Offener Brief an meinen Sohn

Offener Brief an meinen Sohn

Wien, Juli 2015

Lieber Christopher,

es ist eine komische Zeit. Ich schwanke derzeit zwischen Resignation und unendlicher Wut. Du weißt, ich habe immer voller Innbrunst von meinem Haus Europa gesprochen. Mir waren die Würde des Einzelnen, die Menschenrechte und der demokratische Diskurs immer sehr wichtig. Ich stritt und debattierte, diskutierte und disputierte über Politik, Gesellschaft und die Menschlichkeit.

Die Mitmenschlichkeit, der Blick für die Underdogs und die Unterstützung der Schwächeren war allgegenwärtig. Ich wollte dir ein Vorbild sein, wenn es darum geht, die Menschen und deren individuelles Schicksal in den Vordergrund zu stellen. Ich weiß nicht, ob ich immer selbst nach der Maxime gehandelt habe. Ich weiß nicht, ob ich dir immer ein Vorbild in dieser Sache war. Ich habe stets mein Bestes gegeben. Und ich hoffe, du hast diese Haltung wahrgenommen und für dich durchdacht und vielleicht sogar als Richtschnur für das eigene Handeln in Betracht gezogen. Diesen Brief schreibe ich dir aus diesem Grund, denn ich habe den Eindruck, in der Zwischenzeit geht es nur noch um juristische Verträge und das Denken der kleinbürgerlichen Bürokraten. Den Schäubles und Gabriels dieser Erde, die ihre Prinzipien über das Menschliche stellen. Das Schicksal des Rentners, der weinend vor der geschlossenen Bank in Griechenland sitzt, der übrigens dein Großvater sein könnte, lässt diese Bürokraten kalt und sie erzählen dir und mir was von der Alternativlosigkeit. Dabei ist ihre größte Angst der Kontrollverlust und die Angst, sich eingestehen zu müssen, dass es ihnen ums Prinzip und nicht um die Menschen geht.

Die Fratze des Nationalismus, gegen die ich stets den Humanismus und den Internationalismus ins Felde führte, zeigt sich in seiner ganzen Hässlichkeit. Sie konnte nicht mit Toleranz und Menschlichkeit gebannt werden, mir kommt die Wut hoch und fühle ich mich im Zweifel hin- und hergetrieben wie eine steierische Klapotetz im Wind. Immer wieder geht es mir durch den Kopf, ob ich zu wenig aktiv war. Ob ich das Feld diesen menschenverachtenden Bürokraten überlassen habe. Vielleicht hielt ich die Demokratie und die Verheißungen des deutschen Grundgesetzes für immerwährend. Ich habe sie als Selbstverständlichkeit hingenommen. Die Angst treibt mich um, dass ich alles verlieren könnte und dass du in einem autoritären, faschistoiden Technokraten-Staat leben musst. Sollte dies passieren, dann verspreche ich dir, werde ich bis zum Tode dagegen kämpfen, denn dafür hab ich dich weder gezeugt noch großgezogen und bis heute begleitet. Du hast eine Zukunft in Freiheit und Menschlichkeit nicht nur verdient, sondern, wie es die großen Aufklärer bezeichneten, ist dies ein unveräußerliches Menschenrecht und dafür setze ich mich bis zu meinem Tode ein. Auch wenn es nicht immer bequem sein wird, ich kämpfe dagegen an, dass bin ich dir schuldig.

Vergiss nie die Bilder der Menschen in Not, vergiss nicht die Tränen von Flüchtlingen, die in den Tod abgeschoben werden und bei uns in Österreich in Zelten schlafen müssen. Vergiss nie die Not der zu kurz Gekommenen. Akzeptiere nie ein Gesetz, das die Menschlichkeit verletzt. Akzeptiere keine Sachzwänge und keine Alternativlosigkeiten. Bei allem deinem Handeln wünsche ich mir, dass Mitmenschlichkeit, Freiheit und Solidarität dir als Leitmotive dienen und dir Grundlagen deiner Überlegungen und Handlungen sind. Widersprich den nationalistischen Bestrebungen und widerstehe den emotionalen Aufrufen an die deutschen, griechischen, finnischen, französischen und wie auch immer gearteten Arbeiter und Steuerzahler, mit denen unmenschliches und unsolidarisches Verhalten gerechtfertigt werden soll. Widerstehe dem wohligen Gefühl der Masse, mach nicht mit bei Massenspektakeln, die die Ausgrenzung anderer zur Folge haben.

Ich hoffe, dass du nie eine Gewissensentscheidung treffen musst, wie sie deine Urgroßväter in der Nazizeit treffen mussten. Ich hoffe, du wirst nie zurückblicken und dir denken: Wieso hat mein Vater sich nicht gewehrt, warum hat er seinen Mund gehalten und nichts getan. Solltest du je das Gefühl haben, dass ich den Pfad der Menschlichkeit verlassen habe, dann konfrontiere mich damit und erinnere mich an diesen Brief im Juli 2015 und gehe mit mir hart ins Gericht und schone mich nicht, auch wenn ich vielleicht schon alt und gebrechlich bin. Solange ich bei Sinnen bin, mach mich verantwortlich für mein Tun oder Lassen. Mein Sohn das wünsche ich mir von dir.

Mit ganz viel Liebe im Herzen

Dein Vater

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