mit zu verfolgen. Einzig der Klavierpart stellt ein zeitweise hörbares GerĂŒst fĂŒr die Streicher dar. So erscheint ein mehr gehauchter als gespielter Tanz schon wie ein lebensbejahender, wenngleich auch ferner Hoffnungsschimmer, in diesem StĂŒck, dessen SubtilitĂ€t durch die leisen Intonationen nicht mehr zu ĂŒberbieten ist. Zum Abschluss erklang Christoph Bertrands „Satka“ aus dem Jahre 2008, bei welchem sich der Straßburger Komponist auf die Zahl 6 der beteiligten Musiker in der Sanskritsprache bezieht. Es war eine reine Freude, das rasante StĂŒck zu hören und die Musiker dabei auch zu sehen. Über 12 Minuten dauert es insgesamt, in welchen es nur durch 4 kurze Unterbrechungen aus dem Höllentempo gerissen wird. Es gurgelt, perlt, fĂ€llt in Kaskaden ĂŒber mehrere Oktaven ab um bald danach wieder atemlos aufzusteigen und wird getragen von einer virtuosen Spielfreudigkeit, die vor allem an diesem Abend Lee Ferguson zuzuschreiben war. Wie ein Derwisch bewegte er sich zwischen seinen einzelnen Percussioninstrumenten – Marimba, Xylophon und einem kleinen Glockenwerk und spann so den roten Hörfaden durch die gesamte Partitur, ohne ihn je zu zerreißen. So einfach das Werk klingt – und daher wird es sich auch in den KonzertsĂ€len sicherlich rasch etablieren – so komplex ist es dennoch aufgebaut und so schwierig ist es zu spielen. Bertrand gelang mit dem StĂŒck ein Meisterwerk, das sich in die Ohren schmiegt und noch lange dort hĂ€ngen bleibt. Es macht neugierig auf Kommendes und verlangt unbedingt, den weiteren Werdegang des KĂŒnstlers zu verfolgen. Ein extremer Abend, dessen Erfolg sich sowohl Komponisten als auch alle beteiligten Interpreten zu Recht teilen können.

Weitere Infos zu den Musikern finden Sie unter: https://ensembleinextremis.free.fr/index2.htm

Pin It on Pinterest