Verlorene Paradiese

Verlorene Paradiese

Verlorene Paradiese

Von Michaela Preiner

„atlas der abgelegten inseln“ (Foto: © anja koehler | andereart.de)
15.
November 2017

Die Stella-preisgekrönte Inszenierung „Atlas der abgelegenen Inseln“ bot eine Wechseldusche der Gefühle, bei der das junge Publikum innerhalb kurzer Zeit nicht nur die Entdeckerlust, sondern auch die Zerstörung der Naturparadiese nachvollziehen konnte. 

Inseln sind Brenngläser, Schneekugeln komprimierter Natur und Zivilisation. Petrischalen des Klimawandels, Seziertische der Globalisierung.

So liest man in der Ankündigung zu „Atlas der abgelegenen Inseln“ der makemake Produktionen auf der Website des Dschungel Wien über das Musiktheater nach dem Buch von Judith Schalansky. Das Stück, von Sarah Ostertag inszeniert und im Rahmen von Wien Modern im November im Dschungel präsentiert, wurde von Hannes Dufek (Platypus) anschaulich und vielfältigst musikalisch illustriert. Samuel Eder an der Klarinette und Zuko Samela (Viola) bedienten zusätzlich noch verschiedene Persussionsinstrumente und unterlegten das Geschehen mit einer spannenden, Klangatmosphäre. Michèle Rohrbach agierte als Erzählerin, die von verschiedenen Inselentdeckungen berichtete. Von unwirtlichen Inseln, die nicht bewohnt werden können, von Südseeinseln, von denen die Ureinwohner bald so kolonialisiert waren, dass sich die alten Riten und Gebräuche ganz verabschiedeten, von solchen, auf denen sich selbsternannte Comtessen mit Liebhabern vergnügten, um auf mysteriöse Weise dann von der Bildfläche zu verschwinden und vielen anderen mehr.

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„atlas der abgelegten inseln“ (Foto: © anja koehler | andereart.de)

Mit Laura Eva Meuris als Performerin, die in viele Rollen schlüpfte und das Publikum mit ihren Auftritten immer wieder aufs Neue überraschte, erhielt die Vorstellung einen zusätzlichen, tollen zeitgenössischen-Tanz-Drive. Das abwechslungsreiche Geschehen, mit vielen Video-Einspielungen und der Visualisierung der Inseln auf ihren Längen- und Breitengraden, veränderte die Bühne von einer sauberen, ordentlich strukturierten hin zu einer komplett vermüllten, auf der am Schluss viele Plastiksäcke, jede Menge Klamotten000 und andere Requisiten den Boden bedeckten. Eine wunderschöne, zugleich aber auch bittere Metapher für die Vermüllung unserer Meere und die Zerstörung der paradiesischen Inseln, die eine große Herausforderung für die Menschheit darstellt. Auch der Eisbär, der von der Treppe hinter dem Publikum langsam auf die Bühne kroch, entledigte sich letzten Ende seines Felles und wandelte sich zu einer Sonnenanbeterin auf den künstlich angelegten Inseln der Arabischen Emirate. 

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„atlas der abgelegten inseln“ (Fotos: © anja koehler | andereart.de)

Der Spaziergang quer durch die Inselwelten und die Jahrhunderte machte einerseits hoch poetisch die Entdeckerlust der einzelnen Kolonialmächte nachvollziehbar, zeigte aber andererseits auch das Zerstörungspotential dieser Unternehmungen auf. Aber er machte auch Lust, sich selbst auf Entdeckungsreisen zu machen – wenn auch heute mit einem anderen Ziel, nämlich die Natur für die kommenden Generationen zu erhalten. Der dystopische Schluss sollte darüber nicht hinwegtäuschen. „Atlas der entlegenen Inseln“ kann als Gesamtkunstwerk bezeichnet werden, in dem sich Musik, Tanz, Erzählung, Videoeinspielungen und andere Projektionen wie ganz natürlich verschränken. Ein Musik-Theaterstück nicht nur für junge Menschen mit jeder Menge aktuellem Diskussionsstoff.

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Die konzentrischen Bruegel-Kreise

Die konzentrischen Bruegel-Kreise

Die konzentrischen Bruegel-Kreise

Von Michaela Preiner

„Burning Bright“ von Hugues Dufourt (Foto: Markus Sepperer)
10.
November 2017
Sehr persönliche Gedanken zum französischen Komponisten Hugues Dufourt und seinem „Burning Bright“.
Bernhard Günther, Intendant von Wien Modern, hatte den französischen Komponisten Hugues Dufourt nicht nur zu einem Publikumsgespräch ins Konzerthaus eingeladen, sondern ihm auch eine ganz spezielle Bühne im Kunsthistorischen Museum angeboten. Dort stand er, der schlanke Mann, in dunkelblauem Anzug mit Hemd, Weste und Krawatte elegant gekleidet und hielt vor rund 30 Interessierten eine Rede – nicht über Musik – sondern über die Landschaftsauffassung von Pieter Bruegel dem Älteren. In Frankreich werden Intellektuelle und Kreative eines Schlages von Hugues Dufourt sehr geschätzt. Menschen, die fähig sind, über ihren Tellerrand hinauszublicken und mithilfe ihrer eigenen Kreativität Neues zu schaffen, das spartenübergreifend neue Blickwinkel ermöglicht, neue Horizonte eröffnet und das Leben insgesamt reicher macht, werden im intellektuellen Diskurs gerne gehört.

Die Einladung von Wien Modern macht deutlich, dass eine mittlerweile globale Strömung auch bei uns angekommen ist, die dazu übergeht, auch den wissenschaftlichen Bereich mit einem neuen Impetus zu versehen.

Schon seit Längerem ist ein gewisses Unbehagen am strengen, wissenschaftlichen Regelwerk und seinen damit verbundenen Restriktionen zu erkennen. Immer stärker kommt der Wunsch auf, sich einem bestimmten Gebiet intuitiv zu nähern und was würde sich dafür besser eigenen als das große Feld der Kunstproduktion? Einen lesenswerten Beitrag lieferten im vergangenen Jahr Silke Bake, Peter Stamer und Christl Weiler (als Herausgeber) in ihrem kleinen Büchlein „How to collaborate“ ab. Darin gehen sie der Frage nach, wie man durch neue, höchst kreative Ansätze spartenübergreifend zusammenarbeiten kann. Schon alleine das Lesen ist höchst vergnüglich, findet man darin doch rein gar nichts wissenschaftlich Verklausuliertes, sondern vielmehr anschaulich formuliert, wie grenzübergreifendes Denken und Zusammenarbeiten heute stattfinden kann.

Die Ausführungen von Dufourt waren erstaunlich, lenkten sie doch den Blick auf einen Bruegel, der mir bis dahin gänzlich verborgen geblieben war. Für mich stand das bunte Treiben der Menschen in allen Bildern im Vordergrund. Ich war erstaunt über die Vielfalt, die vom Künstler im Rahmen eines bestimmten Themas aufgezeigt wurde, die Landschaft selbst aber war für mich nur so etwas wie eine Staffage.

Dufourt jedoch hat einen gänzlich anderen Zugang, ja man könnte beinahe sagen, dass sich für ihn das Verhältnis genau verkehrt darstellt. Die Natur ist das, was für ihn bei Bruegel ein unabdingbares Kontinuum darstellt. Ein Kontinuum, das sich auch im Wandel der Jahreszeiten zeigt, denn Frühling, Sommer, Herbst und Winter kommen kontinuierlich immer wieder. Jedes Jahr aufs Neue. Die Natur – so sieht es der Komponist – der sich nicht nur mit Bruegel intensiv auseinandergesetzt hat – sie ist das, was die Menschen auf den Bildern des niederländischen Malers so klein und letztlich auch bedeutungslos erscheinen lässt. Sie spiegelt das Großartige dieser Welt wieder, das Treiben der Menschen ist hingegen fixiert auf kleine Vergnügungen oder auch die Mühsal, die ein bäuerliches Leben in der Zeit Bruegels mit sich brachte.

Es ist also nicht der Mensch, der in seiner Interpretation im Zentrum der Darstellung steht, sondern die Natur mit all ihren großartigen Schöpfungen wie Bergen und Tälern, Eis und Schnee, Flüssen, Seen und ihrem alles überspannenden, wolkenüberzogenen Himmel. Dufourt bringt mit dieser Interpretation eine Art Shiftwechsel zustande. Das, worauf sich alle Welt beinahe wie besessen konzentriert, wird bei ihm nachrangig. Nicht, dass es nicht wichtig wäre, aber die Größe der Natur, ihre Unbeugsamkeit, ihre Unabhängigkeit vom Menschen ist es, die er in Bruegels Bildern vorrangig zu erkennen glaubt. Damit ermöglicht er eine philosophische Diskussion, die bis ins Heute hereinragt. Was bedeutet Menschsein in unserer Zeit? Was blieb von dieser unbeugsamen Natur übrig? Wo sind unsere Mühen und Plagen und wie haben wir die einst so majestätische Naturkonstante dermaßen manipuliert, dass es den Anschein hat, dass auch diese bald schon aus dem Lot geraten werden? Aus welchen Blickwinkeln schauen wir heute auf unsere Erde? Der Blick aus dem All ist seit der Bruegel-Zeit hinzugekommen, genauso wie jener, der unter den Mikroskopen allerkleinste Lebensbausteinchen erkennbar macht.

Dufourt und die „Musique spéctrale“

Dufourt gehört zu den Begründern der „Musique spéctrale“. Zu jener Musikrichtung, die er und einige Mitstreiter am IRCAM in Paris in den 70er Jahren auszuformulieren begannen. Ausgangspunkt dabei war die neue Technik elektronischer Sichtbarmachtung von auch nur allerkleinsten Klangphänomenen. Zum ersten Mal konnten Komponierende und Musizierende wie durch ein Mikroskop auf den Klang schauen, ihn in kleinste Einheiten zerlegen und sich Fragen stellen, die eine andere Basis als die bisherige, musiktheoretische hatten.

Die Naturwissenschaft und die Entwicklung von Computern erlaubten nun eine Sicht auf die Musik, die sich mit all dem, was zuvor in den Köpfen verankert war, nicht vergleichen lässt. Hier fand also auch ein radikaler Shiftwechsel statt. Dufourt nutzte von Beginn an die neuen, technischen Mittel, die ihm in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts zur Verfügung standen. Aber ihm war auch bald klar, dass die Intuition ein wichtiger Bestandteil seiner Komponiertätigkeit bleiben musste.

„Mit den damaligen Computern dauerte die Produktion von drei Minuten Musik über einen Monat“, erzählte er rückblickend über seine Beschäftigung mit den neuen Medien. Da lag es auf der Hand, dass die Intuition und das herkömmliche Schreiben von Musik nicht ihren Stellenwert verloren hatten, sondern wieder in seinen Fokus treten mussten. „Es war klar, dass wir auf rein elektronischem Wege in respektabler Zeit keine Konzerte mehr auf die Bühne gebracht hätten.“ Dennoch hatte sich sein Verständnis für die Musik verändert.

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„Burning Bright“ von Hugues Dufourt (Foto: Markus Sepperer)

Burning Bright

An seinem 2014 entstandenen Werk „Burning Bright“, das in der Halle G des MuseumsQuartiers aufgeführt wurde, kann sehr gut nachvollzogen werden, dass die Recherchen am IRCAM auch einige Jahrzehnte später noch immer Auswirkungen auf sein Komponieren haben. Aber auch, dass Dufourt ein stets Suchender ist, was neue Klangmöglichkeiten betrifft. Was ad hoc bei dem Konzert auffiel, war die Unzahl an Percussions-Instrumenten, die von sechs Musizierenden der „Percussions de Strasbourg“ gespielt wurden. Mit Bedacht wurden diese so eingesetzt, dass ihnen ausreichend Zeit für die jeweilige Klangentwicklung gelassen wurde. Das ist ein Umstand, den Dufourt beim Komponieren berücksichtigen musste, um keine Klangüberlagerungen zu riskieren. Die dicht gesetzte, blockweise Aufstellung der Instrumente rahmte eine quadratische, schwarz spiegelnde Wasserfläche ein, die optisch dem Kunstwerk von Noriyuki Haraguchi glich, dass dieser für die Ausstellung „Das Schwarze Quadrat“ in der Hamburger Kunsthalle 2007 installiert hatte.

Für das Wasserbecken des Dufourt-Konzertes, genauer für dessen Beleuchtung, konnte niemand Geringerer gewonnen werden als Enrico Bagnoli. Der Lichtmagier fühlt sich auf allen großen Bühnen dieser Welt zuhause und arbeitet normalerweise mit einem Equipment, das sich in Österreich keiner der Veranstalter leisten könnte. Mangels eines solchen musste er sich für die Lichtinszenierung aber etwas Besonderes einfallen lassen. „Wenn die technische Ausstattung aufgrund der begrenzten finanziellen Mittel, wie in diesem Fall, nicht groß ist, dann dauert es ein bisschen länger, bis die Lichtführung steht“, erklärte er bei einem Gespräch vor der Aufführung in Wien.

Dieser stille, schwarze, regungslose, kleine See drängte die Musikerinnen und Musiker an seine Ränder. Anfänglich erschien das Dunkel der Wasserfläche völlig unbewegt, bis in dessen Mitte eine kleine Blase auftauchte. Ihre sich ruhig ausbreitenden, konzentrischen Wasserringe wurden lichttechnisch gekonnt in Szene gesetzt und auf die weiße Stirnwand dahinter projiziert. Ein Bläschen, nach einer Ruhepause noch eines, dann abermals eines stieg ruhig und gelassen an die Wasseroberfläche. Ganz unabhängig davon, was die Musik erzählte. Nach einer anfänglichen Vibraphonkaskade, einem Kratzen an den hängenden Gongs und einem Streichen an den Becken, das mittels Geigenbögen erfolgte, war rasch klar, dass Dufourt die aufgebauten Instrumente in all ihren Möglichkeiten der Klangproduktion zum Einsatz bringen würde.

Bald hatte sich eine dunkle Klangwolke mit Passagen aufgebaut, in denen der Sound so an- und wieder abschwoll, dass dieses Muster etwas Organisches erhielt. War es das Atmen einer dunklen Macht, das nur durch schreiende Dissonanzen der Blechinstrumente gestoppt werden konnte? Waren es zu Klang formierte Ängste, die sich im Raum ausbreiteten? Immer wieder unterbrach hartes Unisonospiel auf verschiedenen Instrumenten und kurze Trommelwirbel die breite, flächig angelegte Atmosphäre, die sich mit einem Schlag änderte, als man das Gefühl hatte, sich plötzlich weit entfernt vom Klanggeschehen zu befinden. Und wieder bestimmte bald darauf ein Krächzen und Ächzen, ein lautes Schnauben und Atmen das Hörerlebnis, das sich zu einer Klangmasse verdichtete, das an der Schmerzgrenze lag.

Neben all den akustischen Erlebnissen war auch die Beobachtung des Geschehens auf der Bühne selbst spannend. Einer der Percussionisten tauchte einen Gong in ein durchsichtiges, halbkugeliges Wasserbecken, während das Instrument in Schwingung versetzt war. Später stieg der Musiker sogar in den bis dahin unberührten See, um auf einen kleinen, schwimmenden Klangkörper zu trommeln. Die Wellenbewegungen, die dabei entstanden, nahmen an Dramatik zu und bildeten, gemeinsam mit der verdichteten und verstärkten Klangintensität, den Höhepunkt der einstündigen Komposition. Damit war das musikalische Drama an einem Punkt angelangt, an dem alles aus dem Lot geraten schien. Doch schon wie zuvor immer wieder angekündigt, ebbte die Klangexplosion wieder ab und zogen die konzentrischen Kreise wieder ihre bekannten, ruhigen Bahnen. Die allerletzten Hörerlebnisse setzte Dufourt mit Bedacht und ließ das Geschehen im Pianissimo verhallen.

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„Burning Bright“ von Hugues Dufourt (Foto: Markus Sepperer)

Dufourts „Burning bright“ ist mit einer so großen Interpretations-Spannbreite ausgestattet, dass es wahrscheinlich so viele Kopf-Filme gibt, wie Zuhörerinnen und Zuhörer im Publikum saßen. Davon abgesehen, drängte sich mir während der Darbietung immer wieder der Vergleich mit seinen Ausführungen über die Natur bei Bruegel auf. Die Konstante – im Konzert durch die konzentrischen Kreise visualisiert – wird gegen Ende der Vorführung zwar erheblich gestört, letztlich jedoch bildet sie dennoch einen festen Anker, der sich zwar nicht als unverwundbar, aber doch als optischer Rettungshalm erwies. Auch wenn dies vom Komponisten nicht so intendiert war, machen Gedankenspiele wie diese doch eine große Freude und zeigen vor allem eines auf, dass ein Kunstwerk, eingebunden in einen intrinsischen, philosophischen Diskurs, wie es bei Dufourt der Fall ist, sich offenbar selbst seine Bezugspunkte abzuholen weiß, ob bewusst oder unbewusst spielt dabei keine Rolle.

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Das Vermächtnis der Vielzuvielen

Das Vermächtnis der Vielzuvielen

Das Vermächtnis der Vielzuvielen

Von Michaela Preiner

„Das Floß der Medusa“ (Foto: Markus Sepperer)

03.

November 2017

Es gibt viele Theateraufführungen, die eine bewegte Geschichte aufweisen. Entweder wurden sie von der Zensur verboten, fielen beim Publikum durch oder ernteten Proteststürme vor, während oder nach der Aufführung.

In der Musikgeschichte findet sich dieses Phänomen schon weitaus weniger oft. Eines der bekanntesten Beispiele im 20. Jahrhundert dafür ist jedoch Hans Werner Henzes „Das Floß der Medusa“. Er komponierte das „Oratorio volgare e militare in due parti“ in den Jahren 1967/68 zu einem Text von Ernst Schnabel. Dieser fügte seiner eigenen Lyrik Sätze aus Dantes Göttlicher Komödie hinzu.

Ein Schiffsunglück im 19. Jahrhundert

Im „Floß der Medusa“ behandelte das Duo Henze/Schnabel eine wahre Begebenheit – nämlich das Schiffsunglück der Medusa, die sich unter französischer Königsflagge auf den Weg in den Senegal machte, unterwegs jedoch auf ein Riff auflief und sank. Ein Teil der Besatzung – vornehmlich die hohen Chargen – fanden in den Rettungsbooten Platz. 154 Menschen mussten ein selbst gezimmertes Floß besteigen, das von den Rettungsbooten schon nach wenigen Stunden im Schlepptau gekappt wurde. Als es durch einen Zufall nach 13 Tagen gefunden wurde, gab es nur 15 Überlebende. Schriftliche Aufzeichnungen von zwei Männern, die von der Zensur verboten wurden, führten schließlich dennoch dazu, dass, wie Christoph Becher im Programmheft vermerkte, Historiker heute davon ausgehen, dass die haarsträubende Erzählung vom selbstsüchtigen und unverantwortlichen Verhalten der Befehlshaber zur Befeuerung der Julirevolution beitrug, die 1830 die Bourbonendynastie stürzte. Henze und Schnabel sahen in dem Thema eine Allegorie für die Tendenz von Hierarchien zu Unmoral und Unterdrückung. Dass sich gerade auch heute viele analoge Beispiele finden lassen, welche diese These untermauern können, zeigt, wie brandaktuell Henzes und Schnabels Werk wieder geworden ist.

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Das Floß der Medusa (Foto: Markus Sepperer)

Tumulte in Hamburg, Uraufführung in Wien

Als es in Hamburg zur Uraufführung gebracht werden sollte, weigerte sich der Chor der RIAS, der aus dem amerikanischen Teil Berlins angereist war, unter der roten Fahne zu singen, die auf dem Podium angebracht worden war. Die tumultartigen Szenen, die zwischen Befürwortern und Gegner der Aufführung stattfanden, verhinderten schließlich die Uraufführung, die erst 1971 im Musikverein in Wien stattfand. Henze, zu jener Zeit von den Studentenrevolten in Deutschland politisiert und mit der APO in Verbindung, setzte ein viriles, politisches Lebenszeichen an den Schluss seines Oratoriums.

Das Konzert im Rahmen von Wien Modern am Allerseelenabend wurde, wie zu erwarten, von keinerlei Protestaktion gestört. Cornelius Meister dirigierte das RSO, eine kleine Auskoppelung der Wiener Sängerknaben und den Arnold Schönberg Chor wie immer souverän und einfühlsam zugleich. Mit Sarah Wegener, die den Part des Todes „La Mort“ übernahm und Dietrich Henschel, der für Matthias Goerne kurzfristig einsprang, stand eine Solistin und ein Solist am Podium, die ihre schwer zu singenden Rollen nicht nur technisch hervorragend meisterten. Wegener agierte als personifizierte Verführung in weißem Abendkleid mit geschmeidigem Timbre. Henschel gab Jean-Charles seine Stimme, jenem dunkelhäutigen Mann, der auf Théodore Géricaults Gemälde „Le Radeau de la Méduse“, den Betrachtenden abgewandt, mit blankem Oberkörper und wehendem, roten Stoff das kleine Schiff in der Ferne beschwört, das schließlich die Rettung für das Grüppchen Überlebender bedeutete.

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Sarah Wegener als „La Mort“ (Foto: Markus Sepperer)

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Dietrich Henschel als „Jean-Charles“ (Foto: Markus Sepperer)

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Arnold Schönberg Chor (Foto: Markus Sepperer)

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Wiener Sängerknaben (Foto: Markus Sepperer)

Musikalisch extrem vielschichtig

Henzes Musik zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass sich der instrumentale Part und jener des Chors in einem höchst ausgewogenen Verhältnis zueinander befinden. Der Chor teilt sich mit Fortschritt der Aufführungsdauer in zwei Gruppen; eine rechte und eine linke – die rechte sinnbildlich für die Toten, die linke für die noch Lebenden. In seiner klanglichen Expressivität und Farbigkeit kann er locker mit dem Orchester mithalten und in beeindruckender Weise das Elend, die Angst und die Todesverlockung beinahe bildlich illustrieren. Gleich zu Beginn, während von der Einschiffung berichtet wird, lässt Henze mit lauten, scharfen Dissonanzen im Fortissimo das spätere Unheil bereits ankündigen. Der Gang auf das Rettungsfloß wird mit dunklen Pauken unterfüttert. Mit solch illustrativer Kraft hebt er dabei dramatische Vorgänge ebenso hervor wie innige, zutiefst berührende. Ein Beispiel dafür ist der vielstimmige Aufschrei in jenem Moment, der das Kappen der Leinen von den Rettungsbooten zum Floß veranschaulicht. Diese laute, instrumental begleitete Markierung gräbt sich genauso markant ins Gehörgedächtnis ein wie das kleine Lied der beiden Matrosenjungen, die als erste sterben und mit zarten Stimmchen noch einmal ihre Jugend markieren. Ganz im Widerspruch zum teils hektischen, klanglich extrem verdichteten, zum Schluss hin apathischen, musikalischen Treiben hat Henze die Rolle des Todes angelegt. Stoisch, verlockend „Kommt, Vielzuviele!“, aber immer siegessicher steht Wegener vor Chor und Orchester und verführt die Todgeweihten mit engelsgleicher Samtstimme bis hin zu unausweichlichen Befehlstönen im höchsten Diskant.

Ho, Ho, Hồ Chí Minh!

Henzes politisches Statement – an den Schluss gesetzt, kündigt sich durch leises, rhythmisches Summen der Sängerinnen und Sänger an. Zu Beginn diffus und kaum wahrnehmbar, schwillt es zu klar und deutlichen Ho-Ho-Ho-Chi-Minh-Rufen an. Jenem Schlachtruf, mit dem vor allem in Deutschland die linken Proteste gegen den Vietnamkrieg begleitet wurden. Mit Ernst Georg Schnabels allerletztem Satz, gesprochen von Charon (Sven-Eric Bechtolf agierte nicht nur artikulationsstark, sondern auch rhythmisch sicher), wird der Zusammenhang mit dem Unglück auf dem Floß klar: „Die Überlebenden aber kehrten in die Welt zurück: belehrt von Wirklichkeit, fiebernd, sie umzustürzen.“

Die Aufführung von Henzes „Floß der Medusa“ im Wiener Konzerthaus kann von vielen, verschiedenen Blickwinkeln aus betrachtet werden. Ganz dem Motto des Wien-Modern-Festivals „Bilder im Kopf“ verpflichtet, eröffnet es eine schreckliche Bilderflut, der man sich nicht entziehen kann. Henzes Musik, unbändig und roh, zugleich aber auch Schnabels und Dantes Lyrik feinsinnigst verpflichtet und zutiefst emotional, kann seine Singularität im Konzertkanon des 20. Jahrhunderts nach wie vor behaupten. Die Tatsache jedoch, dass die große Vision, die hinter diesem Werk so kräftig durchblitzt – die Gleichheit und Selbstbestimmtheit aller Menschen ohne Unterschied von Stand und Rang – auch heute wieder ein so großes Thema ist, ist bestürzend.

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Wir möchten unsere Begeisterung mit noch viel mehr Menschen teilen

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Bernhard Günther (Foto: nafezrerhuf.com)

27.

Oktober 2017

Ein Gespräch von Michaela Preiner mit Bernhard Günther, dem künstlerischen Leiter von Wien Modern, über den Geist des Festivals, herausragende Produktionen dieser Saison, gängige Vorurteile und einen riesigen Skandal.

Wien Modern feiert mit 6 großen Produktionen und gut 3 Dutzend kleineren seine 30. Ausgabe. Grund genug, Bernhard Günther, seit vorigem Jahr künstlerischer Leiter, ein wenig über die Konzeption des Festivals für zeitgenössische Musik und die Highlights dieser Saison zu befragen.

Könnten Sie kurz skizzieren, was den Geist von Wien Modern auszeichnet?

Wien Modern wurde erfunden, damit man durch das Festival einen Einstieg in die zeitgenössische Musik findet. Der Ausgangspunkt von Claudio Abbado 1988 war ja die Überzeugung, dass diese Musik in die großen Säle gehört und das Vertrauen darauf, dass sie diese auch füllen kann. Am Anfang von Wien Modern steht die Behauptung: Diese Musik eignet sich für viel mehr Menschen, als man glaubt.

Wien hat unter den Städten wie Paris, Warschau, Straßburg, Berlin, die große Festivals für zeitgenössische Musik veranstalten, tatsächlich ein besonders großes, musikbegeistertes Publikum. Wir zählen zwischen 500 und 700 Menschen, die zu unserem Stammpublikum gehören, regelmäßig einen Generalpass kaufen und in viele Veranstaltungen gehen. Aber insgesamt ist ein Festival, das nur zeitgenössische Musik präsentiert und wie im letzten Jahr damit 27.000 Leute erreicht, wahrscheinlich weltweit einzigartig. Das gibt es so nur in Wien, und das spricht für die Stadt und den Grad ihrer Neugier und Musikbegeisterung. Deswegen ist in Wien ein so großes Ausrufezeichen für die zeitgenössische Musik, wie Wien Modern es ist, am richtigen Ort.

Wenn jemand ein Konzert besuchen möchte, aber keine Ahnung von zeitgenössischer Musik hat, wo soll er oder sie anfangen im diesjährigen Programm zu suchen?

Wir haben heuer im Jubiläumsjahr sehr viele große Produktionen. Beispielsweise die sechs großen Veranstaltungen, die ganz in der Tradition des Kunstvertrauens von Claudio Abbado stehen. Das trauen wir uns, weil wir von dieser Musik begeistert sind und glauben, dass sich die Begeisterung mit noch viel mehr Menschen teilen lässt, als sich ohnehin schon interessieren.

Das diesjährige Generalthema ist „Bilder im Kopf“. Hat man nicht ohnehin bei jedem Musikhören Bilder im Kopf?

600 Bilder im Kopf Abbildung Meyers grosses Konversationslexikon 1905

Bilder im Kopf (© Meyers großes Konversations-Lexikon 1905)

Der Titel richtet sich auch an die Menschen, die noch das Klischee von der trockenen, komplizierten, grauen Materie „zeitgenössische Musik“ mit sich herumtragen. Die neue Musik ist ja über Jahrzehnte hinweg in einem sehr technikorientierten, expertenlastig herüberkommenden Diskurs kommuniziert worden. Da gibt es beispielsweise das Stichwort des „Bilderverbots“, das tatsächlich in der deutschsprachigen Musik des 20. Jahrhunderts eine Rolle gespielt hat. Da wurde diskutiert, dass zeitgenössische Musik nicht bildhaft sein dürfe, die Konstruktionsmerkmale standen im Vordergrund, Sinnlichkeit, Assoziationen und Phantasie kamen dabei nicht vor. Der Versuch, diese wilden Assoziationen, die beim Hören von Musik in vielen Fällen in Gang gesetzt werden, in der Kiste zu halten, ist aber nicht ganz gelungen. Ein paar dieser großen Momente in der Musikgeschichte der letzten Jahrzehnte, in denen sich die Bildhaftigkeit wieder freigekämpft hat, zeigen wir heuer im Festival.

Das größte und am umfangreichsten zu erlebende dieser Beispiele ist zugleich auch – in rein musikalischen Metaphern gesprochen – das farbenprächtigste: Ab den 1970er Jahren entstand in Paris die sogenannte „Musique spéctrale“. Die Spektralmusik hatte mit mehreren Dingen zu tun: Einerseits sagte sich eine damals junge Komponistengeneration in Frankreich: „Diese technische Konzeption von Boulez bis Barraqué, der entspricht nicht unserer Vorstellung von Musik.“ Sie haben sich dann neu auf das Phänomen des Hörens fokussiert. Darauf, den Klang als etwas sehr Konkretes zu vermitteln und nicht als etwas, worüber man theoretische Beschreibungen abliefert, oder als etwas, das man quasi mit Hilfe von Konstruktionsplänen erzeugt. Es ging ihnen wirklich um die physische Qualität des Klangs an sich. Und gleichzeitig kamen damit auch Titel in die Musik zurück, wie man sie vielleicht zuletzt bei Debussy hatte, zum Beispiel „Treize couleurs du soleil couchant“ – „Dreizehn Farben der Abendsonne“ oder „La barque mystique“ – „Das mystische Boot“. Die Spektralmusik war tatsächlich einer der großen Befreiungsschläge für die Musik des 20. Jahrhunderts, mit großen Folgen für die Musik des 21. Jahrhunderts. Das ist eine Musik, die vollkommen anders klingt als die Nachkriegsavantgarde. Eine Musik, die wir in vielen sehr spannenden Werken im Festival präsentieren.

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Burning Bright/Hugues Dufourt (Foto: Christophe Daguet)

In welchen Programmpunkten kann man das hören?

Zu Beginn bei „Burning Bright“ im Museumsquartier, am 3. November mit den „Percussions de Strasbourg“: Sechs Schlagzeuger spielen auf hunderten von Instrumenten aus allen Kontinenten in einem wunderschönen Bühnenaufbau und Lichtdesign von Enrico Bagnoli ein abendfüllendes Schlagzeugstück von Hugues Dufourt. Zentrales Bühnenelement ist ein Wasserspiegel, in den man durch diese Klangwelt wirklich eintaucht. Dufourt hat sich lange damit beschäftigt, welche Schlagzeuginstrumente irgendwo auf der Welt neu entwickelt worden sind, die er nicht schon vorher in seinem vor 40 Jahren ebenfalls für die „Percussions de Strasbourg“ geschriebenen ersten abendfüllenden Stück verwendet hatte, und er schuf damit ein Werk mit einer unglaublichen Klangsinnlichkeit. Die Bühne von Enrico Bagnoli in Verbindung mit dieser Musik haben etwas, das es sehr einfach macht, einen Einstieg in die „Musique spéctrale“ zu finden. Bagnoli hat Licht und Bühne für die berühmte Ring-Inszenierung mit Barenboim an der Scala gemacht. Ich habe ihn mit Dufourt in meiner früheren Funktion als Leiter des Festivals „rainy days“ in Luxemburg zusammengebracht und bin über diese Kombination sehr glücklich.

Der Besuch von „Burning Bright“ lohnt sich allein schon deswegen, weil die Aufführung ein Schritt der Weiterentwicklung vom „bloßen“ Konzert hin zu einer theatralen Form ist. Natürlich ist es rein instrumental, aber das Visuelle bekommt plötzlich dieselbe Aufmerksamkeit wie die Klangqualität. Beides fügt sich zu einer Art Gesamtkunstwerk zusammen, das gut dazu geeignet ist, einen Einstieg in diese Klangwelt zu finden.

Warum gibt es in diesem Jahr einen Frankreich-Schwerpunkt?

In diesem erwähnten Öffnen der zeitgenössischen Musik gab es immer wieder ganz große Impulse aus Frankreich. Die erwähnte „Musique spéctrale“ zählt dazu, die „Musique acousmatique“ oder die „Musique concrète“, auch der Umgang mit Filmmusik, wie man sie am 31. Oktober von Philippe Schoeller für den Film von Abel Gance „J`accuse“ erlebt. Was in Frankreich entstanden ist, ist in erstaunlicher Weise komplementär zu dem, was in Wien selbstverständlich ist. Wir zeigen dieses Mal einen vollkommen anderen Blick auf das Feld der zeitgenössischen Musik. Da ist Frankreich aus Wiener Sicht ein idealer Ohrenöffner, weil diese Musik teilweise eine so andere Ästhetik hat, als wir es aus der Wiener Tradition gewohnt sind – um es auf einen vereinfachten Nenner zu bringen.

Das merkt man eben beispielsweise an der vollkommenen Ungeniertheit, mit der orchestrale Farben gehandhabt werden. Gérard Grisey trägt in seinem Hauptwerk „Les Espaces acoustiques“ – ein weiterer der ganz großen Momente der „Musique spèctrale“ – an manchen Stellen einfach unverschämt dick auf. Das ist großartig, das hat etwas extrem Wohltuendes. Beispielsweise ist am Ende von „Modulations“, dem vierten der sechs Teile, ein unglaubliches Pulsieren des Orchesterklanges zu hören. Das hat tatsächlich eine extrem erfrischende Qualität in die neue Musik gebracht. Ich will in keiner Weise behaupten, dass das in Wien jetzt neu und noch nie da gewesen wäre. Es gehört ja sogar zu einer guten alten Wien-Modern-Tradition, einmal pro Jahrzehnt „Les Espaces acoustiques“ live in Wien zu spielen. Aber ich habe mir beim Lesen der Kritiken aus Salzburg, wo es heuer im Sommer aufgeführt wurde, wieder gedacht, dass diese Musik doch noch nicht genug bei uns angekommen ist. Ich bin aber der Überzeugung, dass wir inzwischen einen anderen Blick auf diese Musik haben können als vor 10 Jahren, weil mit jedem Jahrzehnt der Entfernung sich der Blick darauf schärft, was denn eigentlich die besondere Innovation gerade dieser Musik war.

Die zeitgenössische Musik, die wir heute haben, hat in ihrer enormen Breite, gerade wenn man zum ersten Mal hineinschnuppert, etwas Überwältigendes und Unübersichtliches. Deswegen bin ich sehr dankbar dafür, dass Wien Modern so ein großes Festivalformat ist, in dem man dann auch einmal einen Schritt zurücktreten und tatsächlich mit dem Abstand von einigen Jahrzehnten einen neuen Blick auf ein Meisterwerk werfen kann. Das tun wir an mehreren Stellen.

An welchen noch?

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Das Floß der Medussa – Hans Werner Henze (Foto: Archiv – Wien Modern)

Eines der größten Beispiele ist Henzes Oratorium „Das Floß der Medusa“. Es war 1968 ein unerhörter Skandal, die Uraufführung ging in Hamburg in einem Tumult unter. 1971 fand dann die umjubelte Uraufführung in Wien statt. Das Werk hat erheblich dazu beigetragen, dass Henze mit seiner damals bekennend linkspolitischen Art, sich als Komponist in der Gesellschaft zu äußern, einen schweren Stand hatte. Wenn man das Werk aber heute anschaut, mit der Distanz von fast 50 Jahren, ist es absolut visionär. Wir haben im Katalog versucht, die damaligen Konflikte ein wenig sichtbar zu machen. Beispielsweise hat der „Spiegel“ 1988 Henze nicht dafür angegriffen, dass er – mit der Widmung an Che Guevara und dem Skandieren von Ho-Chi-Minh-Rufen am Schluss – zu linkslastig wäre, sondern dafür, dass seine Musik zu bürgerlich sei. Jetzt haben wir innerhalb dieses einen Werkes eine sehr komplexe, widersprüchliche Gemengelage: Ist es jetzt zu radikal oder zu rückwärtsgewandt? In der Aufregung rund um die Jahre der Uraufführung ist beträchtlicher Staub aufgewirbelt worden, der sich inzwischen gelegt hat. Man kann heute tatsächlich das Werk anschauen als das, was es ist: Ein großer Wurf eines Künstlers, der Ungerechtigkeiten seiner gegenwärtigen Gesellschaft wahrnimmt und der dazu Stellung nehmen und im Prinzip die Welt verbessern möchte.

Das ist ja ein absolut aktuelles Thema.

Vor Kurzem hat sogar der Internationale Währungsfonds dazu Stellung genommen, dass die Vermögen zu ungleich verteilt sind. Ganz davon abgesehen, dass man fast jeden Tag von auf dem Meer untergehenden Flüchtlingen hört, womit man wieder bei der Ursprungsgeschichte wäre, die Henze aufgegriffen hat, nämlich dem Untergang des Floßes der Fregatte Medusa im Jahre 1816. Das Thema ist tatsächlich heute von einer offensichtlichen Aktualität.

Gibt es heute wieder Musik, die sich politisch äußert?

Ich glaube, für die neue Musik ist schon viel gewonnen, wenn man spürt, dass sie von Menschen gemacht wird, die mit beiden Beinen auf der Erde stehen. Von Menschen, die sich Gedanken über unsere Welt, wie sie aktuell ist, machen, und die mit ihrer Kunst sich dazu äußern wollen. Damit ist ja nicht Parteipolitik gemeint, das kann schlicht und einfach ein Nachdenken über die Gesellschaft sein, über aktuelle oder ewige Fragen, die den Künstlern und Künstlerinnen am Herz liegen. Ich denke, im Vergleich zu diesem technischen, akademischen, abgehobenen Klischee, das sich manche noch von der neuen Musik machen, zeigt das gesellschaftliche Engagement und das Stellen wirklich zeitgenössischer Fragen in dieser Gegenwartsmusik, dass wir es hier durchaus mit einem sehr lebendigen Kunstbereich zu tun haben. Das sind genauso inmitten der Gesellschaft lebende Künstlerinnen und Künstler, wie es auch Theatermacher, MalerInnen oder TänzerInnen sind. Die Musik stellt die Fragen mit ihren Mitteln, aber ich finde es wichtig, dass man spürt, dass dieser Kunstbereich etwas zu sagen hat und sich zu den Fragen der Gegenwart artikuliert.

Gibt es etwas, worauf Sie selbst in diesem Programm besonders stolz sind?

Das große Wagnis, das wir heuer eingehen, ist tatsächlich diese Kombination großer Produktionen, von denen man gar nicht glauben möchte, dass ein Festival mit einem Budget in der Größenordnung von rund 1/60 der Salzburger Festspiele oder 1/15 der Wiener Festwochen so etwas zustande bringt. Die Kombination von „Floß der Medusa“ mit dem RSO, „J´accuse“ mit den Symphonikern, dem Eötvös-Portrait mit dem Klangforum Wien, dem Claudio Abbado-Konzert mit jungen Musikern der Musikuniversität Wien und des Conservatoire de Paris, „Les éspaces acoustiques“, und schließlich die herausragende Olga-Neuwirth-Produktion „Le encantadas“ mit dem Ensemble intercontemporain unter seinem Chefdirigenten Matthias Pintscher – diese 6 Produktionen zum 30. Jubiläum sind für mich tatsächlich das, worauf ich heuer stolz bin. Dass Wien Modern in der Lage ist, ein solches Paket zu schnüren – ich hoffe sehr, dass das tatsächlich auf viele, begeisterte Zuhörer trifft.

Könnten Sie auch ein einzelnes Konzert herausheben?

Wenn ich einen Moment gezielt herausgreifen soll, in dem das Festival etwas Besonderes wagt – ein Experiment mit durchaus offenem Ausgang –, dann ist es im Abbado-Konzert die Uraufführung von Iris ter Schiphorst, die sich wiederum ein sehr aktuelles Thema ausgesucht hat. Ich habe sie vor rund 2 Jahren auf das Thema „Bilder im Kopf“ angesprochen und sie gefragt, ob sie sich dafür interessiere, ein neues Orchesterstück dazu zu schreiben. Sie hat darüber nachgedacht und gesagt, das, was sie interessiere, sei ein Experiment rund um die Frage: Wie entstehen eigentlich die Bilder in unseren Köpfen? Dazu hat sie sich konkret ein Thema ausgesucht, das vor zwei Jahren schon aktuell war und jetzt brandaktuell ist: Was richtet es mit unserer Wahrnehmung an, wenn wir ein und denselben Text – in dem Fall altarabische Gedichte aus dem 6. Jhdt. nach Christus, in denen es darum geht, dass die Welt auf dem Kopf steht und nur tiefer Humanismus uns da heraushelfen kann – einmal von einer wie gewohnt aussehenden, westlichen Solistin gesungen hören und ein anderes Mal von einer Sängerin, die als verschleierte arabische Frau auftritt. Was passiert da in unseren Köpfen? Wir befinden uns heute inmitten einer öffentlichen Debatte um ein Verschleierungsverbot, das sich fast jeden Tag medial darin äußert, dass die Polizei irgendwelche Plüschhasen oder eine junge Studentin mit einem modischen Schal auf der Straße anhält. Das Thema ist gerade in aller Köpfe und löst ganz unterschiedliche Dinge aus. Das künstlerisch zu untersuchen ist tatsächlich ein Experiment, auf dessen Ausgang ich sehr gespannt bin.

Das Programm von Wien Modern finden Sie hier: Programm

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Gemeinsam sind wir stärker

Gemeinsam sind wir stärker

Kooperieren statt resignieren. So könnte man die Idee des Intendanten Bernhard Günther von Wien Modern in aller Kürze zusammenfassen. Die finanzielle Ausstattung, die in diesem Jahr gekürzt wurde, zwang ihn dazu, sich neue Kanäle auszudenken, um dennoch ein vielfältiges Festival anzubieten.

Ein Festival im Festival

Das Festival Comprovise, eine Veranstaltungsreihe für komponierte und improvisierte Musik, die von der IGNM, der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik, mitveranstaltet wurde, fand im Brick5 in der Fünfhausgasse im 15. Bezirk statt und lockte nicht nur heimische Künstlerinnen und Künstler an. Es war eine der vielen Kooperationen, die Wien Modern auf die Beine stellte. Mit dem Auftritt der Gruppe „Les femmes savantes“ präsentierte sich ein Berliner Ensemble aus vier Musikerinnen, die ebensoviele Eigenkompositionen aufführten.

Vier unterschiedliche Kompositionen

Das Spektrum dabei reichte von der breit angelegten, höchst farbigen Komposition „Octopus Weaving 2“ bis hin zu der eher experimentellen Arbeit von Ute Wassermann „ InPutOut“ für 4 Performerinnen mit Vokal-Feedback-
Anzug. In letzterer schnallten sich die Musikerinnen metallene Brustpanzer um und agierten mit je zwei Mikrophonen gleichzeitig. Eines für ihre Stimme und das andere, um damit direkt über die Platten zu fahren oder im geringen Abstand vom Metall Geräusche zu erzeugen. Das so erzeugte Soundbild war, wenig überraschend, metallen, wobei aber auch den Stimmen eine tragende Rolle zugestanden wurde. Jammernd, summend, gurgelnd, schnarrend und bedrohlich war dabei vor allem Ute Wasssermann, die Komponistin selbst, zu hören. Sie fiel auch bei zwei weiteren Kompositionen auf, weil sie sich als Meisterin erwies, mit eine Mikrofon vielfältigste stimmliche Geräusche zu produzieren.

Trashig-Symphonisches von einem Kollektiv

Ein Highlight im trashig-symphonischen Kurzformat präsentierten „die weisen Frauen“ gleich zu Beginn. „Octopus weaving 2“ stammte aus der Gedanken- und Kreativwerkstatt von allen Ensemblemitgliedern. Sabine Ercklentz, Andrea Neumann, Ana Maria Rodriguez und Ute Wassermann gelang damit ein wunderbares Stimmungsbild, das an den Gang durch eine Fantasielandschaft erinnert.

Wald, Gestrüpp, Wind und Wolken treffen dort auf allerlei sonderbares Getier und andere Lebewesen ober und unter Wasser. Beständiges Tropfen, Vogelgezwitscher, Stimmengeblubber – diese romantischen und zugleich aberwitzig-tiefgründigen Sounds werden bald abgelöst von einem extremen Geräuschpegel. Tapfer und unbeirrbar windet sich eine zarte Trompete durch die Klangballung. Hält der geräuschvollen Übermacht eine einzelne, erkennbare Klangposition entgegen. Abgelöst wird sie von Vogelgezwitscher, aus dem sich eine Stimme schält, die bald vom Wind der unerschrockenen Trompete zart umspielt wird. Leises Knarzen, rhythmisches Wischen und Wassertropfen, die beständig mit leichtem Hall zu vernehmen sind, gehen in ein hohes Pfeifen über. Nach einer erneuten, kräftigen Soundballung, aus der die unterschiedlichen Geräuschkomponenten nicht mehr  herauszuhören sind, entwickelt sich wieder ein höchst organischer Gegenentwurf. Das schon einmal in Erscheinung getretene, seltsame Unterwassergeschöpf taucht blubbernd auditiv wieder auf, verschluckt sich, brabbelt wie ein überdimensionaler Frosch oder vielleicht doch ein Oktopus, der schließlich in einen eindeutigen Sprach-Rhythmus verfällt, um endlich durch eine kleine Pizzicato-Melodie abgelöst zu werden. Ute Wassermann – nomen ist offenbar omen – steuerte neben anderen Klängen gekonnt den stimmlichen Unterwasser-Part bei.

Die bei dieser Komposition angewandte Technik, in der sich ein Kollektiv um ein großes Ganzes kümmert, ist in der Literatur, gerade im dramatischen Bereich, bereits bekannt. In der Musik hat sie sich noch nicht wirklich durchgesetzt. Was „les femmes savantes“ hier vorgelegt haben, ist deswegen umso bemerkenswerter.

Harmondämpfer sind nicht nur für Blasinstrumente zu gebrauchen

Von Ana Maria Rodriguez stammte „Silver4“ in welchem die Musikerinnen, nur mit Harmondämpfern und Holzstäbchen ausgestattet und von Live-Elektronik begleitet, die Klangmöglichkeiten dieses Zubehörs für Blasinstrumente, ganz abseits ihres herkömmlichen Einsatzes, ausloteten. Durch unregelmäßige Atemstöße und leise vernehmbare Sirenentöne wurde ein subkutan bedrohliches Szenario geschaffen, das viele Assoziationsmöglichkeiten offen ließ.

Dada ist back – und wie!

https://vimeo.com/22602389

„4 Akteure“ nennt sich schlicht eine höchst humorvolle Performance an der Schnittstelle zwischen darstellender Kunst und Musik. Andrea Neumann schuf damit eine wunderbares Stück mit Dada-Verwandtschaft, in welcher die Musikerinnen als Schauspielerinnen auftreten. Nebeneinander sitzend, bewegten sie sich minimalistisch, wie Robotergeschöpfe, zu eingespielten Geräuschen auf die jeweilige Sekunde genau. Jedes Fingerheben, jedes Schulterzucken, jedes Kratzen am Arm oder Reiben am Schenkel fand sich in einem entsprechenden Sound wieder. Dass Finger singen und Arme trompeten können, dass sich das Aufrichten eines Torsos wie Löwengebrüll anhört und sich ein Kopfnicken knisternd manifestieren kann wurde dabei nicht nur hör- sondern vor allem auch sichtbar.  Was den Ausspruch bekräftigt, dass man zeitgenössische Musik vor allem auch dann genießen kann, wenn man bei ihrer Produktion zusehen kann.

Homepage von „les femmes savantes“

Schubert verkehrt herum

Schubert verkehrt herum

Am 14. 11. wurde der Mut von Bernhard Günther, neue Formate zu zeigen, bei dem Konzert „Excuse my dust 2“ mit dem Solistenensemble Kaleidoskop abermals unter Beweis gestellt. Wie schon am Schostakowitsch-Quartett-Abend wurden dabei die Stilmittel von Simultaneität und Assemblage verwendet, um einzelne Werke von verschiedenen Komponisten in einem neuen auditiven Kontext anzubieten. Verantwortlich für die künstlerische Leitung dieses Konzertes waren Tilman Kanitz vom Solistenensemble Kaleidoskop und Han-Gyeol Lie vom Verein .akut.

Schubert hätte Ohren gemacht

Ensemble Kaleidoskop (c) verein_akut

Solistenensemble Kaleidoskop (c) verein_akut

Dabei wurde das Streichquintett in C-Dur D 956 von Franz Schubert nicht nur in verkehrter Reihenfolge aufgeführt, sondern mit seinen einzelnen Sätzen auch zwischen die anderen Stücke ausgelagert. Am Beginn, also beim letzten Satz, der an diesem Abend als erster gespielt wurde, durfte gleich Untergangsstimmung herrschen, wurde doch das Spiel, das im Foyer des Odeon begann, anfangs nur leise, später jedoch mit ohrenbetäubenden elektronischen Sequenzen aus Lautsprechern übertönt. Eine brutale Weltuntergangsstimmung vertrieb dabei gnadenlos kurz aufgekommene, romantische Emotionen.

Zwei parallele Solokonzerte

Erst als das Publikum dem Ensemble in den Saal folgte und sich dieser gefüllt hatte, verstummte der Lärm aus den Lautsprechern allmählich. Im beinahe ganz abgedunkelten Raum hatten die Violinistin und die Cellistin bereits begonnen, ihre Konzerte vorzutragen. Die Werke „E für Violoncello solo“ von Mark Andre und Toccatina. Studie für Violine allein“ von Helmut Lachenmann, ließen sich dabei wunderbar miteinander vergleichen. Beide Konzerte leben von derselben, leisen, kaum hörbaren Grundstimmung, wobei Mark Andre für das Cello an verschiedenen Stellen wesentlich mehr Emotionen einschrieb als Lachenmann es für die Violine tat.

Xenakis, Haas, Webern und immer wieder Schubert

Mit Iannis Xenakis erklang im Anschluss ein Großmeister der Musik des 20. Jahrhunderts. Sein Ittidra für Streichquartett erwies sich als ein prächtiger, homogener Dissonanzkörper, der durch lange, simultane Auf- und Abstriche eine unglaubliche Plastizität erlangte. Ein sehr seltenes Beispiel einer dissonanten Komposition, die süchtig machen kann.

„De terrae fine“ für Violine solo“ von Georg Friedrich Haas ließ im dunklen Saal ebenso dunkle Gefühle aufkommen. Dennoch stattete er diesen Solopart mit einer großen Farbigkeit aus, bei der sich hohe Dissonanzen mit leisen Pizzicato-Stellen abwechseln, bald darauf jedoch langgezogene Passagen kreischend durch den Raum strömen. Eine Raumerkundung der ganz besonderen Art, bei der sich ganz unterschiedliche Stimmen aus ein und demselben Instrument zu Wort melden. Umso stärker wurde die Leichtfüßigkeit von Schuberts 1. Satz aus seinem Streichquintett in C-Dur, der danach erklang, wahrnehmbar. Wobei das Phänomen, Schubert in dieser speziellen Soundumgebung zerschnipselt auf dem Tablett serviert zu bekommen, gänzlich neue auditive Sensorien ansprach.

Die „Sechs Bagatellen für Streichquartett, op.9“, von Anton Webern, bildeten einen wunderbaren, fein nuancierten Ausklang dieses Konzerts, das seine Einprägsamkeit auch durch die Lichtinstallation von Gintaras Diziapetris und Elena Narbutaité erhalten hatte. Abstufungen von Dunkel, das Spiel mit Lichtern im Spiegel, das Wechseln von farbigen Scheinwerfern, das Dunkel des Saals kaum erhellend, aber dennoch stark akzentuierend – all dies bildete eine höchst ästhetische Raumerfahrung, die sich wunderbar um die Klänge schmiegte und das Ensemble in seinen gestylten Schwarz-Weiß-Outfits wie Wesen von anderen Sternen erscheinen ließ.

Es beeindruckten im Solistenensemble Kaleidoskop: Anna Faber und Mari Sawada an der Violine, Grégoire Simon und Yodfat Miron an der Viola sowie Tilman Kanitz und Boram Lie am Violoncello.

.akut – Verein für Ästhetik und angewandte Kulturtheorie zeichnet für die dreiteilige Konzertreihe „Excuse my dust I – III“ verantwortlich und veranstaltet, gemeinsam mit Wien Modern, noch am 25.11. in der Gemäldegalerie der Akademie der bildenden Künste „Excuse my dust 3 – Hieronymus Bosch: Das Wiener Weltgericht.“

Gabriele Geml und Han-Gyeol Lie vom Verein .akut fügen sich mit der Konzeption ihres Jahresprogrammes, das unter dem Motto »JAHR OHNE SOMMER« 1816, steht, nicht nur vom Titel selbst her wunderbar ins diesjährige Generalthema von Wien Modern „Die letzten Fragen“. Vielmehr ist es auch die Verschränkung von zeitgenössischer Musik mit jenen Werken, die prägend für die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts waren, die wunderbar mit der Idee von Bernhard Günther zusammenpasst.

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