Aufklärung oder Blasphemie?

Aufklärung oder Blasphemie?

Aufklärung oder Blasphemie?

Von Michaela Preiner

„The Who and the What“ (Foto: Lupi Spuma / Schauspielhaus Graz)
6.
Juni 2018
Er ist einer der wichtigsten Dramatiker unserer Zeit. Er arbeitet in den USA, seine Werke haben aber aufgrund unserer sozialen Globalisierung Allgemeingültigkeit. Ja sie brennen den westlichen Gesellschaften förmlich unter den Nägeln.

A yad Akhtar wurde 1970 in New York geboren, seine familiären Wurzeln liegen jedoch in Pakistan. Mit „Geächtet“, das in Österreich im Burgtheater und im Schauspielhaus Graz gespielt wurde, erlangte er in seinem Heimatland den Pulitzer Preis und wurde hier mit dem Nestroy-Autorenpreis ausgezeichnet.

Nun präsentierte abermals das Schauspielhaus Graz sein Stück „The Who and the What“ in einem intimen Surrounding – im 3. Stock des Hauses Zwei. Das Publikum sitzt sich auf Rängen gegenüber, die Bühne dazwischen ist in zwei Segmente geteilt. (Bühne Frank Holldack, Kostüme Tanja Kramberger) Ein kleines Wohnzimmer und eine freie Fläche, die meist als „Außenraum“ bespielt wird. Stefan Suske, ehemaliges Ensemblemitglied in Graz wurde für die Rolle von Afzal vom Wiener Volkstheater zurückgeholt. Er verkörpert einen streng gläubigen, verwitweten Taxiunternehmer mit zwei erwachsenen Töchtern, dessen Lebensaufgabe „Geld verdienen und Geld verschenken“ ist. Dieser steht vor der Aufgabe, für seine ältere, Zarina, einen Ehemann zu finden, da Mahwish, die jüngere, gerne ihren Langzeitfreund heiraten möchte. Ganz der muslimischen Tradition verpflichtet, nach der die jüngeren erst heiraten dürfen, wenn die älteren Frauen schon unter der Haube sind, macht er sich auf die Suche im Internet und findet einen geeigneten Kandidaten: Eli. Akhtar stellt zuerst seine Personen vor und verdeutlicht rasch, dass Zarina mit herausragender Intelligenz gesegnet, den Koran hinterfragt und den Propheten Mohammed als Mensch zu begreifen versucht. Den Inhalt des Buches, das sie über ihn schreibt, hält sie wohlweislich vor ihrer Familie geheim. Anhand der Charaktere zeigt der Autor die unterschiedlichen Religionszugänge – nicht nur der Beteiligten auf. Die einzelnen Positionen, die pars pro toto für die muslimische Bevölkerung weltweit angesehen werden können, arbeitet Akhtar nicht nur intelligent, sondern packend und teilweise auch höchst amüsant heraus.
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„The Who and the What“ (Foto: Lupi Spuma / Schauspielhaus Graz)
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„The Who and the What“ (Foto: Lupi Spuma / Schauspielhaus Graz)

Zarina – herausragend gespielt von Henriette Blumenau – lässt weder Dogmen gelten, noch sich mit Interpretationen abspeisen, die dem Patriarchat in die Hände spielen – wie dem Verschleierungsgebot. Ihre Schwester Mahwish, Tamara Semzov, fügt sich in jede Korananweisung bis hin zur körperlichen Ausbeutung, die ihr Verlobter an ihr jahrelang sexuell begeht. Der trockene Kommentar Zarinas dazu: „Ich glaube, niemand hier sollte sich in Sachen Sex vom Propheten beraten lassen“, wird vom Publikum lachend quittiert. Eli, stimmmächtig von Nico Link gespielt, der tatsächlich Zarinas Ehemann wird, versucht als konvertierter Muslim, der als Imam einer muslimischen Gemeinde vorsteht, seiner Frau größtmögliche Freiheiten zu lassen. Er erkennt jedoch den sozialen Sprengstoff, den Zarina in ihrem Buch aufbereitet hat und meldet höchste Bedenken an. Die absolute Zurückweisung und Verachtung des Vaters, das Entsetzen der Schwester über die Blasphemie, die Zarina begangen hat, sind das eine. Eli hingegen schwankt zwischen Zustimmung und Bestärkung seiner Frau und Angst vor Repressionen, die schließlich die gesamte Familie tatsächlich erfahren muss. Der Geist der Aufklärung, den die junge Zarina in sich trägt und der eine Frage nach der anderen in Zusammenhang mit muslimischen Traditionen aufwirft, zerrüttet die Familie und lässt Vater und Schwester in ihren moralischen Grundfesten erbeben. Das Ensemble darf dabei eine permanente, emotionale Hochschaubahn befahren. Wut, Angst, Unverständnis, aber auch tief empfundene Liebe wechseln im Minutentakt. In Streitereien, kleineren und größeren, werden en passant auch Stationen von Mohammeds Leben beleuchtet und diskutiert. Dies ergibt eine Art Schnellsiedekurs in Sachen Koran und macht zugleich Lust, tiefer in die Materie einzutauchen. Jan Stephan Schmieding arbeitet in seiner Regie die einzelnen Charaktere psychologisch nachvollziehbar heraus und zeigt durch die häufige Tuchfühlung der Schwestern und ihrem Vater auch auf, wie schwer es für sie ist, aus tradierten ethisch-moralischen Überlieferungen und einem eng gestrickten Familiengeflecht auszubrechen.

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„The Who and the What“ (Foto: Lupi Spuma / Schauspielhaus Graz)

Die große Leistung des Autors besteht darin, aufzuzeigen, welche Auswirkungen eine patriarchalisch interpretierte Religionsausübung auf ein Familien- und letztlich auch Sozialgefüge hat. Dass er das nicht mit dem belehrenden Zeigefinger tut, macht das Stück unglaublich attraktiv.

Der Mann, der im Mittelpunkt steht, die Frau, die gebrochen werden muss, all das ist für den Vater in keiner Weise hinterfragenswert. Zugleich wird aber auch das Ringen der jüngeren Generation spürbar, sich gegen diese Tradition zu wehren und sie zumindest ansatzweise zu hinterfragen. Ein Stück mit jeder Menge Diskussionspotential, nicht nur unter muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern.

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Ungesühnte Taten verjähren nicht

Ungesühnte Taten verjähren nicht

Ungesühnte Taten verjähren nicht

Von Michaela Preiner

Roberto Morales, Wilfried Steiner und Christian Schacherreiter. (Foto: Günther Gröger)
08.
Februar 2018
D er Vater von Adrian ist schwerkrank und eröffnet ihm und seiner Schwiegertochter, dass er nicht mehr lange zu leben hat. Mit diesem Eingangsplot beginnt Wilfried Steiner seinen neuen Roman mit dem Titel „Der Trost der Rache“, der im Herbst vergangenen Jahres im Haymon-Verlag erschien.
Der Autor, vielen als künstlerischer Leiter des Posthofes in Linz bekannt, verwebt in seinem Text die Lebenslinien mehrerer Menschen, die sich unabhängig voneinander auf La Palma begegnen.
Nach dem Tod seines Vaters reist der verbeamtete Adrian mit seiner Frau, einer Psychologin, auf diese Insel, um sich seinen langgehegten Traum zu erfüllen. Der Hobbyastronom möchte dort das „Gran Telescopia Canarias“ besuchen, das als das größte Teleskop der Welt gilt. Doch auf der kanarischen Insel macht das Ehepaar eine folgenschwere Bekanntschaft mit einer höchst geheimnisvollen Frau. Sara, aus Chile gebürtig, lebt seit Jahrzehnten in Deutschland. Auch sie kommt auf die Insel nach einem Todesfall, allerdings hat sie ein gänzlich anderes Motiv als Adrian. Sie ist auf der Suche nach einem Mann, der in Chile ihre Familie zerstörte. Steiner verwendet für seine Erzählstränge jede Menge zeitgeschichtliches Hintergrundwissen. Dabei beleuchtet er den Putsch in Chile unter General Pinochet genauso wie die Auswirkung der Chicago-Boys auf dieses Land. Er macht aber auch auf Wilhelm Reich aufmerksam, jenen Psychoanalytiker, der bei Freud in Ungnade fiel und in Amerika während der McCarthy-Ära als Kommunist gefangen genommen wurde und nach wenigen Monaten Haft im Gefängnis verstarb. Vor allem aber geht der Autor der Frage nach, ob Selbstjustiz angesichts des Versagens des Gewaltmonopoles eines Staates legitim ist. Bis es aber so weit ist, führt er die Lesenden kurzfristig auf so manch falsche, zugleich auch vergnügliche Fährte.
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Bei der Buchvorstellung im Brucknerhaus in Linz im Jänner las Wilfried Steiner nicht nur aus seinem Roman. In einer sehr poetischen, gelungenen musikalischen Verschränkung wurden auch Lieder von Viktor Jara gesungen. Jenem vom chilenischen Volk verehrten Protestsänger, dessen Lieder bis heute unvergessen sind und der von der Militärjunta umgebracht wurde. Der in Linz lebende Musiker Roberto Morales lieh Jara seine Stimme und ermöglichte mit drei vorgetragenen Jara-Nummern dem Publikum eine ganz besondere, sinnliche Anteilnahme an dem vom Autor selbst gelesenen Text. Darin präsentiert sich der Ich-Erzähler Adrian als ein zögerlicher, bedachter Mann, der das Leben eher aus einer Zuhörer- und Zuseherposition aus verfolgt denn als Draufgänger. Im Laufe des Geschehens entwickelt aber gerade er sich zu einem Helden wider Willen. Am Kulminationspunkt schreitet er ganz unerwartet zu einer Tat, die ihm niemand – auch nicht er selbst – zugetraut hätte. Damit hinterfragt Steiner auch die unterbewussten Motivatoren eines Menschen, seine tief liegenden, charakterlichen Eigenschaften, denen er sich selbst gar nicht bewusst ist.

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Wilfried Steiner (Foto: Günther Gröger)

Obwohl Steiner ein Autor ist, der sich dem Realismus verpflichtet fühlt und obwohl in seinem Text jede Menge gut recherchierte, historische Fakten angeführt sind, zeichnet sich die Lektüre durch verschiedene Erlebnisschichten aus. Man findet bald Gefallen an der Selbstironie, die Adrian an den Tag legt.  Saras rätselhafte Familiengeschichte entwickelt einen Spannungsbogen, dem man gerne folgt. Der blutige Putsch in Chile und das jahrzehntelange Versagen der Justiz machen sprachlos und wütend und der unerwartete Handlungsdreh, kurz vor Schluss, versetzt die Leserinnen und Leser in eine Welt, in der Chaos und Gerechtigkeit nur einen Augenaufschlag entfernt zu sein scheinen.

„Der Trost der Rache“ ist ein Buch, das sich einer genauen Genre-Zuschreibung entzieht. Es ist sowohl ein unterhaltsamer Roman, aber auch ein spannender, politischer Krimi. Trotz aller Lese-Leichtigkeit, die es in sich trägt, bleibt letztlich die schwierige, ethische Frage nach einem selbst judizierten „Trost der Rache“ eine, die jeder und jede letztlich für sich selbst beantworten muss. Zu beziehen über Amazon oder Thalia.

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Bunte Luftballons und Weltuntergangsstimmung

Bunte Luftballons und Weltuntergangsstimmung

Bunte Luftballons und Weltuntergangsstimmung

Von Michaela Preiner

„Radetzkymarsch“ Daniel Jesch, Philipp Hauß, Andrea Wenzl (Foto: Marcella Ruiz Cruz/ Burgtheater
15.

Dezember 2017

Große, bunte Luftballons schweben über die Bühne des Burgtheaters und gleiten sanft in den Zuschauerraum. Dort werden sie vom Publikum, auf das sie sachte niedersinken, immer wieder angestupst, um die ihm  kurzzeitig verwehrte Sicht auf das theatrale Geschehen wieder zu ermöglichen.

Der Regisseur Johan Simons greift in Joseph Roths „Radetzkymarsch“ zu ungewöhnlichen Requisiten. Koen Tachelet schuf die Bühnenfassung des Romans, in dem er anhand dreier Generationen einer Familie den Untergang der k.u.k.-Monarchie beschreibt. Dabei kürzt Tachelet den Text rigoros, lässt Zeitsprünge zu, die von einem Satz auf den anderen Monate, ja Jahre hinter sich lassen und verdichtet das Geschehen auf dreieinhalb Stunden inklusive einer Pause.

In Simons Regie bleibt das große, am Premierenabend ohne Ausnahme hervorragend agierende Ensemble beinahe ständig auf der Bühne präsent. All jene, die gerade keine Monologe oder Dialoge sprechen, sitzen im Hintergrund auf niedrigen, langen Bänken und greifen in das Geschehen zum Teil chorisch ein. Und alle – bis auf den Bezirkshauptmann Trotta – schlüpfen an diesem Abend in unterschiedliche Rollen. An den Kostümen von Greta Goiris ist zu erkennen, dass der Lack der Monarchie schon lange abgebröckelt ist. Niemand trägt – ebenso mit Ausnahme des Bezirkshauptmannes Baron Franz von Trotta und Sipolje – eine vollständige Kleidung. Ein subtiler Hinweis auf sein unbedingtes Festhalten an der Monarchie und deren gesellschaftliche Bedingtheiten, deren Untergang er sich noch im Angesichts des Todes des Kaisers nicht im Geringsten vorstellen kann. Die prächtigen Uniformen, die Roth in seinem Roman genau beschreibt, von ihnen sind nur Rudimente in Form von Jacken zu sehen. Vielmehr darf man an diesem Abend eine große Variation an Unterwäschemodellen aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert kennenlernen.

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„Radetzkymarsch“ Andrea Wenzl, Marius Michael Huth, Philipp Foto: Marcella Ruiz Cruz/ Burgtheater

Die Szenenwechsel auf der sonst leeren Bühne (Kathrin Brack) geschehen fließend, immer wieder sind im Hintergrund Beckenklänge zu hören. Sanft und blechern erzeugen sie gemeinsam mit den ständig bewegten Luftballons eine ganz eigene Atmosphäre. Man wird Zeuge eines Geschehens, das längst vergangen ist und fühlt sich dennoch in einer Zeit, die einen aktuellen Schwebezustand vermittelt. Den gesellschaftlichen Aufstieg des Leutnants Carl Joseph von Trotta hat dieser seinem Großvater zu verdanken, der dem Kaiser bei der Schlacht von Solferino das Leben rettete. Sein Enkel (Philipp Hauß schlüpft auch kurzzeitig wie selbstverständlich in die Rolle seines Großvaters und Vaters) fühlt sich im Gegensatz zu seinem Vater, der sich in seiner hohen Beamtenposition als Stellvertreter des Kaisers versteht, in der ihm zugedachten Rolle beim Militär nie richtig wohl und kann seine Demission nur kurze Zeit genießen. Beim Ausbruch des 1. Weltkrieges wird er wieder eingezogen und fällt, während er für seine Kameraden überlebensnotwendiges Trinkwasser holt.

Es ist nicht schwer, den zahlreichen Personenwechseln zu folgen, wenngleich diese auch nur mit geringfügigen Kostümänderungen auskommen, denn Simons legt die Figuren psychologisch gut nachvollziehbar an. Dazu gehört auch eine intensive, körperbetonte Bühnensprache. Leutnant Trottas erste, große Liebe, die verheiratete Katharina, bleibt an ihm auch nach ihrem Tod, während er ihrem Mann kondoliert, im wahrsten Sinne des Wortes hängen. In einer anderen Szene fallen Rivalen übereinander her und bilden beinahe unentwirrbare Menschenknäuel. Auf diese Weise gelingt die Sichtbarmachung von starken Gefühlen, die, gerade in jener Zeit, in welcher der Radetzkymarsch spielt, von keiner Person jemals ausgesprochen werden durften. Gestorben wird spektakulär unspektakulär auf offener Bühne, meist durch kommentarloses Hinlegen. Dennoch erzeugen diese Bilder in höchstem Maße Empathie.

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„Radetzkymarsch“ (Fotos: Marcella Ruiz Cruz/Burgtheater)

Die bunten Ballons sind vielfach interpretierbar. An einer Stelle, als der junge Trotta über den Zerfall Österreich-Ungarns verzweifelt und mehrere Ballons hintereinander platzen lässt, stehen sie symbolhaft für die unterschiedlichen Völker, die sich von der Monarchie abwenden. An anderer Stelle kann ein großer, blauer Ballon als Metapher der Welt verstanden werden, die Kaiser Franz Joseph mit der Kriegserklärung in Turbulenzen bringt. Immer wieder ist es aber auch die reine Lust am Spiel mit ihnen, welche diese Inszenierung so unverwechselbar macht. Das „Schaut-her, das-ist-alles-nur-Spiel“ wird vom Publikum fühlbar zweigeteilt aufgenommen. Das mag etwas mit dem Thema zu tun haben, das weder von Roth spielerisch verarbeitet wurde, noch in die Geschichte als spielerisch einging.

Die einzelnen Szenen schwanken zwischen beinahe slapstickhaften Klamaukeinlagen und intensiv erfahrbaren Gefühlsmomenten. Wunderbar wie Merlin Sandmeyer als alter und junger Diener der Familie immer wieder mit einem großen Ballon zu kämpfen hat, oder von einer Gläubigerschar, halb liegend, vor den jungen Leutnant über die Bühne geschoben wird. Aber auch hoch emotionale Augenblicke prägen den Abend. Als der alte Kaiser (Johann Adam Oest sieht die „säuselnde Welt“ nur mehr aus seiner eigenen Introspektion) seine größte Sünde beklagt, viel zu alt geworden zu sein, oder ihm anzumerken ist, dass ihn sein Gedächtnis im Stich lässt, hat nicht nur der junge Trotta Mitleid mit dem alten Mann.

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„Radetzkymarsch“ (Foto: Marcella Ruiz Cruz/ Burgtheater)

Andrea Wenzl entzückt das Publikumin in drei höchst verführerischen Rollendurch und mit direktem, laszivem Männerkontakt in der zweiten Publikums-Reihe. Falk Rockstroh als ausdrucksstarker Vater des jungen Leutnants irrlichtert so lange pflichtbewusst durch sein Leben, bis er die Not seines Sohnes nicht mehr ignorieren kann und zum empfindsamen Mann mutiert. Steven Scharf überzeugt mit der Hellsichtigkeit des Grafen Chojnicki, der den Zerfall des Reiches lange voraussieht und abgeklärt über den Dingen steht – bis ihn die Kriegsgräuel in den Wahnsinn treiben.

„Radetzkymarsch“ in der Inszenierung von Johan Simons erfüllt drei Aufgaben. Zum einen gibt das Stück all jenen jungen Menschen Nachhilfe in Geschichte, die in die Endstimmung vor dem ersten Weltkrieg eintauchen möchten. Zum anderen aber bietet gerade die Rolle des jungen Trotta jede Menge an Projektionsfläche für einen Teil unserer heutigen Jugend, die sich in unserer Zeit nicht zuhause fühlt. Vielleicht gerade, weil sie weiß, dass wir wiederum an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter stehen. Nicht zuletzt ist der Abend ein Fest für das Ensemble, das in den vielfältigen Auftritten nach Herzenslust dem Handwerk des Schauspielens nachgehen darf. Und das mit Bravour.

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Das Böse zeigt sich im Schlaf – oder einer Aufstellung

Das Böse zeigt sich im Schlaf – oder einer Aufstellung

Mit „ihr“ im Rücken fühlt sich Marlene beschützt und wohl und posiert kurzerhand für das Publikum vor ihrer Großmutter, die sie in ihrer abgebildeten Pose zu imitieren versucht. Die Rede ist von jenem Bild, auf dem eine nackte Frau mit wehendem Haar, an einen Tisch gelehnt, etwas verklärt die Betrachtenden anblickt. Das Original dieses Bildes hing einst im Münchner „Führerbau“ und stammt von Adolf Ziegler, alias dem „Pinselführer“ oder dem „Meister des deutschen Schamhaares“ wie er im Volksmund verächtlich genannt wurde. Ziegler war, trotz seiner minderen, künstlerischen Begabung, kometenhaft zu Hitlers oberstem Kunstberater aufgestiegen, stand der Reichskammer der Bildenden Künste vor und war maßgeblich für die Beschlagnahmung tausender Bilder verantwortlich, die auszugsweise in der Wanderschau „Entartete Kunst“ gezeigt wurden.

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„Wahr und gut und schön“ im TAG (Foto:Johannes Gellner)

Man muss die Genese des Bildes nicht unbedingt wissen, sie ist aber ein direkter Hinweis auf die familiäre Herkunft von Marlene (Martina Zinner) und Dietrich (Lorenz Kabas) – einem Geschwisterpaar in den Fünfzigern, ausgestattet mit einer sprechenden Namenskombination. Gemeinsam mit ihrer Schwägerin Anne Claire (Juliette Eröd) und der Haushaltshilfe Veronika (fulminantest von Monika Klengel dargestellt) leben sie in einer Villa, die sie von ihren Eltern vererbt bekommen haben.

Eine Texassemblage und eine halbe Geschichte

Der Text, den sie von sich geben, ist eine Assemblage anhand von „Gehörtem Gelesenem und Gesehenem“, wie aus dem Programmblatt zu entnehmen ist. Ed. Hauswirth, für die Regie verantwortlich, fügte alles zu einer halb erzählten Geschichte zusammen. Halb erzählt, weil wesentliche Teile davon nur angedeutet, aber nicht ausformuliert wurden. Wie zum Beispiel die Geschichte von Marlenes und Dietrichs Bruder, über den nicht gesprochen wird und wenn, dann nur von seiner Frau. Diese bezichtigt Dietrich, ihren Schwager, mehrfach, ihr in diesem Zusammenhang etwas Schlimmes angetan zu haben. Und dann gibt es noch eine geheimnisvolle Lade, die Dietrich an einer Stelle sogar coram publico verschraubt, um nur ja ihren Inhalt nicht preiszugeben.

Das Schicksal meint es im Moment mit der Familie samt Anhang nicht wirklich gut. Der „Bub“ (Saladin Dellers), Sohn von Dietrich, ist Anführer einer identitären Gruppe und verbreitet seine Botschaften per YouTube im Netz. Seiner Familie missfällt dabei lediglich sein schlampiges Outfit, nicht aber seine nationalistische Propaganda, die er darin verbreitet. Dietrich, ein Polizeijurist, ist der einzige, der Geld einspielt, aber aufgrund einer ebenfalls nicht näher erläuterten Begebenheit suspendiert wird. Kollegen hätte er decken wollen, die ihm dann in den Rücken fielen ist alles, was man darüber erfährt.

Effekthascherische Schenkelklopfer

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„Wahr und gut und schön“ im TAG (Foto:Johannes Gellner)

Es ist nicht die humpelnde Geschichte, die an diesem Abend fesselt. Vielmehr lässt sie viele Fragen offen. Es ist auch nicht eine geschliffene, psychologisch nachvollziehbare Figurenführung, mit der Ed. Hauswirth beeindruckt. Im Gegenteil, einige Wendungen bleiben psychologisch gesehen unerklärlich. Vielmehr sind es zum Teil relativ seichte Gags – wie in jener Szene, in welcher alle mit vollem Mund, in den sie sich ein „Weizer Weidelamm“ stopfen – ihre philosophischen Ergüsse über die Biolandwirtschaft und die Verwerflichkeit von Dönerfleisch zum Besten geben. Zum Glück mit Übertitelung, die das Gesagte wenigstens so erklärbar macht. Auch scheint es vorauseilender Humorsgehorsam zu sein, der das Publikum gleich zu Beginn bei der Vorstellung der Frauen lachen lässt, die an sich noch nicht wirklich humorig ist.

Eingefleischte TIB-lerinnen und TIB-ler sind offenbar leicht zu belustigen. Vielmehr sind es herausragende, schauspielerische Leistungen wie jene von Monika Klengel, die köstlichst zwischen der Osttiroler Haushälterin und ihrer eigenen Persönlichkeit als Schauspielerin hin und her switcht, die dem Abend so manches Highlight aufsetzen. Wie auch Lorenz Kabas in der Rolle des Dietrich, bei dem erst in seiner Verzweiflung eine Führungsattitüde sichtbar wird, mit der er seine Schwägerin des Hauses verweist, um die frei gewordene Wohnung gewinnbringend zu vermieten. Trotz seiner Introvertiertheit kann er den tiefen Kummer nicht verbergen, der in ihm sitzt und an ihm nagt. Dass seine physische Erscheinung dies noch zusätzlich unterstützt, zeigt von einer gekonnten Besetzung.

Zwei packende, gelungene Szenen

Dramaturgisch jedoch sind es zwei Szenen, die den Kauf einer Theaterkarte lohnen. In einer versinken alle Beteiligten in tiefen Schlaf, in dem sie nacheinander zu reden beginnen. Dabei kommen alle jene Verdrängungen zum Vorschein, in denen deutlich wird, was die Protagonistinnen und Protagonisten wirklich zutiefst bewegt. Ist es bei Anne Claire der Mangel an körperlicher Nähe und Sex sowie Machtfantasien in der Rolle von Le Pen, outet sich Marlene als Mensch, der sich am liebsten mit Natodraht bekleiden würde, um unerwünschte Zuwanderer von sich abzuhalten. Dietrich dagegen fantasiert von seinem Sohn, zu dem er nie eine wirkliche Nähe aufbauen konnte. Nur die Haushälterin darf in wachem Zustand über Flüchtlinge herziehen und im Gegensatz dazu aber auch Krokodilstränen über verunglückte Schweine und Hühner vergießen. Sie ist die einzige, die sich kein Blatt vor den Mund nimmt und ihre menschenverachtenden, faschistoiden Ansichten freimütig von sich gibt und dabei von ihrer dienstgebenden Familie nicht gezügelt wird. „Sie ist halt eine von uns“, weiß Marlene dazu an einer Stelle zustimmend beizupflichten.

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„Wahr und gut und schön“ im TAG (Foto:Johannes Gellner)

Die Ausländerfeindlichkeit und der rechte Bodensatz, der sich derzeit in Europa ständig weiter verbreitet – diese Themen sind in der Regie von Hauswirth – im subkutanen Persönlichkeitsbereich der Figuren angesiedelt. So unterdrückt, dass es wilder Träume bedarf, um sie an die Oberfläche zu spülen. Schön wäre es, wenn unsere Gesellschaft noch in diesem Stadium stecken würde.

In einer zweiten Schlüsselszene geht das Ensemble der Frage nach, ob der Tod von Jörg Haider ein Unfall oder ein Selbstmord war. Extrem witzig, wie dabei eine Aufstellung „absolute Klarheit“ Licht ins Dunkel dieses Vorfalls bringt. Sie zeigt auch, wie sehr Praktiken wie diese, einst entwickelt von dem höchst faschistoid agierenden Familientherapeuten Bert Hellinger, mittlerweile inmitten der Gesellschaft angekommen sind. Die menschenverachtenden Aktionen des „Erfinders“ dieser heute bereits gängigen Praxis kennen jedoch nur die wenigsten Menschen.

Pro und kontra

Das Resümee für dieses Stück fällt höchst gespalten aus. Ed. Hauswirth verarbeitete mit dem Ensemble ein brandaktuelles Thema. Die Figurenentwicklung darin lässt jedoch zu wünschen übrig. Und auch die mittlerweile in so gut wie jedem Schauspiel bemühte Nabelschau des eigenen Wirkens am Theater, fehlt darin nicht. Vieles, was jedoch Lacher provoziert, ist extrem effekthascherisch angelegt. Genial hingegen die Schonungslosigkeit, mit welcher unserer Gesellschaft ein Spiegel vorgehalten wird, in den viele lieber nicht blicken wollen. Pro und kontra halten sich bei dieser Inszenierung unserer Meinung nach die Waage. Sich selbst eine Meinung bilden hilft in diesem Fall weiter.

evolution auf b

evolution auf b

Bei zeitgenössischer Musik winken viele sonst kulturaffine Menschen rasch ab. „Zu spröde“, „zu schwierig“, sind noch die harmlosesten Gegenargumente, die in diesem Zusammenhang gereicht werden.

Ein subjektiver Film über ein objektives Phänomen

Der Filmemacher Kurt Brazda hat es sich dennoch nicht nehmen lassen und einen – wie er sich ausdrückte – sehr subjektiven Film nicht nur über die österreichische E-Musik nach 1945 gedreht. Vielmehr beleuchtet er darin das Phänomen Karl Schiske näher.

Karl Schiske

Karl Schiske

Jenem Komponisten, der sich nach dem 2. Weltkrieg wie kein Zweiter als Lehrer vor allem um den Komponistennachwuchs in Wien kümmerte und dadurch heute seine Klasse als Keimzelle der zeitgenössischen Musik des 20. Jahrhunderts in Österreich verstanden werden kann. Sein großes Verdienst war es, seine Studierenden, ab seiner Berufung 1952 an die Kompositionsklasse der Wiener Musikakademie, mit der internationalen, zeitgenössischen Musik bekannt gemacht und sie sowohl auf die Symposien in Darmstadt als auch zu den neu gegründeten Jugendkulturwochen nach Innsbruck geschickt zu haben. Verkehrte in Darmstadt zu jener Zeit das „who is who“ der internationalen Komponistengarde wie John Cage oder auch Luigi Nono, so waren die jungen Nachwuchstalente in Innsbruck unter sich und konnten sich dort zwanglos austauschen.

Von der Keimzelle zu den Enkelkindern

Die Idee zu dem Film kam von Berta Schiske, der Witwe des Komponisten und ihrem Sohn Thomas, sowie von Viktor Schuller-Götzburg, dessen Mutter Karl Schiske als jungen Mann auf ihrem Bauernhof in Großsölk in der Steiermark unterstützte. Für den Film bat Brazda jene vor die Kamera, die bei Schiske studiert hatten oder ihn aus ihrer Anfangszeit her kannten wie Kurt Schwertsik, Gösta Neuwirth, Iván Eröd und viele andere. Ihre Statements lassen ihre Studienzeit nach dem Krieg wieder lebendig werden. Wobei klar wird, dass Schiske nicht nur ein Förderer der Jugend war, sondern ein unglaublicher Musiker, der es verstand, sich in die Kompositionen seiner Schüler so einzufühlen, dass er diese ad hoc improvisierend weiterentwickeln konnte.

Kurt Brazda und Kurt Schwertsik Kopie

Kurt Brazda und Kurt Schwertsik

Wunderbar humorig eine Szene, in welcher Friedrich Cerha, der mit Schiske bei einem Auslandsaufenthalt einmal ein Zimmer teilte, eine Anekdote zum Besten gab. In dieser geht es darum, dass Schiske und Cerha eine Konversation darüber begannen, welcher der historischen Komponisten nun wohl seinen Rasierapparat – hätte es ihn damals schon gegeben – vom Rasierer selbst oder vom Stecker her aufgerollt hätte. Beeindruckend die Worte von Gösta Neuwirth, der dachte, das „Blut müsse sogleich aus den Ecken jeder Wand kriechen“ als nach 1945 ehemalige Nazionalsozialisten in der Hochschule ungeniert wieder Posten bekleiden und Laudationes halten durften.

Doch nicht nur Zeitzeugen kommen zu Wort, wenn es darum geht, die Arbeit von Schiske näher zu beschreiben. Brazda holte sich auch Olga Neuwirth vor die Linse, die von ihren Widerständen im männerdominierten Kompositionsbetrieb erzählte.

Kurt Brazda Olga Neuwirth

Kurt Brazda und Olga Neuwirth

Bild und Musik harmonieren in jeder Sekunde

Dass der Film bei aller Information dennoch keine schwer zu verdauende Kost darstellt, ist Benjamin Epp zu verdanken. Kamera und Schnitt stammen von ihm und sind herausragend. Dabei arbeitete er nicht nur mit bewegten Bildern, sondern auch mit Einstellungen, die genauso gut für Fotografien verwendet werden könnten. Das Filmmaterial entstand zu einem großen Teil assoziativ. Die Berge um Großsölk, eine Fahrt aus einem Stollen, eine weitere gefilmt in einer Autowaschstraße, Frauen beim Zubereiten eines kalten Buffets – und immer wieder historische Fotos von Schiske und seinen Studierenden. All das verzahnt sich sensibel und vor allem hochmusikalisch mit Musik aus der Zeit.

Karl Schiske starb nur 53-jährig 1969. Evolution auf b – der Titel wurde nicht nur in Anlehnung auf Schiskes „fünfte Symphonie auf b“ gewählt, wobei damit keine Tonart bezeichnet wird. Er verweist auch auf seine Frau Berta, geborene Baumhackl, die jedes Jahr zu einem Konzert in ihr Haus einlädt, bei dem sich die Crème de la Crème der Musikschaffenden unserer Zeit trifft.

arbeitsphoto.kamera B.Epp

Benjamin Epp

Brazdas neue Arbeit ist nicht nur ein wunderbarer, informationsopulenter Film mit jeder Menge Liebe zum Detail und unglaublichem Gespür für das Ineinandergreifen von Bild und Musik. Es ist auch ein Film, in dem klar wird, dass Menschen eines Schlages wie Schiske, auch wenn ihr Wirken zeitlich sehr begrenzt ist, einen unglaublichen Einfluss auf die kommenden Generationen ausüben können. Ein Muss für alle, die Österreichs Musikgeschiche des 20. Jahrhunderts besser verstehen wollen.

Dunkelste Depressionen und federleichte, emotionale Höhenflüge

Dunkelste Depressionen und federleichte, emotionale Höhenflüge

Dunkelste Depressionen und federleichte, emotionale Höhenflüge kann man seit wenigen Tagen bei sich zuhause musikalisch nachvollziehen. Gebannt sind diese Gefühle auf der neuen Klassik-CD „Fantasiebilder“ der georgischen Pianistin Ketevan Sepashvili. Die in Wien lebende Musikerin, die wir vor einem knappen Jahr als Ausnahmekünstlerin bei einem Konzert in Wien entdeckten, veröffentlichte damit bereits ihre zweite Einspielung. In der mit „Faust“ betitelten, ersten CD widmete sie sich der Sonate in h-Moll von Franz Liszt und der Sonate in d-Moll von Sergej Rachmaninoff. Nun sind seine neun „Études- tableaux“ op. 39, schwierig zu interpretierende Werke, sowie Robert Schumanns Kreisleriana auf dem neuen Tonträger vereint.

Etüden, die keine Etüden sind

„Eigentlich dürfte man zu Rachmaninoffs Etüden gar nicht Etüden sagen. Denn Etüden sind für gewöhnlich Übungsstücke. Was er hier aber komponiert hat, sind komplette, fertige Werke“. Sepashvili hat ein Faible für den russischen Komponisten, dessen Klavierwerke in deutschsprachigen Konzertsälen bei Recitalen nicht oft zu hören sind. „Dabei sind sie voll von wunderbaren Melodien, Einfällen und Emotionen“, erklärte sie bei der CD-Präsentation im Bank Austria Salon des Alten Rathauses.

„In dieser Aufnahme stecken 17 Jahre Arbeit. Sie verändern sich immer noch, ich bin mir sicher, dass ich sie in einigen Jahren zum Teil wieder anders interpretieren werde. Aber sie sind für mich selbst nun so ausgereift, dass ich auch später noch eine Freude haben werde, wenn ich sie mir anhöre. Das ist meine Anforderung, die ich an mich stelle, wenn ich neue Werke aufnehme. Bevor sie für mich selbst nicht perfekt sind, spiele ich sie auch nicht ein.“

Entgegen der üblichen Usancen, bei Konzertabenden neben anderen ein Hauptstück mit hohem Schwierigkeitsgrad zu präsentieren, lässt sich die Musikerin auf so eine Unterforderung gar nicht ein. So waren sowohl die Rachmaninoff-Etüden als auch die 8-sätzige Kreisleriana bei einem Wiener Konzert vor wenigen Monaten hintereinander zu hören, gefolgt von einer ebenso fordernden Zugabe. Einer der Besucher meinte im Anschluss an das Konzert: „Ich gehe jetzt nach Hause und klappe meinen Klavierdeckel zu.“ Eine Reaktion, die typisch für Menschen ist, die sie das erste Mal live hören.

CD Fantasiebilder (c) Andrej Grilc

CD Fantasiebilder (c) Andrej Grilc

Erinnerungen an Clara

Dass zu Beginn einer musikalischen Auseinandersetzung die technische Erarbeitung steht, ist klar. Dass aber eine technische Perfektion auch in den schwierigsten Klavierpartituren alleine zu wenig ist, den Stücken erst Seele eingehaucht werden muss, damit die Klänge nicht nur in den Verstand, sondern auch in die Herzen der Hörerinnen und Hörer dringen können, schon weniger. Die acht Sätze der Kreisleriana spiegeln Schumanns schwierige, emotionale Bindung zu seiner Frau Clara wider. „Ich kann im vierten Satz wunderbar nachvollziehen, dass sich Schumann dabei an seine ersten Begegnungen mit der noch jugendlichen Clara zurückerinnert. Darin sind fröhliche Momente, aber zugleich auch ganz viel Trauer.“

Die Pianistin, die ihre künstlerische Ausbildung zuerst in der Paliashvili Musikschule für hochbegabte Kinder erhielt, wechselte danach auf das staatliche Konservatorium in Tiflis. Ihren Feinschliff holte sie sich schließlich durch ein Stipendium bei Hans-Jürg Strub in der Schweiz. „Ich dachte, ich hätte technisch schon alles gelernt, was möglich ist“, erklärte Sepashvili bei der CD-Präsentation, „aber erst bei Prof. Strub in der Schweiz habe ich erfahren, dass das Herz einen wichtigen Beitrag zu einer gelungenen Interpretation leisten muss.“

Es ist genau diese Paarung, der Zusammenschluss von Herz und einer überragenden Technik, besonders auch der linken Hand, die ihr Spiel so einzigartig macht. Der hohe Grad an Perfektion erlaubt ihr, kompositorische Stränge bei Rachmaninoff hörbar zu machen, die nur bei der Beherrschung aller technischen Raffinessen erkennbar werden. Ihr starker, innerer Bezug zu den einzelnen Sätzen lässt sie zugleich tief in die Gedankenwelt der Komponisten eintauchen. Dabei hat man das Gefühl, dass sie sich während ihres Spieles ganz nah an deren ursprünglichen Ideen befindet, die ausschlaggebend für die jeweiligen Kompositionen waren. Wenngleich diese auch nicht objektiv nachvollzogen werden können, erweckt die Künstlerin den Eindruck, ähnlich wie ein Medium, einen direkten Draht zu Rachmaninoff, oder in diesem Fall auch Schumann aufbauen zu können.

Es sind weder trockene, distanzierte Auslegungen, noch vor lauter Romantik triefende Wiedergaben, die in den „Fantasiebildern“ hörbare Gestalt annehmen. Vielmehr gelingt es ihr, tief empfundene, intensiv nachgespürte Gefühlswelten klanglich zu veranschaulichen.  Sepashvili hat in Österreich ihre Wahlheimat gefunden. Sie beherrscht große Teile der Klavierliteratur des Barock, der Klassik und Romantik, Bach, Mozart, Beethoven, Schubert, doch die musikalischen Wurzeln ihrer Heimat, die sie in ihrer Ausbildung enorm geprägt haben, hallen bis heute in ihrer Arbeit nach. Neben Sergej Rachmaninoff hat sie auch Sergei Prokofjew, Sofia Gubaidulina oder den bei uns unbekannten, georgischen Komponisten Revadz Ladidze in ihrem Repertoire.

Erst ein perfektes Team macht eine Glanzleistung möglich

Wenn man meint, dass sich eine Pianistin einfach in ein Studio setzt und danach eine CD eingespielt ist, irrt man zumindest in diesem Fall gewaltig. Um mit der Aufnahme jenen Qualitätsansprüchen gerecht zu werden, die Sepashvili vorschwebten, erhielt sie ein Sondersponsoring vom Klavierhaus Stingl in Wien. Dieses arbeitet eng mit der Firma Fazioli zusammen. Für die Aufnahme wurde extra ein  F278 ins Lisztzentrum nach Raiding im Burgenland transportiert. Dieser, von ihr so geliebte 2 Meter 78 lange Fazioli-Konzertflügel ist für sie mehr als nur ein Klavier. Sie weiß, wie sie ihren Anschlag darauf dosieren muss, oder besser gesagt, dass sie auf ihm so spielen kann, wie es ihr durch und durch entspricht. „Wie dieser Flügel reagiert, ist einfach einmalig. Ich liebe es, auf ihm zu spielen und bin sehr dankbar, dass mir das überhaupt ermöglicht wurde!“

Dazu kam noch die außergewöhnliche Aufnahmetechnik, die vom Klangspezialisten Sven Bönicke zur Verfügung gestellt wurde. Der junge Schweizer Unternehmer, der Aufnahmegeräte und Boxen im High-End-Bereich herstellt, brachte ein Equipment nach Raiding mit, das unbezahlbar und einzigartig ist. Seine Mikrofone stehen auf zierlichen Holzständern, die Kabel sind mit Baumwolle umwickelt, die Stromquelle ist eine Batterie, um alle Störfaktoren aus dem Stromnetz auszuschalten. Dadurch hat die CD klangliche Eigenschaften, die jenen, die direkt im Konzertsaal live erlebt werden können, um nichts nachstehen.

David Merö ist jener Tonmeister, dem die überaus kommunikative und weltoffene Virtuosin schon seit einigen Jahren blind vertraut. Er bespricht mit ihr für die Finalisierung jedes noch so kleine Detail, jede Idee, die hinter einer Phrase steht, um die letzte, klangliche Abstimmung nach ihren Wünschen durchführen zu können.

„Eine solch herausragende Aufnahme ist nur möglich, wenn alle Komponenten perfekt zusammenpassen.“ Ingmar Flashaar, Konzerttechniker und Sepashvilis Ehemann weiß, wovon er spricht. Wann immer er kann, begleitet er seine Frau auf ihre Konzerte und natürlich auch zu ihren Einspielungen, um davor und auch dazwischen, Hand an die jeweiligen Flügel anzulegen. Seine Spezialität, die Instrumente mit besonderen Energien aufzuladen, die eine dramatisch hörbare Klangverbesserung bewirken, hat sich in Musikerkreisen schon herumgesprochen.

Für Ketevan Sepashvili ist auf dieser CD ein Optimalzustand festgehalten. Erreicht durch die Sicherheit, nicht nur selbst musikalisch eine perfekte Arbeit abgeliefert zu haben, sondern auch von Menschen umgeben zu sein, die ihrerseits die höchst mögliche Qualitätsleistung auf ihrem Gebiet beisteuerten. Das Rätsel von überragenden, künstlerischen Leistungen wird nie bis in die letzten Ecken zu erkunden sein und wird auch auf dieser CD nicht gelüftet. Vielleicht ist es aber gerade das, was das Hören dieser Meisterwerke so derart spannend macht.

Die CD ist bei Gramola erschienen und kann unter folgenden Links direkt bestellt werden:
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