Das Heute in die Zukunft denken

Das Heute in die Zukunft denken

„Geschichte willkommen!“ präsentierte am 11. November im Asyl-Raum vor dem Wien Museum seine aktuelle Sammlungsarbeit. 

Dabei ging es Christiane Rainer und Kazuo Kandutsch darum, Objekte zu generieren, die den aktuellen Flüchtlingsstrom illustrieren und die sozialen Umstände für zukünftige Generationen veranschaulichen können.

Was sich vielleicht ungewöhnlich anhört, ist aber ein kluges Vorausdenken. Es gibt mehrere Ebenen, wie Geschichte tradiert wird. Je weiter man vom tatsächlichen Geschehen entfernt ist, umso abstrakter wird auch die Vermittlung desselben. Das persönliche Erfahren steht in der Hierarchie dieser Ebenen ganz oben. An zweiter Stelle steht die mündliche Tradierung, in weiterer Folge dann auch die Dokumentation via Foto oder Video. Dazwischen aber liegt das Objekt selbst. Das, womit sich die Menschen in einer bestimmten Zeit umgaben, was sie in ihren Händen hatten, was sie benötigten, um gewisse Verrichtungen zu erledigen. Hier setzt „Geschichte willkommen!“ mit seinem Projekt an. „Am einfachsten ist unsere Arbeit mit einer historischen Begebenheit zu erklären. Wir wären heute froh, wenn wir in einem österreichischen Museum das Bierglas hätten, aus dem Herr Molotow am Tag der Unterzeichnung des Staatsvertrages getrunken hat.“ Rainer weiß, wie man komplexe Sachverhalte anschaulich erklärt.

Rainer und Kandutsch fuhren für ihr neues Projekt in Flüchtlingslager nach Traiskirchen und Salzburg, aber sie besuchten auch den Westbahnhof und den Grenzübergang Nickelsdorf vor Ungarn. In Salzburg entdeckten sie einen verlassenen Gartenstuhl, auf dem zwei Menschen ihre Unterschriften hinterlassen hatten. In Wien wurde er später zum Anziehungspunkt vieler durchreisender Flüchtlinge, die sich darauf ebenfalls verewigten. In Nickelsdorf fanden die beiden einen zurückgelassenen Kinderwagen. Einen Buggy, in dem zwei Kinder Platz finden. „Dieser war voll mit all dem, was wir hier zeigen“, erläuterte Rainer bei einer kleinen, improvisierten Führung. „Das Interessante dabei ist, dass es sich um Dinge handelt, die den Fluchtweg der Familie, die den Kinderwagen benutzt hat, dokumentieren: Ein Paar Herrenturnschuhe, rosa Kinder-Stoffschuhe, eine Regenpellerine. Eine Dose Babynahrung mit griechischer Aufschrift, bulgarische Feuchttücher, ein serbisches Busticket, wahrscheinlich kroatische Milch, eine ungarische Zigarettenschachtel und Trinkwasser in einem Beutel, abgefüllt ebenfalls in Ungarn, sowie auch ein kleines Flugblatt, auf dem auf Arabisch Werbung für die Zeugen Jehowas gemacht wird. “ Auf die Frage, warum denn der Buggy nicht mitgenommen worden sei, gibt es als Antwort nur Mutmaßungen. Annahmen, die allerdings plausibel klingen. „Als die Busse kamen, wollten die Menschen nichts anderes, als darin einen Platz bekommen. Es herrschte Angst, nicht mitgenommen zu werden und so ein Buggy ist natürlich in so einem Moment Ballast.“


„Was zu kurz gekommen ist, sind eigentlich die Interviews“, erzählte Rainer weiter. Aber es war für diese Arbeit auch nicht unendlich Zeit vorhanden. Dolmetscher halfen bei der Kommunikation in Farsi und Arabisch. „Aber einiges, was auf Band aufgenommen wurde, muss erst übersetzt werden. Von einem Interview, das uns ein Mädchen gab, wissen wir noch nicht viel. Es stammte aus einer syrischen Familie mit vier Kindern.  Zwei davon waren behindert. Der Dolmetscher war emotional so mitgenommen, dass er uns vor Ort gar nicht übersetzen konnte.“

 

Plakate, auf denen erklärt wird, welche Hilfsorganisationen vor Ort sind und dass Trinkwasser aus der Leitung sicher ist, aber auch solche, auf denen der Gebrauch eines WC veranschaulicht wird, gehören auch zur Sammlung.  Namensschilder von Caritas-Helferinnen und -Helfern, auf denen vermerkt ist, in welchen Sprachen sie kommunizieren konnten, sind auch dabei. Einiges allerdings bleibt rätselhaft. So ein Pärchen  asiatischer Porzellanfigürchen, die als Spende abgegeben wurden. „Vielleicht war das gut gemeint, aber was sollten die Flüchtlinge damit anfangen? Leider weiß man nichts über die Motivation jener, die diese Objekte gespendet haben. Nur dass sie in einem Spendenkarton für die Caritas waren.“ Dieses kleine Beispiel zeigt auf, wie wichtig es ist, möglichst viel über die gesammelten Objekte in Erfahrung zu bringen. Dinge können nicht sprechen und so ist es unumgänglich, bei der Inventarisierung nicht nur den Fundort anzugeben, sondern auch alle Informationen, die man darüber hat. Nicht nur woher sie kommen, sondern von wem sie sind, warum sie gebraucht wurden, warum sie liegen gelassen wurden, welche Funktion sie hatten.

Die Präsentation in Wien wurde möglich, da der Asylraum, der vor rund einem Monat vom Wien Museum aufgestellt wurde, ein Angebot an die Zivilgesellschaft ist, sich dort mit Ideen und Aktionen einzubringen. „Geschichte willkommen!“ sind die ersten, die dieses Angebot annahmen. Vielleicht folgen in den nächsten Wochen weitere. Bis Ende Dezember wird der Raum noch stehenbleiben.

Informationen über den Verein „Geschichte willkommen“ auf der Homepage.
Informationen über den Asylraum des Wien Museums hier.

Die heilige Kuh „Konsum“ wird nicht geschlachtet

Die heilige Kuh „Konsum“ wird nicht geschlachtet

Der gefühlte 20. EU-Gipfel zur Eurorettung ist vorüber und erneut ist das Ergebnis eher ein Zeichen von operativer Hektik, die ja bekanntlich ein Zeichen geistiger Windstille darstellt, als ein strategischer Befreiungsschlag für den Euro und die Eurozone. Die Briten haben sich ins Abseits gestellt und Angela Merkel und Nicolas Sarkozy feiern die Ergebnisse, als handle es sich um ein Jahrhundertereignis. Die Kommentatoren sind sich einig, dass die Beschlüsse die kurzfristigen Probleme nicht lösen werden und die langfristige Wirkung sich erst im Rückblick beurteilen lassen wird. Niemand wagt die heilige Kühe Wachstum und Konsum zu benennen, geschweige denn zu schlachten. Aber grenzenloses Wachstum ist in einem lebenden System nicht machbar. Wer sich weigert das Wachstumsparadigma zu diskutieren und zu hinterfragen, wird dauerhaft keine Lösung der Wirtschafts- und Finanzkrise finden. Natürlich ist jetzt zu allererst Notfallmedizin angesagt, nur muss der Patient Europa und dessen Einwohner über einen gesünderen und vernünftigeren Lebenswandel nachdenken, wenn er nicht permanent auf der Intensivstation landen will.

konsum 502236 original R K B by Wilhelmine

Hauptsache wir kaufen (c) Wilhelmine Wulff/pixelio.de

Das Leistungsversprechen gilt schon lange nicht mehr

Der globale Finanzkapitalismus zeigt die Fratze des Unbeherrschbaren und des zügellosen Egoismus und ist damit zu einer Krise der bürgerlichen Identität geworden. Die 80er und 90er Jahre des letzten Jahrhunderts waren geprägt von einem historischen Missverständnis und damit von einer Fehleinschätzung der gesellschaftlichen Folgen der nahezu unreglementierten Finanzmärkte. Das bürgerliche Versprechen, dass Leistung sich lohne, hat sich längst ad absurdum geführt. Wir verwechseln finanziellen Erfolg viel zu oft mit diesem bürgerlichen Paradigma, das die Gesellschaft über nahezu 200 Jahre prägte und sich mit der protestantischen Arbeitsethik im Sinne von Max Weber zu einem fast religiösen Heilsversprechen mauserte. Allerdings ist die individuelle Leistung eines Börsengewinns und von Finanztransaktionen nicht mehr mit dem althergebrachten Leistungsbegriff kompatibel. Es zählt nicht mehr die Leistung, die an Arbeitsstunden erbracht wurde, nicht mehr die Leistung, die an Wissen oder in Form von Produktionsgütern in eine Gesellschaft eingebracht wird, sondern nur mehr jene Leistung, bei der sich Geld durch Geld vermehrt.

Es ist der Finanzelite gelungen, das Wortfeld Leistung mit all seinen Ver- und Entsprechungen, mit materiellem Erfolg gleichzusetzen. Damit wurde der Begriff Leistung, ähnlich wie Tschernobyl und Fukushima, auf unabsehbare Zeit kontaminiert und in Misskredit gebracht. Die Politikerinnen und Politiker waren willfährige Vollstreckungsgehilfen dieses Paradigmenwechsels im bürgerlichen Denken. Das Versprechen des sozialen Aufstieges durch die individuelle Leistungsbereitschaft hat sich in realita jedoch verabschiedet und ist einem ausschließlichen Diktat des wirtschaftlichen Erfolges gewichen. Die dunkelsten Ahnungen, die uns erfassten, als Michael Douglas den skrupellosen Börsenmakler Gordon Gecko in Wall Street verkörperte, wurden extrem übertroffen und übersteigen unsere kühnsten und apokalyptischsten Vorstellungen bei Weitem. Diese Entwicklung führte nicht nur, wie wir jetzt sehen, zu einer wirtschaftlich unkalkulierbaren Größe, sondern gefährdet den Zusammenhalt der Gesellschaft nachhaltig und droht sogar die Demokratie zu gefährden.

Immer mehr Menschen haben das Gefühl, dass die Finanzmärkte die Politik bestimmen und schon aus diesem Grund den Glauben in die staatlichen Organisationen und ihre Vertreterinnen und Vertreter verloren. Die immense Jungendarbeitslosigkeit in Europa hält eine ganze Generation vom gesellschaftlichen und sozialen Aufstieg ab. 40% Jungendarbeitslosigkeit in manchen Ländern Europas führen zu einer emotionalen Gemengelage, die sich im Zweifelsfall gewalttätig Luft macht. Die friedlichen Proteste der spanischen Jugend können hier als Vorstufe gesehen werden. Die Auseinandersetzungen und Straßenschlachten in Griechenland sind bereits die nächste Eskalationsstufe. Sollte die Politik dauerhaft keine Antworten auf die Fragen der Jugendlichen finden, die auch in deren Alltag sichtbar werden, dann wird die Frustration auch in Spanien einen Anlass zur Gewalt finden und wir werden auch darüber hinaus in Europa wieder mit Jugendrevolten konfrontiert sein. Die politischen Ansätze zur Bewältigung der gesellschaftlichen Probleme wirken bis jetzt aber nicht gerade souverän und überzeugend. Die Lösung eines komplexen Problems ist in der Regel durch einfache Rezepte nicht möglich, obwohl wir uns doch alle danach sehnen und darauf hoffen.

Die einfache Erklärung hilft nicht bei der Lösung der globalen Probleme

Wenn es noch eines Beweises für die postmoderne Idee des „Endes der großen Erzählungen“ bedurft hat, dann wird dieser heute im Umgang mit der Finanz- und Währungskrise sicherlich geliefert. Jean-Francois Lyotard hat mit dieser Aussage den Finger in die Wunde aller Welterklärer und -verbesserer gelegt. Denn mit seinem gesellschaftlichen Erklärungsmodell hat er die Unsicherheit zur Regel ernannt und aufgezeigt, dass es keine eindimensionalen Lösungsansätze, die alles abdecken, woran die Gesellschaft krankt, geben kann. Gerade in wirtschaftlich schweren Zeiten und in gesellschaftlichen Krisen wird dies zu einer großen Belastung. Denn im Grunde sehnen wir uns nach wie vor nach großen Politikern wie Konrad Adenauer, Willy Brandt, Helmut Schmidt und als Letzten seiner Art Helmut Kohl, ohne Rücksicht zu nehmen auf den immensen Komplexitätszuwachs und vor allem die immer geringer werdende Bedeutung und Einflussmöglichkeiten der Nationalstaaten und deren Regierungen.

Der extrem zugenommene Informationsfluss und die Entwicklung der Welt zum „globalen Dorf“ führen zusätzlich zu Irritationen und Verunsicherung der Menschen. Mein Urgroßvater und mein Großvater wussten über den Rest der Welt und die Auswirkung ihres Lebenswandels auf das ökologische und soziale Gleichgewicht auf dieser Erde relativ wenig. Wir sind uns jedoch bewusst, dass unser Planet völlig überfordert ist und kollabieren würde, wenn die Bewohner des indischen oder afrikanischen Kontinents je unseren heutigen Lebensstandard erreichen würden. In diesem Zusammenhang sehen wir uns sehr wohl mit der Sinn- und Nutzlosigkeit des Wirtschaftswachstums konfrontiert. Wenn es jedoch darum geht, unseren eigenen Konsum und das Wirtschaftswachstum in Europa bzw. der westlichen Welt zu hinterfragen, sieht es schon wieder ganz anders aus. Immer deutlicher zeichnet sich dennoch ab, dass wir unseren heutigen Lebensstil nicht mehr sehr lange über die Zeit retten werden können. Längst gleicht die westliche Konsumgesellschaft dem angezählten Boxer, von dem jeder weiß, dass er demnächst ausgeknockt werden wird. Uns bleibt aber nicht einmal die Hoffnung auf den „lucky Punch“, der die Spannung eines solchen Kampfes zumindest für das Publikum noch etwas erhält. Karl Marx hat in seinem Werk „Das Kapital“ im dritten Buch schon darauf hingewiesen, dass der Kapitalismus an seinen Finanzspekulationen zugrunde gehen wird. Aus heutiger Sicht können wir seine Analyse teilen, allein sein Rezept des Sozialismus gleicht den „großen Erzählungen“ der Religion und ist schon deshalb zum Scheitern verurteilt, wie die Geschichte ja bereits belegte.

Die Diagnose ist gestellt, die Therapie oft nicht nachvollziehbar

Wir wissen, woran unser System krankt und viele Therapien sind in der Diskussion, ohne dass heute noch jemand für sich in Anspruch nehmen könnte, die Königsidee oder die Lösung schlechthin gefunden zu haben. Politik und die Bekämpfung der verschiedenen Krisen geschehen heute, so hat man zumindest auf große Strecken den Eindruck, vor allem nach der Idee „Versuch und Irrtum“. Politikerinnen und Politiker revidieren ihre Ideen zur effektiven Bekämpfung der Finanzkrise beinahe wöchentlich. Natürlich kann sich keine Politikerin und kein Politiker hinstellen und dies zur Maxime ihres oder seines Handelns erheben, führe dies doch zu noch größerer Verunsicherung, mit der wir Menschen offensichtlich noch schwerer umgehen können, als mit einer jedermann bewussten, aber verdrängten Wahrnehmungsverzerrung. Die bequeme Lüge ist für uns offensichtlich noch immer leichter zu ertragen als die grausame Wahrheit. Wir erwarten – so wie eh und je – den unerschütterlichen Steuermann, der in stürmischen Zeiten um jeden Preis den Kurs hält und uns Anweisungen gibt, wie wir unbeschadet durch die schwere See an das rettende Ufer kommen. Außerdem neigen wir dazu, den Status quo erhalten zu wollen. Viele meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner versichern mir durchaus engagiert und glaubhaft, dass es so nicht weitergehen könne und dass sich etwas ändern müsse. Allerdings erklären mir die meisten auch gleichzeitig, dass sie allerdings ohnehin schon alles machten oder dass sie alleine die Welt nicht ändern könnten. Im Prinzip meinen sie nichts anderes wie: „Für mich soll sich nichts ändern, ich bin ohnehin ein „Guter“ und schon aus diesem Grund ist es schwierig, unser System zu hinterfragen, geschweige denn sogar den Absprung aus der Konsumgesellschaft zu schaffen. Die „üblichen Verdächtigen“ aus Politik und Wirtschaft sehen nur in zusätzlichem Konsum eine Lösung des Problems. Niemand von ihnen übernimmt freiwillig das Selbstmordkommando und erklärt der Bevölkerung, dass der Abschied vom Konsum auch bedeutet, lieb gewonnene Gewohnheiten zu opfern und auf Wohltaten unserer Zeit zu verzichten. Um nur ein kleines Beispiel zu nennen: Es ist weder ökologisch noch wirtschaftlich vertretbar, dass ich um 100 Euro von Wien nach Berlin und zurück mit dem Flugzeug befördert werde. Aber diesen „Luxus“, der auf Kosten unserer Umwelt konsumiert wird, möchte niemand infrage stellen, ohne sofort Angst zu bekommen, hunderttausende Wählerstimmen zu verlieren.

Wachstum und Konsum sind längst ein großer Teil der globalen Probleme

Der Abschied von der Konsumgesellschaft bedeutet letztlich Verzicht auf Güter aber auch Bequemlichkeiten wie z.B. den Transport von A nach B mit dem eigenen Auto. Da dies auf freiwilliger Basis eher schwierig durchzusetzen zu sein scheint, muss dieser Verzicht über Abgaben und Steuern bzw. durch einen gesellschaftlichen Konsens geschaffen werden. Es darf eben nicht länger cool sein, einmal schnell für ein Wochenende nach Berlin oder New York zu fliegen. Man ist eben nicht nur hip, wenn man ein I-Phone, I-Pad und sonstige I-Produkte besitzt oder sich leisten kann, sondern man muss sich gleichzeitig auch bewusst sein, dass dafür Bodenschätze minimiert werden und allzu viele Menschen unter unwürdigen Bedingungen in der Produktion dieser Güter eingesetzt werden. Die gesellschaftliche Verfasstheit muss wieder mehr auf soziale Erlebnisse und Verantwortung abzielen und sich der friedensstiftenden Funktion des sozial und ökologisch nachhaltigen Handelns bewusst werden. Wir müssen uns Gedanken über ein Wirtschaftssystem mit vernünftigem Konsum machen, wobei die Auswirkungen unseres Konsumverhaltens noch viel transparenter werden müssen. Die Industrie muss dazu angehalten werden, die Selbstzerstörung ihrer Produkte zu minimieren. Die Folgen unseres am Konsum orientierten Lebensstils müssen noch stärker in ihrer Komplexität verstehbar und nachvollziehbar gemacht werden. Das grundsätzlich Schöne an der menschlichen Vergesslichkeit und der Fähigkeit zur Verdrängung wird hier zum Hauptproblem. Wir können die Komplexität und die Folgen unseres Tuns eben nicht bis zum Ende der Wirkungskette hin durchdenken. Hier bedarf es durch Aufklärung des Gewahrwerdens der Problematiken und damit einhergehend eines Paradigmenwechsels. Dass dies sicher eine längere Phase der Anpassung benötigt, steht außer Zweifel. Die Umweltbewegung der 80er Jahre hat dazu sicherlich schon einen großen Beitrag geleistet und uns auf diesen Themenbereich überhaupt sensibilisiert. Allerdings muss hier noch viel getan und Bewusstsein geschaffen werden, um dies auch auf ein globales Niveau zu heben. Gerade die nationalen Egoismen sind für die Lösung solcher komplexen Wirkzusammenhänge eher als Hemmschuh zu betrachten. Die Finanzkrise zeigt ja mehr als deutlich, dass es vielversprechende Ansätze zur Lösung des einen oder anderen Problemkreises gibt, die nationalen Befindlichkeiten einer Lösung allerdings immer wieder im Wege stehen.

Gerade die Occupy-Bewegung macht allerdings auch Mut darauf, dass die Bürgerinnen und Bürger sich global vereinigen und damit ihre nationalen Regierungen unter Druck setzen werden. Vor allem die US-Administration wird auch im Hinblick auf die nächsten Präsidentschaftswahlen diesbezüglich unter Handlungsdruck geraten. Es bleibt zu hoffen, dass gerade auch mithilfe der Krise der Ausstieg aus der blinden Wachstumsökonomie gelingt und wir unsere Wirtschaft in Zukunft sozial und ökologisch verantwortungsvoller ausrichten werden. Eines ist sicher: Wir leben in spannenden Zeiten und ich bin extrem neugierig, wie sich unsere Gesellschaft in den nächsten 20 Jahren verändern wird. Dass sie es tun muss, davon bin ich überzeugt.

Gedenken, Demut und Achtsamkeit

Gedenken, Demut und Achtsamkeit

IMGP3404

Gedenken an deportierte jüdische MitbürgerInnen im 3. Bezirk in Wien

Als ich soeben meine Frau nächtens von der Straßenbahn im 3. Wiener Gemeindebezirk abholte und wir in unsere Gasse einbogen, entdeckten wir zwei Häuser weiter eine Kerze am Boden stehen. Neugierig, wie wir sind, mussten wir natürlich nachsehen, warum diese dort aufgestellt worden war. Als wir darauf zugingen, erinnerten wir uns, dass dort im Boden eine Gedenktafel an die jüdischen Bewohner dieses Hauses eingelassen ist, die an die Menschen erinnert, die von dort deportiert wurden und in den Konzentrationslagern den Tod fanden. In derselben Sekunde, als ich dessen gewahr wurde, war ich zutiefst berührt und den Tränen nahe. Da fiel es mir auch wie Schuppen von den Augen, woran ich heute kein einziges Mal gedacht hatte: Heute wiederholt sich das Gedenken an die Reichspogromnacht zum 73. Mal. Eine ungerade Zahl, die es offenbar nicht Wert war, in den Medien Eingang zu finden. Aber diese kleine Geste, ein solch persönliches Gedenken an die Reichspogromnacht vom 9. November 1938, erschütterte mich zutiefst. Der daneben stehende winzige Topf mit kleinen Rosen und das Grablicht, das bei den Christen ja häufig am Allerheiligentag auf die Gräber gestellt wird, waren für mich ein sichtbares Zeichen des liebevollen Gedenkens an Menschen, die in einer dunklen Zeit umkamen. Dieses winzig kleine Zeichen, inmitten dieser virilen Großstadt erinnerte mich urplötzlich an die eigene Familiengeschichte; verlor ich doch einen Großvater an die Nazischergen. Dass wir bei dieser Betrachtung des kleinen, zuckenden Flämmchens unseren Kopf neigen mussten, erzeugte neben Nachdenklichkeit und Gedenken gleichzeitig das Gefühl einer großen Demut.

Wie viele Menschen dachten heute wohl an das Schicksal der jüdischen Gemeinden und der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger im Jahr 1938? Auch ich hätte mir nicht sonderlich große Gedanken über den heutigen Tag gemacht. Erst dieser emotionale Moment führte dazu, mich hinzusetzen und diesen Text zu schreiben und mich zu fragen, wie es mit der Toleranz gegenüber Andersdenkenden aussieht. Ich begann nachzudenken, wie oft ich die Meinung oder den Lebenswandel anderer für unangemessen, dumm oder gar verwerflich halte. Wie oft ich es an der nötigen Toleranz fehlen lasse und mir gar keine Gedanken darüber mache, dass dies jemanden verletzen könnte. Jeder von uns hat Momente, in denen die Vorurteile mit ihm durchgehen und er oder sie schon mal bereit ist, Methoden oder Handlungen zu akzeptieren, die in einem anderen Kontext undenkbar wären. Gerade solche Situationen wie die Kerze und die Rose auf dem Gedenkstein machen mir bewusst, wie wichtig es ist achtsam zu sein und seine Meinungen und Ideen zu hinterfragen. Wir müssen die Toleranz und Demut vor Andersdenkenden und Andersgläubigen immer wieder aktiv einfordern und uns nicht zurückziehen und aus Bequemlichkeit die Auseinandersetzung scheuen. All zu oft lassen wir Menschen ihre Intoleranz durchgehen und glauben die Mühe dagegen aufzutreten lohne sich nicht, da solcherlei verbohrte Geister ohnehin nie ihre Meinung änderten. Gerade diese Bequemlichkeit aber war es, die Unmenschlichkeit und Barbarei in den Jahren 1933 bis 1945 unterstützt und zugelassen haben. Diese kleine Geste einer mir unbekannten Person hat mich erneut sensibilisiert und gezeigt, dass Toleranz, Achtsamkeit und Demut ein Boden sind, auf dem keine erneute menschliche Katastrophe wie der Holocaust oder die Reichspogromnacht möglich ist. Diese Gedanken wollte ich heute an diesem 9. November mit Ihnen teilen in der Hoffnung, dass diese wenigen Zeilen Sie zum Nachdenken anregen. Ich bin dankbar für dieses Erlebnis und ziehe den Hut vor dem Menschen, der mir diese Gedanken erst ermöglichte.

Die Angst der Kunst vor der Schwelle

Die Angst der Kunst vor der Schwelle

schwellenangst

Der Herbst ist immer der Beginn der Kunst- und Kultursaison. Viele Eröffnungs- und Begrüßungsreden werden gehalten und die Sonntagsreden der Kulturpolitikerinnen und -politiker und solcher, die es gerne wären, haben Hochkonjunktur. Egal welchen Kunst- und Kulturevent ich auch immer besuche, eine Aussage kommt so sicher wie das Amen im Gebet: „Wir wollen das Festival einem breiten Publikum zugänglich machen und wollen die Schwellen so niedrig wie möglich halten.“ Es gibt zwei grundsätzliche Assoziationen, die mir sofort durch den Kopf schießen:

  1. Warum müssen Politiker das immer so hervorheben?
  2. Was ist an Schwellen so schlimm?

Mir scheint, die Neigung der Politik, Zuschüsse und Subventionen gerade im Kulturbereich besonders rechtfertigen zu müssen und die Transparenz dort besonders hoch zuhalten, ist gerade hier besonders ausgeprägt. Ich würde mir das zwar eher für die enormen Subventionen für die Landwirtschaftsindustrie wünschen, denn die einzelnen Landwirte erhalten ja von diesen nur den geringsten Teil. Was die Transparenz der Vergabe in diesem Bereich angeht ist ja hinlänglich bekannt.

Es gibt aber auch scheinbar sakrosankte Subventionen im Kulturbereich. Nur wenige hinterfragen zum Beispiel die Subventionen für die Salzburger oder Bayreuther Festspiele. Neben den Politikerinnen und Politikern betonen diese Schwellenangst und die Sehnsucht nach Breitenwirkung auch alle Festivaldirektoren, -kuratoren und sonstige -toren. Ich bin mir nie sicher, ob diese das auch noch selber glauben. Denn es ist für mich kaum vorstellbar, dass die Verantwortlichen eines Festivals wie zum Beispiel „Wien Modern“ tatsächlich glauben, ihr Kulturevent könnte die breite Masse begeistern und diese gar zum Besuch solcher Veranstaltungen verleiten. Jetzt sind wir schon mitten in der zweiten Assoziation, denn was ist im Gottes Namen so schlimm an Schwellen?

Kunst und Kultur sind in der Demokratie ein Angebot an die Bevölkerung, welches diese wahrnehmen können oder eben nicht. Demokratie bedeutet allerdings sicherlich nicht die große Gleichmacherei, das Gegenteil ist das Ziel der modern verfassten Demokratien. Außerdem bedarf es für den Zugang zu zeitgenössischer Kunst, ob jetzt Musik oder Bildende Kunst, Theater oder Literatur, immer auch des Wissens und der Auseinandersetzung mit der selbigen. Das allein ist schon eine Schwelle, die zu nehmen nicht alle willens sind. Natürlich könnte man jetzt nach Bildung und Ähnlichem rufen und im Rahmen einer bildungspolitischen Zwangsbeglückung versuchen solche Art von Kultur didaktisch bis zur Unkenntlichkeit zu reduzieren, nur um sich den Vorwurf des Elitären zu erwehren. Für mich kann es aber eben nicht Ziel der Kultur sein, es allen Recht zu machen. Die Macher der zeitgenössischen Kultur sollten vielmehr stärker auf die Qualität ihrer Veranstaltungen achten als auf niedrige Schwellen und das breite Publikum. Denn die Orientierung an der Masse führt logischerweise immer zu durchschnittlichen Ergebnissen.

Natürlich ist es wichtig, Veranstaltungen anzubieten, die auch für weniger Betuchte bezahlbar sind oder die gar ohne Eintrittsgeld auskommen. Diese monetäre Schwelle gilt es tatsächlich zu bekämpfen, denn nicht alle Liebhaber der zeitgenössischen Kultur sind wohlhabend. Die Kultur hat gerade für mich die Aufgabe Kontroversen auszulösen und auszuhalten. Kultur soll nie dem Mehrheitsgeschmack um jeden Preis folgen, vielmehr soll sie polarisieren, verstören und verängstigen. Sie hat die Aufgabe unser Denken zu irritieren und infrage zu stellen. Sie soll uns mit neuen Wahrnehmungen konfrontieren. Sie soll uns unserer Gewohnheiten berauben bzw. diese erschüttern. Denn wir Menschen lieben das alte Bekannte, sind über weite Strecken risikoscheu und verabscheuen es, geradezu unsere Meinung aufgeben und ändern zu müssen. Schon deshalb ist die zeitgenössische Kunst und Kultur nicht massentauglich und wird nur Anklang bei einer kleinen Schicht der Bevölkerung finden. Und daran kann ich nichts Schlimmes finden, außer dass sie dadurch immer unter einen gewissen Erklärungs- und Rechtfertigungszwang geraten wird und dies eben zu dem beschriebenen Phänomen der Schwellenangst führt. Es geht hier natürlich auch um eine Minderheit jenseits der Massenkultur, die per se darunter leidet, nicht von allen verstanden und geliebt zu werden. Gerade die Künstlerinnen und Künstler würden sich natürlich häufig ein Verständnis aus breiten Schichten der Bevölkerung wünschen. Allerdings ist es gerade die moderne Demokratie, die letztlich auch oft genug betont, im Input der verschiedenen Strömungen ihre Überlebenschance zu sehen. Es kann nicht sein, dass sich Kultur in allen Belangen der ökonomischen Verwertbarkeit und dem Massengeschmack anbiedern muss und die Werthaltigkeit oder der Nutzen nur unter diesen beiden Aspekten gesehen wird. Meine Welt wäre ohne zeitgenössische Musik, Theater oder bildende Kunst viel monotoner und meine Introspektion um viele Ideen und Irritationen ärmer. Die einzige Schwelle, die es einzureißen gilt, ist die monetäre, denn die Exklusion vom kulturellen Geschehen aufgrund der nicht vorhandenen eigenen finanziellen Mittel ist nicht hinnehmbar. Noch dazu, wo dieser Umstand oft nicht immer in der Hand der Betroffenen liegt. Genannt seien hier z.B. nur jene Menschen, die am Arbeitsmarkt aus welchen Gründen auch immer keinen Platz mehr finden und aufgrund ihres geringen Einkommens keinerlei Ressourcen zur Verfügung haben die sie für kulturelle Veranstaltungen ausgeben könnten.

Wenn sich jemand nicht für Kultur interessiert oder einfach glaubt, dass dies alles nur ein „Hirnwichsen“ sei, die oder den werden wir auch bei noch so niedrigen Schwellen nicht begeistern können. Ich wünsche mir also lediglich bei Eintrittspreisen keine Schwellen. Im Bereich Preisgestaltung gibt es für mein Gefühl noch sehr viel kreatives Potential bei vielen Veranstaltern, allerdings sollten wir uns von dem Einwand der hohen Preise nicht schrecken lassen. Denn selten ist es tatsächlich der hohe Preis, der Menschen davon abhält kulturelle Events zu besuchen. Es wäre ja einmal interessant herauszufinden, wie viele Wienerinnen und Wiener zum Beispiel den Kulturpass kennen und auch nutzen sofern sie darauf Anspruch haben. Sowohl die Sozialämter als auch das AMS können diese Pässe ausstellen, wenn das Einkommen eine gewisse Höhe nicht überschreitet, aber leider wird diese wunderbare Initiative an diesen Stellen zu den Betroffenen hin nicht kommuniziert. Diese müssen schon selbst bescheid wissen und danach fragen, sonst kommen sie nicht in den Genuss dieses Passes, der bei vielen kulturellen Institutionen gratis Eintrittskarten bereit hält. Solche Wissensdefizite gilt es zu bekämpfen und zu verändern. Das liegt aber nicht in der Hand der Kulturschaffenden, sondern in den Händen der Politik und deren verlängerten Armen, nämlich den Behörden.

Wenn wir uns über einen elitären und vermeintlich hochsubventionierten Kulturbereich ärgern und glauben, zu seiner Rechtfertigung imaginäre Schwellen bekämpfen zu müssen, wie einst Don Quichote die Windmühlen, werden wir dem Potential von Kunst und Kultur nicht gerecht und verhalten uns wie kleinkrämerische Buchhalter. Die Funktionsfähigkeit einer Gesellschaft wird sich auch an ihren kulturellen Ereignissen und ihrer Offenheit messen lassen müssen. Was wäre Wien und Österreich ohne sein reiches kulturelles Erbe. Die Stadt Wien bezieht einen Großteil ihrer Attraktivität nach wie vor aus den kulturellen Leistungen der Vergangenheit. Was wäre Österreich ohne Mozart, Haydn, Bruckner, Schönberg oder Klimt. Die Strahlkraft der Kultur ist unübersehbar und schon deswegen ist es die Pflicht einer Kulturnation dafür zu sorgen, dass Kultur auf hohem internationalem Niveau entstehen kann und letztlich auch geboten wird, ohne immer auf die unmittelbare Kosten-Nutzen Rechnung zu schielen. Europa wäre um vieles ärmer, wenn immer der unmittelbare Nutzen von Kunst und Kultur den Ausschlag gegeben hätte.

Vergesst den Großteil der Schwellendiskussion und macht euch zum Ziel hochwertige Angebote zu bieten, anstatt auf die Masse zu schielen.

Dieser Artikel könnte Sie auch noch interessieren:
Eine Brandschrift wider Kürzungen in den Kulturbudgets

Stéphane Hessel – der Polit-Popstar

Stéphane Hessel – der Polit-Popstar

hessel3

Stéphane Hessel (c) dr

Stéphane Hessel, 93jähriger, französischer Grandseigneur, war am 10.2. vom Europarat und der Stadt Straßburg zum „Dialogue de Strasbourg“ eingeladen worden. Der unglaublich virile ehemalige Diplomat kam dieser Einladung gerne nach, konnte er doch dabei sein Buch „Indignez -vous!“ zu Deutsch: „Empört Euch!“ promoten.

Wie bei einem richtigen Popkonzert wartet das Publikum gut eine halbe Stunde länger auf den Auftritt des Stars. Immer strömen noch mehr Zuhörerinnen und Zuhörer in den Saal, in dem sich schließlich viele auch auf den Treppen zwischen den Sitzreihen niederlassen müssen. Als er auf die Bühne kommt, beginnt es im Raum zu kochen. Standing ovations mit frenetischem Applaus begrüßen den alten Herren und das zu Beginn einer Veranstaltung, bei der es um politische Ansichten und die Aufforderung zum Handeln geht – ganz abseits von einer Parteienveranstaltung.  Wer hat das schon gesehen?

Stéphane Hessels Biographie liest sich wie ein Schnelldurchlauf der Geschichte des 20. Jahrhunderts mit Siebenmeilenstiefeln, in denen ein Mann steckte, der aufgrund seiner Herkunft und seines eigenen Tuns heute für viele als Vorbild gelten kann. Sein neuestes Werk, ein Büchlein mit gerade einmal 32 Seiten, schlägt in Frankreich alle Verkaufsrekorde. Seit seinem Erscheinen im Oktober 2010 bis Ende Januar ging es 1,3 Millionen Mal über die Ladentische. Der Dumpingpreis von 3,– Euro, aber auch die gute Platzierung direkt neben den Kassen der unabhängigen Buchhandlungen, sowie Hessels Auftritt in einer Fernsehshow zu später Sendezeit reichte, um diese verlegerische Erfolgsgeschichte zu schreiben, möchte man meinen. Doch ganz so einfach ist das „Bestsellerrezept“ nicht.

Es gibt mehrere Faktoren, die für diesen Verkaufshit verantwortlich sind. Der erste muss den Verlegern – Indigène aus Montpellier, herausgegeben in der Reihe „Ceux qui marchent contre le vent“ – zugeschrieben werden. Sie waren es, die auf Hessel aufmerksam geworden waren, ihn um ein Treffen baten und dabei im Anschluss in wenigen Sceancen notierten, was der alte Herr zum Thema Empörung zu sagen hatte. Somit war es nicht Hessel, der von sich aus einen Verlag gesucht hat, sondern der Verleger suchte sich seinen Autor –  ganz zeitgeistig – beinahe wie im Sinne der heutigen Castingshows.  Ursprünglich sollten seine Erfahrungen in der Résistance im Zentrum der Aufnahmen stehen; dass sich Hessel jedoch mit den 14 direkt ihm zugeschriebenen Seiten dann stärker mit einem Zukunftsprogramm an die junge Generation Frankreichs wandte, dürfte auch seine Auftraggeber verblüfft haben.

Den zweiten Faktor, der, abgesehen von der erwähnten Fleißaufgabe der Editoren, notwendig ist, dass ein Buch zum Bestseller avanciert, muss man schon etwas genauer unter die Lupe nehmen. Ganz genau hinschauen bzw. hinfühlen zu jenen Menschen, die das kleine Büchlein vor Weihnachten oft gleich im Dutzendpack kauften, um damit ihre Freunde und Verwandtschaft zu beglücken. Und auch hier wiederum ist es à priori nicht der Inhalt, der viele Menschen in Frankreich aus dem Herzen geschrieben scheint, sondern ganz gewiss auch eine relativ banale Motivation: Wann kommt man schon in den Genuss, ein Weihnachtsgeschenk um heiße 3 Euro zu verschenken, bei welchem gleichzeitig die eigene intellektuelle Wachsamkeit mittransportiert wird!

Der dritte Faktor schließlich ist der interessanteste von allen. Denn liest man das kleine Pamphlet, fragt man sich, was Hessel denn darin so Neuartiges, so Einzigartiges von sich gegeben hätte, das nicht schon davor allen bekannt war? Nun, das Problem zwischen Israel und den Palästinensern im Gazastreifen ist es nicht, was die Nation bewegt. Wenn, dann schon eher spaltet. In jene, die meinen, Hessel agiere hier politisch völlig unkorrekt und würde sich zu sehr auf die Seite der Palästinenser stellen. Und anderseits in jene, die Hessels Argumentation folgen und meinen, Ungerechtigkeit muss beim Namen genannt werden, selbst auf die Gefahr hin, dass die Pro-Israelfront mit Schaum vor dem Mund herumläuft, angesichts ihrer nicht genügend hervorgehobenen Demütigungen und Terroranschläge, die das Land von der Hamas hinnehmen und erleiden musste und immer noch muss. Wie auch der Erfolg des Sarrazin`schen Werkes in Deutschland zeigt, ist ein vermeintlicher oder tatsächlicher Tabubruch immer auflagefördernd. Das scheinbar eindeutige zur Schau-stellen seiner nicht am Mainstream orientierten Meinung scheint den Erfolg zu begünstigen.  Allerdings sei an dieser Stelle gesagt: Haltet ein, beide Parteien. Schaut genau hin, was Hessel schreibt und sagt, denn er tritt für einen Dialog ein, den er zugegebenermaßen als „extrem schwer“ aber „nicht unmöglich“ bezeichnet. „Es geht darum, diesen Konflikt ohne Gewalt auszutragen. Gewalt ist das falsche Mittel, Unterdrückung ist das falsche Mittel. Damit kann nie Frieden gedeihen“. Und dennoch wird er dabei scheel angesehen. Das ist wohl das Los und vielleicht auch das Erfolgsrezept jener, die Position beziehen und sich nicht scheuen, bis aufs Messer dafür kritisiert zu werden. Ganz abgesehen von dieser Polemik und Auseinandersetzung, die das Büchlein in politisch aktiven Kreisen ausgelöst hat, ist es viel stärker dafür berühmt geworden, zu einem urdemokratischen Misstrauen aufgerufen zu haben und ein aktives Einmischen in die Politik der Mächtigen zu fordern.

Doch zurück zur Erfolgsgeschichte und deren dritten Faktor: Gerade Stéphan Hessel schreibt man aufgrund seines Lebens und Wirkens ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit zu. Man nimmt es diesem liebenswerten und gleichzeitig scharfsinnigen Herren ab, dass es ihm nicht um politische Lorbeeren ging und geht. Er war nie verstrickt in tagespolitische Entscheidungen, war nie einer von „denen da oben“. Im Gegensatz zu Sarrazin war er nie aktiver Politiker, jedoch Zeit seines Lebens ein politischer Aktivist.„Schaut Euch um“, sagt der alte Herr direkt ans junge Publikum im Saal Schweitzer in Straßburg gewandt. „Rund um euch gibt es Dinge, die betreffen euch. Die machen euch betroffen, die wollt ihr so nicht hinnehmen. Es kommt ganz darauf an, was euch stört. Seien es soziale Ungerechtigkeiten zwischen Jung und Alt, sei es die schlechte Behandlung von Migranten in diesem Land, sei es das Abholzen der Regenwälder. Ganz nach Eurer eigenen Persönlichkeit gibt es Dinge, die Euch so, wie sie derzeit gehandhabt werden, nicht passen. Dagegen müsst ihr euch wehren“. Sagt er und schreibt er, wohl wissend, dass dieser Aufruf alleine nicht genügt. Die „Generation Fun“ ist ja angeblich immer darauf bedacht, ihren eigenen Vorteil bei allem Tun und Lassen zu sehen. So zumindest legt der Diskussionsleiter die Fährte in Richtung Spaßgesellschaft. Aber auch hier weiß Hessel Rat: „Ich sage Euch, weil ich es selbst erlebt habe, weil ich es selbst gefühlt habe. Sich für sein Land einzusetzen, oder heute noch darüber hinaus – sich einzusetzen für den Erhalt der ganzen menschlichen Rasse – ist etwas, dass noch viel mehr Glück bereitet als man es mit der Erfüllung der eigenen, privaten Wünsche erleben kann!“ Wer kann da noch etwas dagegen setzen? Hessel verschreibt Widerstand zur persönlichen Glücksanhebung auf Rezept, sozusagen. Das dürfte wohl der allergrößte Motivwandel sein, der Aufbegehren und Revolutionen bisher zugrunde lag. Sieht man eimal davon ab, dass die Grundbedürfnisse eines Menschen nach Maslow gedeckt sind! Und doch dürfte dieser Rat, dieses Rezept nicht das Schlechteste sein.

Der Zufall wollte es, dass Hessel am Vorabend der Mubark-Abdankung in Straßburg war und aufgrund einer Fehlinformation, der auch Amerika aufgesessen war, gleich nach dem Betreten der Bühne verkündete: „Ich kann euch mitteilen, dass Mubarak zurückgetreten ist“, was mit allgemeinem Applaus quittiert wurde. Es sollte zwar noch einen Tag länger dauern, dass Ägypten seinen seit über 30 Jahren amtierenden Präsidenten aus dem Amt demonstrierte. Aber der Bogen zwischen diesem Geschehen und Hessels Ausführungen ist dennoch extrem bemerkenswert. Denn Hessel sprach ein Dilemma der westlichen Demokratien an, das mit einer Politikverdrossenheit vor allem der jungen Menschen einhergeht: „Wenn man den Krieg zwischen seinen Händen hält, ist es leicht, gegen etwas zu sein, sich zu empören!“ Was Hessel im Hinblick auf seine Jugend meinte, wird mit einem kleinen Blick nach Ägypten wie unter einem Brennglas beleuchtet. Es ist gefühlsmäßig leicht nachvollziehbar, dass in diesem arabischen Land Massen auf die Straße gingen und der psychologischen Kriegsführung der Führungselite Paroli bot. Wo es keine Demokratie gibt, die vom Volk getragen ist, wo Menschenrechte, wie in Europa gelebt, nur ein Traum sind, wo es nur einigen wenigen vorbehalten ist, Karriere zu machen, viele aber weit unter der Armutsgrenze leben müssen, da ist es tatsächlich die mannigfaltige Not, die man zwischen den Händen hält und die so unter den Nägeln zu brennen beginnt, dass man sich dagegen empören muss. In Tunesien und in Ägypten, aber auch allen anderen islamischen Ländern, in denen Menschen ohne direkte Demokratie mit freien, unmanipulierten Wahlen leben müssen, ist es leicht und zugleich unsagbar schwer, sich zu empören. Für über 300 Menschen in Ägypten so schwer, dass sie dabei ihr Leben verloren.

In Frankreich muss Stéphane Hessel von Veranstaltung zu Veranstaltung reisen, sich selbst als Vorzeigegutmenschen präsentieren und den jungen Menschen mehr Glück versprechen, damit sie sich politisch und sozial engagieren, um – vielleicht – etwas bewirken zu können. „Etwas“ in Hessel´schem Sinne meint: einen Fortschritt für die Gemeinschaft erkämpfen.  Die Menschenrechte stärken, die, auch mehr als 63 Jahre nach ihrer Deklaration nichts an Aktualität und Notwendigkeit eingebüßt haben. In Frankreich füllt Stéphane Hessel Säle mit einigen hundert Menschen, in Straßburg gut einem Drittel davon im Studentenalter. In Ägypten demonstrierten Millionen hoch motivierter Menschen. Dort brauchte es keinen Hessel, der die Jungen zum Widerstand aufrief. In Frankreich, aber darüber hinaus auch in ganz Europa, ja eigentlich der gesamten westlichen Welt, braucht es aber Menschen wie Stéhane Hessel, die den Jungen die Augen öffnen und ihnen aufzeigen: „Ohne Euch geht es nicht!“ Dass der große alte Herr des Widerstandes – „ich bin ein Freund von Aufmüpfigkeit“, sich 2010 auf die Liste der Grünen im Regionalwahlkampf um Paris setzen ließ straft all jene Lügen, die ihn ausschließlich für einen eingefleischten Linken halten. „Daniel Cohn Bendit ist so ein Aufmüpfiger, deshalb habe ich ihn gerne unterstützt“ fügt er mit einem unglaublichen Schalk im Auge seinen erklärenden Ausführungen hinzu – und – wer an diesem Abend dabei war weiß: das kam von Herzen.

Die Nähe der Veranstaltung in Straßburg und der Sturz Mubaraks am  darauf folgenden Tag machte es überdeutlich. Abstrakter Widerstand, Widerstand, der aus der eigenen Persönlichkeit heraus wachsen muss, ohne große Unterstützung von der Familie, von Nachbarn oder Arbeitskollegen, ist nur ganz wenigen gegeben. Widerstand, der ein kollektives Erlebnis benötigt, dadurch erst möglich wird, ist jener, der, zumindest hat es auf den ersten Blick so den Anschein, nachvollziehbar und gerechtfertigt erscheint. Einige werfen Hessel Anstiftung zum Aufruhr vor, den Aufruf zur Ungehorsamkeit quasi. Hätte Hessel in seiner Jugend diesen Ungehorsam kollektiv erleben können, der zweite Weltkrieg wäre diesem Planeten vielleicht erspart geblieben. Aus seiner Sicht hat er Recht. „Indignez vous! Empört euch!“ bevor es tatsächlich wieder zu spät ist! Aber so sollte man auch hinzufügen – schaut genau hin, bevor ihr euch empört! Denn auch der Nationalsozialismus, der für Stéphan Hessels Engagement für Frieden und Menschenrechte ausschlaggebend war, wird  gerade an seinem Beginn häufig als eine instrumentalisierte Empörungsbewegung der Jungen angesehen. Deshalb sollte man, nein –  muss man – bei aller Empörung auch immer noch so viel kühlen Kopf behalten, dass man seine Empörung nicht den falschen Agitatoren opfert.

Empörung ja, aber immer im Sinn der Menschenrechte und der Erhaltung der natürlichen Ressourcen. Wer sich nur empört, um des Empören willen, kann mit Stéphan Hessels Segen nicht rechnen.

Eine Brandschrift wider Kürzungen in den Kulturbudgets

Eine Brandschrift wider Kürzungen in den Kulturbudgets

Kennen Sie den nachhaltigsten Rohstoff Europas?

Die aktuelle Finanzkrise lässt, interpretiert man die Zeichen richtig, den Schluss zu, dass in den Kulturbudgets der europäischen Länder bereits in den nächsten Monaten der Rotstift angesetzt werden wird. Das erste Opfer, das durch die Medien ging, ist das Wuppertaler Theater, das ganz geschlossen werden soll. Auch Hamburg und Stuttgart sehen drastische Einsparungen – sprich Kürzungen in ihren Kulturbudgets vor. Weitere werden folgen. In der freien, unsubventionierten Privatwirtschaft ist die Krise im Kunst- und Kulturbereich bereits angekommen. Sponsoren werden zurückhaltender mit Geldern, private Sammler agieren nur mehr vorsichtig bei Ankäufen und Kulturveranstalter reduzieren die Kosten für ihr Personal auf das absolut notwendige Minimum, um sich den neuen, wirtschaftlichen Gegebenheiten  anzupassen. Ich erlebe auch persönlich, wie groß die Zurückhaltung derzeit ist in Projekte zu investieren, die sich mit Kunst beschäftigen. Vieles wird auf Eis gelegt und verschoben, wann der Zeitpunkt gekommen sein wird, diese Projekte tatsächlich abzuarbeiten, ist ungewiss. Mit einigem Nachdenken wird deutlich, dass eigentlich jede und jeder, die oder der sich im Kulturbetrieb engagiert, im Moment sämtliche Alarmglocken läuten hören muss, die da verkünden: die Zeiten werden noch härter, das Geld wird noch spärlicher fließen. Mir, als Einzelkämpferin, bleibt nichts anderes übrig, als auf dieses bedrohliche Phänomen aufmerksam zu machen und mich zumindest mit Worten vehement gegen diese drohende Entwicklung zu stemmen und Gegenargumente aufzuzeigen. In der allerleisesten Hoffnung, irgendwo Gehör zu finden und einen Denkprozess in Gang zu setzen, der in Aktionen mündet, die sich für und nicht gegen die finanzielle Unterstützung von Kunstprojekten aussprechen.

Kunst als natürliche Ressource

Europa besitzt eine unübertroffene Ressource, die nicht nur nachhaltig ist, sich ständig erneuert und noch dazu jede Umweltverträglichkeitsprüfung mit Bravour besteht. Es handelt sich dabei um eine Ressource, die, je mehr man sie fördert, umso üppiger nachwächst, je mehr man in sie investiert, eine umso höhere Umwegrentabilität zeigt und je länger man sie vor Ort hegt und pflegt, umso nachhaltiger auf die kommenden Generationen wirkt. Die Ressource, über die an dieser Stelle nachgedacht wird, ist – wie sollte es hier auch sonst sein – nichts anderes als der „Rohstoff“ Kunst.

Um die Ressource Kunst  anzubohren, muss man nicht irgendwo Rohstoffe plündern, man braucht keine Kriege um diese Ressource zu führen, man wird in Zukunft keine giftigen Rückstände entsorgen müssen oder darüber nachzudenken haben, wie unsere Kinder und Kindeskinder mit einer dadurch aufgelasteten Hypothek einst fertig werden können. Die Beschäftigung mit dem Rohstoff Kunst fördert das Demokratieverständnis und hebt die Lust an der Kommunikation. Sie bringt Menschen und ganze Völker zueinander, die ohne sie nicht zueinander gefunden hätten und produziert weiteren Rohstoff, für den dasselbe wie bisher Gesagte gilt.

Kunst wird bislang nicht als Rohstoff gesehen, weil die Produktion von Kunst, speziell in den deutschsprachigen Ländern, oft noch im Geruch des Exotischen, Bohemistischen oder überhaupt abstrus Undurchschaubaren bleibt und für den Großteil der Bevölkerung als völlig irrelevant für ihr eigenes Leben betrachtet wird. Würden die Menschen jedoch erkennen, dass dies ein falscher Denkansatz ist und unsere Gesellschaft nicht weniger, sondern noch viel mehr Kunst vertragen könnte, dann wäre ein richtiger Schritt in eine Zukunft getan, in welcher die Ressource Kunst, wie eingangs beschrieben, zu einer Hochblüte gelangen könnte. Und dies mit positiven Nebeneffekten auch in Gesellschaftsbereiche, die auf den ersten Blick als kunstfern bezeichnet werden. Kunst wird von Menschen gemacht, entsteht in den Köpfen von Menschen und äußert sich in unterschiedlicher Vielfalt. Sie geht, da sie sich an eine Öffentlichkeit wendet, über eine persönliche, egoistische Lebenserhaltung hinaus, ohne jedoch dadurch weder unsere Erde, noch Menschen auszubeuten, die sich in einem anonymisierten Produktions- oder Dienstleistungsprozess unterordnen müssen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Kunst als Wirtschaftsfaktor im Tourismus

Orchester als Tourismusattraktion (Foto: Paul Georg Meister/pixelio.de)

Orchester als Tourismusattraktion (Foto: Paul Georg Meister/pixelio.de)

Kunst ist ein Rohstoff, zu dem in vielen Ländern Europas jeder Zugang haben kann, der dies möchte; um den Europa von allen anderen Ländern der Welt beneidet wird und der sogar, wenn er als Exportartikel eingesetzt wird, im Ausland dafür sorgt, dass im Anschluss an einen Verkauf desselben der Fremdenverkehr in dem Land zunimmt, das diesen „Artikel“ zuvor exportiert hat. Das wohl plakativste Beispiel, das mir als geborene Österreicherin hierzu einfällt, sind die Wiener Philharmoniker. Ihre Auslandsauftritte, oder das in über 70 Länder übertragene Neujahrskonzert aus dem Wiener Musikvereinssaal, erwecken bei vielen Menschen die Sehnsucht, sich einmal die Heimatstadt dieses Orchesters anzusehen und einen Aufenthalt dort zu planen. Und Sehnsüchte werden nicht nur geweckt, sondern alljährlich weist Wien in einer Statistik genau auf, warum die Besucher tatsächlich nach Wien kommen und was sie sich dort genau ansehen:  Knapp 6 Millionen Gäste strömen alljährlich nach Schönbrunn – inkludiert die Sehenswürdigkeiten Schloss Schönbrunn, Tiergarten Schönbrunn, Palmenhaus Schönbrunn, Irr- und Kronprinzengarten sowie die Wagenburg. Knapp 2 Millionen besichtigen das Hofburgareal bestehend aus den Kaiserappartements, Sissi Museum, Silberkammer, Schatzkammer, Spanische Hofreitschule, Schmetterling- und Palmenhaus, Österreichische Nationalbibliothek, neue Burg & Museum für Völkerkunde und dem Papyrusmuseum. Und noch immer 849.471 Personen nahmen im MuseumsQuartier an den Ausstellungen und Veranstaltungen im Leopold Museum, Museum Moderner Kunst, Architekturzentrum Wien, Dschungel Wien, Zoom Kindermuseum und in der Kunsthalle Wien teil. Insgesamt genossen rund 3,6 Millionen Menschen die Stimmung und das Flair im Areal des MuseumsQuartiers.  (Zahl lt.WienTourismus einzusehen unter: https://b2b.wien.info/article.asp?IDArticle=4567)

Es ist noch nicht allzu lange her, dass man marktwirtschaftlich begonnen hat,  Kunst und Kultur als wirtschaftliches Phänomen auch in Zahlen auszudrücken. Dabei zeigte sich deutlich, dass die wirtschaftlich positiven Auswirkungen bisher weit unterschätzt, ja ganz im Gegenteil völlig falsch beurteilt wurden. So belegte z.B. eine Studie, welche die Semperoper 2007 in Dresden in Auftrag gab, dass das Haus einen Rentabilitätsfaktor von 3,9 aufweist, was so viel bedeutet, dass jeder Euro, den der staatliche Träger in die Institution Sächsische Staatsoper Dres­den investiert, sich wirt­schaft­lich mit einem Faktor 3,9 hinsichtlich eines mone­­tären Rückflusses rentiert. Oder in einer anderen Zahl ausgedrückt, die Semperoper ist in Dresden für 7,2 % des gesamten Tourismus-Umsatzes verantwortlich. https://www.ifk-verein.de/fileadmin/ifk/downloads/praxisforum/2008/Praxisforum_2008_Projekte.pdf

Ausgerechnet Kunst, die oft Geschmähte, die vielfach als zu teuer Betrachtete, Kunst, die angeblich nur für eine kleine Bildungsschicht da ist, Kunst, die nur kostet und nichts bringt, hört man sich in Bierkneipen um, wo auch so manch anderer Stumpfsinn fröhliche Urstände feiert, ausgerechnet dieses Phänomen sollte stärkenswert sein? In einer Zeit, in der – die Zukunft wird es zeigen –  Budgetkürzungen aller Art zu erwarten sind, natürlicherweise auch in Bereichen der Kunst, bzw. Kultur sollte man dieser weiter mit öffentlichen Geldern Hilfestellung leisten? Selbstverständlich, denn Kunst, betrachtet man sie genauer, wirkt nicht nur nachhaltig, sondern produziert darüber hinaus auch noch ganz andere Nebeneffekte, die in einer gesunden Marktwirtschaft höchst erwünscht sind.

Kunst als Beschäftigungsfaktor

Dass eine lebendige Museumslandschaft, ein vielfältiges Konzert- Opern- und Theaterangebot sich positiv auf den Fremdenverkehr auswirkt, ist kein Geheimnis mehr und wurde am Beispiel Wien oder Dresden mit eindringlichen Zahlen bereits kurz veranschaulicht. Dass Kunst Arbeitsplätze schafft und erhält, und zwar in vielerlei Bereichen, wird oft nicht bedacht. Die Beschäftigungszahlen steigen in jenen Bereichen, die sich mit Kunst beschäftigen jedoch  ständig. Stellen Sie sich ein rechtwinkeliges Dreieck vor, das auf seiner Spitze – also „auf dem Kopf“ steht. Die Spitze symbolisiert eine kleine Zahl von Personen, die mit der ursächlichen Kunstproduktion beschäftigt sind. Das wären Schriftsteller, Maler, Bildhauer, Fotografen, aber auch Komponisten. Die Reihe ließe sich noch fortsetzen. Ein wenig darunter ist schon eine größere Anzahl von teilnehmenden Personen angesiedelt, nämlich jene, die mit den bereits genannten direkt zusammenarbeiten. Bei Schriftstellern also Verleger, Übersetzer, Lektoren, Graphiker, Drucker, bei Malern Galeristen und  Museumsfachleute, Katalogherausgeber, Kunsthistoriker und wissenschaftliche Mitarbeiter, ebenso bei Bildhauern – hier noch häufig zusätzliche Arbeitskräfte im Atelier und Menschen im Speditionsgewerbe, die Bücher, Skulpturen und Plastiken von A nach B transportieren, bei Fotografen wiederum jene Modelle, die sich ablichten lassen, wiederum Herausgeber von Print- oder Onlinemedien, Lektoren, Graphiker, Drucker und bei Komponisten ebenso Verleger, aber auch Dirigenten, Opernintendanten, Leiter von Jazzevents usw. usw. Noch eine Stufe darunter wiederum wird der Beschäftigungsgrad noch höher. Wird das Werk eines Schriftstellers veröffentlicht, muss Papier bestellt werden und Farbe, arbeiten hierfür Fabrikangestellte in Papier- und Farbfabriken, Frächter mit ihren Fahrern, ob auf der Schiene oder der Bahn; müssen von Buchhaltern Rechnungen geschrieben und Rechtsanwälte bemüht werden, die sich um das Aufsetzen von  Verträgen kümmern, geht es darum, das Geschriebene vielleicht auch noch als Bühnen- oder Filmstück zu verkaufen. Ganz zu schweigen von den Heerscharen von Musikern, die Musik zum Klingen bringen, in Orchestern, kleinen Formationen oder solo auf einer Bühne, umrahmt von Bühnenmitarbeitern, Pressebetreuern, Veranstaltern. Dasselbe gilt selbstverständlich auch für Schauspieler und Tänzer, die solistisch, oder in einem Ensemble auftreten. Verzeihen Sie diese sprunghafte und rudimentäre Aufzählung, die jeglicher Vollständigkeit entbehrt. Lassen Sie Ihrer Fantasie selbst freien Lauf und spinnen einfach die Kette weiter, egal mit welchem künstlerischen Beruf, bis vielleicht sogar hin zu jenen Museumswärtern, die Kunst bewachen –  Kunst, die viele hunderte Jahre alt ist und die auch in den nächsten Generationen noch restauriert und bewacht werden wird, und so mit einer Nachhaltigkeit in der Wirtschaft verankert bleibt, wie kaum ein anderes „Produkt“ oder eine andere Dienstleistung.

Viele Menschen in diesen ellenlangen Ketten – bis hin zu jenen, die als Finanzprüfer die Unterlagen von Kulturschaffenden überprüfen, verdienen ihr tägliches Brot mit Kunst. Mit einer Lebensform, die man gerne außerhalb unseres alltäglichen Lebens ansiedeln möchte und die doch in der Mitte unserer Gesellschaft eingebettet ist. Zwei Zahlen sollen darauf hinweisen, wie stark die Verankerung von Kunst und Kultur in der Wirtschaft tatsächlich ist. Eine wurde von der Eurostat-Pressestelle im Jahr 2004 veröffentlich. Damals waren 2,5 % aller in der EU Beschäftigten in kulturnahen Bereichen anzutreffen, was ungefähr 5,8 Millionen Arbeitnehmern entspricht.  Diese Zahl wird noch beeindruckender, wenn man weiß, dass in Griechenland und Irland zusammen weniger Menschen berufstätig sind. https://europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=STAT/04/68&format=HTML&aged=1&language=DE&guiLanguage=en

Die zweite Zahl veröffentlichte das Büro für Kulturpolitik und Kulturwirtschaft im Februar 2007 bezugnehmend auf  die Wertschöpfung der sogenannten „Creative Industries“ in ganz Deutschland, dazu gehören neben Kulturwirtschaft der Werbemarkt und die Software/Spieleindustrie. Für 2004 weisen diese einen Jahresumsatz in Höhe von 117 Milliarden Euro aus und bewegen sich mit einer Bruttowertschöpfung von 58 Milliarden Euro und einem BIP-Anteil von 2,6% zwischen der Chemischen Industrie (46 Mrd./2,1%) und der Automobilindustrie (64 Mrd./2,9%). Nachzulesen unter: https://www.goethe.de/ges/pok/thm/pan/de2011834.htm

Wirtschaftlich schlechte Zeiten, in denen ständig die Kosten hinterfragt werden, evozieren oftmals drastische Kürzungen gerade bei den Kulturausgaben. Ausstellungen müssen gestrichen, Preise für Veranstaltungen angehoben werden, Gastspiele auf ein Minimum reduziert und neue Werke können nur mit der Aussicht auf einen Hungerlohn in Auftrag gegeben werden. Dass sich aber all dies spiralenartig fortsetzt, in dem oben nur angedeuteten Wirtschaftskreislauf, wird nicht bedacht.

Kunst als soziale Notwendigkeit

Verminderte Ausgabenzahlen im Kunstbereich können nur von jenen gefeiert werden, die Scheuklappen tragen und willfährige Gehilfen jener sind, die Hirnbesitzer aber keine Hirnbenützer sind. All diese selbst ernannten Sparmeister feiern nämlich nur vermeintliche Siege, die sich jedoch als Pyrrhussiege herausstellen, betrachtet man die Auswirkungen genauer. Jeder in Kunst investierte Euro vervielfacht sich im Laufe der Jahre, auch wenn dies nicht immer sofort erkannt wird, ich kenne keinen einzigen Fall in der Kunst, bei dem dies anders ist.

Ich schreibe diese Zeilen ganz aktuell unter dem Eindruck, dass viele Künstlerinnen und Künstler im Moment die Auswirkungen von Einsparungen hautnah erleben und unter kaum vorstellbaren Bedingungen weiter ihrer Arbeit nachgehen. Ich wende mich mit diesen Zeilen an all jene, die an einflussreichen Positionen ihr Werk verrichten und die Möglichkeit haben, über Ausgaben oder Einsparungen im Kunstbereich zu entscheiden. Es ist nicht nur das persönliche, finanzielle Wohlergehen von kreativen Menschen, das mir am Herzen liegt. Vielmehr ist es das Phänomen der Kunstproduktion selbst, das mich fasziniert und das es zu verteidigen gilt. Kunst bringt etwas in diese Welt, was vorher noch nicht da gewesen war. Menschen, die Kunst produzieren, schreiben, wenn sie so wollen, eine eigene, kleine, neue Schöpfungsgeschichte. Sie produzieren dadurch, dass sie ihre Gedanken materialisieren – seien es Noten, Bilder, Filme oder Texte – Vorstellungswelten, in denen sich andere Menschen wiederfinden können. Solche, die keine Begabung zu außergewöhnlichen, künstlerischen Leistungen haben, die aber dadurch ein Stück Bereicherung in ihrem Leben erfahren.

Der Mensch lebt nicht von Brot allein – wie viele Menschen müssen dies zurzeit erfahren. Es gibt viele, die in letzter Zeit ihren Arbeitsplatz verloren haben und materiell nicht üppig abgesichert sind. Die meisten von ihnen beziehen zum Glück soziale Leistungen und haben zumindest ein Dach über dem Kopf und genügend zu essen. Was ihnen jedoch oft fehlt, ist die soziale Einbindung und der Gedankenaustausch mit anderen. Uneingeschränkter Zugang zu kulturellen Ereignissen, mit dementsprechend offener Kommunikation und ohne den Aufbau von Schwellenängsten zu Veranstaltungen, trägt aktiv dazu bei, dass gerade Menschen in Lebenssituationen, in denen sie  finanziell benachteiligt sind, sich wenigstens in ihrem Menschsein nicht sozial isoliert fühlen müssen. Dass jetzt vorgenommene Kürzungen im Kulturbudget sobald nicht mehr zurückgenommen werden, zeigen alle vergleichbaren Erfahrungen der letzten Jahrzehnte aus anderen Bereichen. Einmal gekürzt, stabilisieren sich solche Entwicklungen dann nur mehr auf dem neuen, niedrigeren Niveau ohne jemals wieder an die ursprünglich erhaltene Summe heranzukommen. Kürzungen treffen, bedenkt man den dadurch erschwerten Zugang zu Kunst mit, vor allem wieder jene Gesellschaftsgruppe, die es auch schon jetzt nicht leicht hat, an Kunstphänomenen teil zu nehmen und verstärken den Trend zu einer Zweiklassengesellschaft.

Wenn Politikerinnen und Politiker Kunst auch als soziales Stabilisierungsmittel wahrnehmen könnten, dann würden sie mehr in sie investieren.

Tanzprojekt Gizella Hartmann (Foto: Mathias Wunderlich)

Tanzprojekt Gizella Hartmann (Foto: Mathias Wunderlich)

Hier ein konkretes Beispiel: ich verfolge ich seit Jahren aufmerksam die Projekte der Düsseldorfer Tänzerin Gizella Hartmann, die in Brennpunktschulen Tanzkurse mit ganzen Klassen im Rahmen des Unterrichts abhält. In Klassen, wohlgemerkt, die einen 50-80%igen Anteil an Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund aufweisen und deren Schülerinnen und Schüler von Pädagogen meist als zukunftslos bezeichnet werden, sollte es sich um eine Hauptschule handeln. Nichtsdestotrotz gelingt es der Künstlerin, die Jugendlichen zu einem Miteinander zu motivieren, das am Ende des Projektes oft in eine bühnenreife Aufführung mündet. Mit einer Realschulklasse erarbeitete sie das Tanztheaterstück „Hey, wo issn hier Moskow?!“. Die Leistungen gegen Projektende gingen weit über ein normales Schultheaterniveau hinaus. In das Projekt integriert waren desweiteren zwei Fotografen und ein bildender Künstler, der zusammen mit der Klasse das 30 qm große Bühnenbild schuf – unbezahlt, aufgemerkt! Kunst gab diesen Jugendlichen vielleicht das erste Mal in ihrem Leben eine adäquate und komplexe Ausdrucksmöglichkeit ihres Lebensgefühls. Sowohl die Persönlichkeitsentwicklung jedes Beteiligten als auch die Gruppe in sich sind deutlich gestärkt aus dem Projekt hervor gegangen.

Das klingt soweit so gut, bis auf die Tatsache, dass Projekte wie diese keinesfalls adäquat bezahlt werden, sofern sie aus öffentlicher Hand gefördert werden. Der Stundenetat bezieht sich immer nur auf die reine Unterrichtszeit mit der Klasse. Nachbesprechungen mit dem verantwortlichen Lehrer, Supervisionsgespräche, Kooperation mit dem schulischen Sozialpädagogen, Einzelbesprechungen mit Schülern, Koordination und Organisation der Aufführung und natürlich die Unterrichtsplanung werden in der Regel nicht honoriert. Das ist die Schnittstelle, wo die Gesellschaft das ehrenamtliche und soziale Engagement der Künstler voraussetzt und auf gewisse Weise ausnutzt. Ein Phänomen, das Künstler aller Sparten betrifft, wenn sie mit Kindern und Jugendlichen arbeiten und nicht nur dort.

Kunst als demokratiepolitisches Instrument

Politikerinnen und Politiker müssen nicht nur erkennen, dass kulturelle Äußerungen im Bereich Musik, Theater, Literatur, Tanz, bildender Kunst usw. für viele Menschen eine Unabdingbarkeit in ihrem Leben darstellen, sondern auch für den Lebensunterhalt von Hunderttausenden in einer nationalen Gemeinschaft sorgen. Sie müssen erkennen, dass Kunst nicht nur unsere Vergangenheit bestimmte und wir davon heute noch zehren, sondern sie sollte vielmehr in verstärktem Maße unsere Zukunft bestimmen. Politikerinnen und Politiker müssten erkennen, dass eine lebendige Kunst- und Kulturlandschaft den Bildungs- und Meinungsprozess der Menschen vehement fördert und müssten dies lautstark begrüßen. Gerade wenn Kunst uns irritiert oder verunsichert, wenn wir über die Intention der Künstlerin oder des Künstlers debattieren und diskutieren, entsteht ein demokratisches Bewusstsein. Wir müssen uns mit anderen Lebensentwürfen genauso auseinandersetzen wie mit anderen Kulturen und Ländern. Andere Lebensauffassungen, die wir nicht immer teilen müssen, führen aber trotz alledem zu mehr Verständnis und Toleranz.

Alleine als völkerverbindendes Element ist die Kunst aus der heutigen Zeit nicht mehr wegzudenken. Internationale Projekte fördern das gegenseitige Verständnis, sind jedoch ursächlich vom Damoklesschwert der Subventionskürzungen bedroht. Wie aber sollte sich Völkerverständnis in Zahlen ausdrücken lassen, sodass jene, die mit dem Rotstift unterwegs sind, vor Kürzungen zurückschrecken? Wie jedoch lässt sich die Zufriedenheit jener Menschen messen, die einen Abend nicht vor dem Fernseher verbracht haben ,sondern bei einem Liveevent waren, das viel direkter  und erinnerungswürdiger auf sie wirkt, als eine noch so gute gemachte TV-Sendung? Wie kann geweckte Neugier von Kindern gemessen werden, die das erste Mal eine Ausstellung besucht haben? In welche nationalökonomischen Berechnungen kann das kulturelle Angebot eines Landes einfließen? In welchen Statistiken wird die Zufriedenheit der Menschen eines Landes mit diesem Angebot ausgeworfen? Gibt es eine Möglichkeit, Erkenntniszuwachs, der durch die Teilnahme am kulturellen Geschehen resultiert, zu messen und in Statistiken zu verankern? Nichts von alledem wurde bisher gezählt, aber in jüngster Zeit wurde zumindest wahrgenommen, das hier ein großes Manko besteht. Nun gibt es neue Bestrebungen, welche die Grundlagen zur Berechnung des BIP, also des Bruttoinlandsproduktes, neu andenken. Ausgehend von einer vom französischen Staatspräsidenten Sarkozy in Auftrag gegebenen Studie, an der sich gleich 5 Nobelpreisträger beteiligten, wird versucht, wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu messen. Noch ist man aber weit davon entfernt, bisher unquantifizierbare Phänomene wie die oben beschriebenen in Zahlen zu fassen, um so Klarheit darüber zu erhalten, welcher Wert mit Kunst in einer Nationalökonomie eigentlich erwirtschaftet wird und welche Nachhaltigkeit ihr inne wohnt.  Dieses Handicap des schwer Messbaren wird, wie es im Moment aussieht, die Verteidigung von kulturellen Aktivitäten gegenüber Reaktionären und politischen Sparefrohs noch länger erschweren. Aber gerade deswegen ist es unbedingt notwendig, so oft es geht, auf diese Umstände hinzuweisen;  wir alle sollten, wann immer es möglich ist, unsere Stimme für Kunst erheben und schon gar nicht klein bei  geben, wenn es daran geht, künstlerische Projekte finanziell abwürgen zu wollen. Leider ist schon viel zu viel zerschlagen und zerstört worden. Der Musik- und Kunstunterricht in den Schulen wurde in den letzten Jahren europaweit systematisch gekürzt.

Kind lernt Klavierspielen (Foto: Rainer Sturm/pixelio.de)

Kind lernt Klavierspielen (Foto: Rainer Sturm/pixelio.de)

Kinder, die heute ein Instrument erlernen, gehören entweder zur Elite einer Großstadt oder leben noch in dörflichen Strukturen, in denen es noch „zum guten Ton“ gehört, in der Blaskapelle vor Ort mitzuspielen. Alle anderen jedoch, und das ist die überwiegende Mehrheit, spielt fleißig Musik – aber nur mehr aus der Konserve, mit einem einzigen Fingerdruck auf die Power-Taste. Diese Kinder und Jugendlichen können nicht erahnen, was ihnen entgeht und um wie viele Chance sie und die Gesellschaft beraubt werden.  Wer wird aber später einmal unseren Orchestern zuhören, wer wird später einmal unsere Museen besuchen, wenn die Grundlagen des Verständnisses dazu, die in der Jugend gelegt werden müssen, nicht mehr vorhanden sind? Und auf welchen kreativen Schatz werden sie als Erwachsene einmal zurückgreifen, wenn sie sich künstlerisch ausdrücken möchten?

Beispiel eines offeneren Kunstzuganges

In Kunst und Kultur darf, egal wie sehr die Gürtel enger zu schnallen sind, niemals weniger investiert werden. Wer dies anstrebt oder gar tut, handelt fahrlässig und ist sich der Tragweite dieser Entscheidung nicht bewusst. Die politische Frage angesichts einer angespannten wirtschaftlichen Lage kann nicht heißen, „wo können wir bei Kunst noch einsparen?“, sondern viel mehr, „was passiert eigentlich, wenn wir bei Kunst einsparen?“

Ich verbrachte die letzen 6 Jahre in drei Ländern: Österreich, Deutschland und jetzt in Frankreich und habe einen guten Überblick über die jeweilige Kulturpolitik der verschiedenen Nationen erhalten. Ich lebe derzeit in Straßburg, einer Stadt, die nicht als Großstadt bezeichnet werden kann und in der es dennoch möglich ist, beinahe täglich an einem kulturellen Ereignis teilzunehmen, ohne dafür die Geldbörse öffnen zu müssen. Ich erlebe dies hier in Frankreich, in einem Land, das, so scheint es, seine Prioritäten im Umgang mit Kunst tatsächlich anders sieht, als in den deutschsprachigen Nachbarländern, wo ich eine wesentlich höhere Zugangsschwelle zu kulturellen Veranstaltungen festgestellt habe.

Nennen Sie mir eine Stadt mit ca. 250.000 Einwohnern in Deutschland, Österreich oder der Schweiz, in der sie im Jahr ca. 150 – 200 Literaturlesungen, 150 – 200 frei zugängige Konzerte und 52 Sonntage im Jahr haben, an denen in den Museen kein Eintritt zu zahlen ist. Wer einmal bei diesen Veranstaltungen dabei gewesen ist, der weiß, wie groß der Hunger der Menschen nach Kunst ist – denn jede einzelne dieser kostenlosen Veranstaltungen ist so gut besucht, dass die Säle oft zu klein sind, in denen sie stattfinden und viele Besucherinnen und Besucher stundenlanges Anstellen oder auch Stehen während der Vorführungen in Kauf nehmen, nur um dabei sein zu können. Die eintrittsfreien Museumssonntage entwickeln sich zu Familienwandertagen, bei welchen das Kleinkind ebenso wie die betagten Großeltern ins Museum gehen und sich in zwangloser Atmosphäre unter vielen anderen die neuesten Ausstellungen ansehen. Ob zeitgenössische Kunst oder mittelalterliche Retabeln gezeigt werden, ist völlig egal, immer strömen Massen von sich anregend unterhaltenden Menschen an den eintrittsfreien Sonntagen durch die sonst so heiligen Kulturstätten. Ähnliches kennt man auch in Deutschland und Österreich, wenn es anlässlich der „Langen Nacht der Museen“ mittlerweilen in großen Museen schon darum geht, dem Massenansturm auch nur irgendwie Herr zu werden. Bei der Eröffnung des Festivals Musica, einem Festival für zeitgenössische Musik in Straßburg, stürmten an einem Sonntagnachmittag 3000 Menschen die Musikhochschule, in der ca. 25 unterschiedliche Konzerte bei freiem Eintritt gegeben wurden. Und es handelte sich beileibe nicht um „leichte“ Kost, die zur Aufführung gebracht wurde. 24% der Besucher der Opera du Rhin in Straßburg sind unter 26 Jahre alt, ein Wert der, soweit ich weiß, in Europa ziemlich einzigartig ist. Er resultiert unter anderem aus der Einführung der Straßburger „carte cultur“ einer Karte, die die Inhaber berechtigt, um 5,50 Euro bei einer kulturellen Veranstaltung dabei zu sein. 5,50 Euro, egal ob für eine Opernaufführung oder ein Gastspiel einer internationalen Theatertruppe, das schon lange im Voraus ausverkauft ist, um nur zwei Beispiele zu nennen. Ebenso dazu gehört der freie Eintritt in einen großen Verbund von Museen.  Dieser Karte gilt auch – und man lasse sich den französischen Terminus auf der Zunge zergehen – für „Arbeitssuchende“ – welch schöne Bezeichnung für Menschen, die im deutschsprachigen Raum meist ganz anders betitelt werden. Vereinzelt mag es in diesem oder jenem Land vergleichbare Ansätze geben, aber eigentlich ist es eine Schande, dass man eine solche Entwicklung noch immer groß herausstreichen und als etwas Nachahmenswertes vorstellen muss.

Wenn wir schon ein vereintes Europa haben, dann sollten wir uns nicht scheuen, über unsere Grenzen zu blicken und Mittel und Wege zu finden, wie es möglich ist, ein Kunstangebot wie das soeben beschriebene auch in anderen Ländern wirksam werden zu lassen. Wenn dieser Weg einmal beschritten wird, dann gibt es kein Zurück mehr. Denn dann geschieht etwas, was ich zu Beginn meines Artikels bereits beschrieben habe. Die Ressource Kunst wird wachsen und wachsen, wird stärker und stärker werden und wird vielen Menschen zugute kommen, die jetzt keinerlei Möglichkeiten und Zugang dazu haben.

Für mich gibt es nur zwei Gründe, warum politische Entscheidungsträger bei einem  Kunstbudget einsparen wollen: Erstens, sie haben die komplexen Zusammenhänge, in denen sich künstlerischer Ausdruck bewegt, nicht einmal in den Ansätzen begriffen, oder zweitens, was noch schwerer wiegt, sie kürzen dann, wenn mündige Bürger nicht gewollt sind. Mehr Verständnis und mehr Diskussionen über Kunst und die Lebensentwürfe und –welten jener, die Kunst produzieren, führen automatisch zu mehr Mündigkeit und kritischer Reflexion. Wenn es jedoch Bestrebungen gibt, genau diese Mündigkeit nicht weiter zu entwickeln, dann verstehe ich die Reaktion des Kunst- und Kulturbudgetkürzens völlig. Denn dann kann es nur heißen:  „Weg damit, weg mit der Kunst, die das Denkvermögen fördert und aus unmündigem Wahlvolk mündige Bürger macht, die selbstbestimmt leben möchten und alles und jedes hinterfragen, was in politischen Gremien entschieden wird.“

Pin It on Pinterest