Das wilde Tier Eifersucht

Das wilde Tier Eifersucht

Nikolaus Büchel

Nikolaus Büchel Foto: ©Sopra Arts

Zuerst sind es die Männer, die leiden. Danach die Frauen. In der Produktion „Die Kreutzersonate“ nach Leo Tolstoi fließt viel Theaterblut. Das aber an besonders empfindlichen Stellen. Wenn Nikolaus Büchel als der Gattenmörder Posdnyschew das Messer entlang der gut sichtbaren Wölbung seiner weißen Unterhose ansetzt und sich diese nach einem langsamen Schnitt blutrot färbt, halten nicht nur die Männer im Saal kurz den Atem an.

Doch bevor in der Kreutzersonate – Tolstoi benannte das Stück nach Beethovens Sonate für Geige und Klavier – der vor Eifersucht um den Verstand gebrachte Ehemann gänzlich in seinem Blutrausch versinkt, darf er Tiraden um Tiraden wider die körperliche Liebe loswerden. Das Tier im Menschen, gegen das er ohne Unterlass wettert, bricht dennoch am Ende unkontrolliert aus ihm und er ersticht seine Frau. Die von Büchel nach einer Novelle des russischen Literaturgiganten adaptierte Bühnenfassung kann brisanter nicht sein. Nicht nur, weil das Stück als subtiler Beitrag zur aktuellen Debatte des freien Willens angesehen werden kann. Sondern auch, weil wöchentliche Zeitungsberichte von Tötungsdelikten, nach welchen Ehemänner aus Eifersucht ihre Frauen ermordeten, einen immer wieder fassungslos den Kopf über diese Taten schütteln lassen. Tolstoi beschrieb entlang der Geschichte des Ehepaares Posdnyschew psychologisch tiefgründig, welche Mechanismen Männer zu Raubtieren werden lassen und wie es möglich ist, dass sie ihre Frauen auf die brutalste Art und Weise ums Leben bringen. Obwohl man – hat man sich schlau gemacht – weiß wie das Stück ausgeht, gelingt es Büchel Minute für Minute mehr das Publikum in seinen Bann zu ziehen und auf das Unausweichliche hin zu spielen. Dass der Theatermann nicht nur ein guter Schauspieler, sondern ein ebenso guter Regisseur ist, der weiß, dass mit kleinsten Gesten und Requisiten große Wirkung zu erzielen ist, zeigt er mehrfach an diesem Abend. Das Spiel mit dem Kleid seiner Frau, das er sich im Verlauf des Stückes anzieht, aber vor allem der Einsatz der irdenen Teetassen, deren Bedeutungsebene sich von Beginn der Stückes bis zu dessen Ende komplett verkehrt, könnte eindringlicher nicht sein. Von der freundschaftlichen Geste ans Publikum, dem am Anfang warmer Tee serviert wird, bis hin zu den mit Blut gefüllten Tassen, die sich über den im Blutrausch rasenden Ehemann ergießen, sind sie Symbol für den Zustand der Ehe, über die der Mörder eingangs in unverbindlichem Plauderton Auskunft gibt.

Posdnyschew, der seine eigene Tat verflucht und offenkundig dabei ist, seinen Verstand zu verlieren, schiebt sein Verhalten einzig der menschlichen Triebhaftigkeit zu. Der Geschlechtstrieb, so erklärt er den Zuschauerinnen,der Männer und Frauen zu Ehepaaren werden lässt, obwohl sie sich überhaupt nichts zu sagen haben, wird von ihm als Auslöser seiner eigenen verfluchten Geschichte angesehen. Als unausweichliche Macht, der er nichts entgegenzusetzen hat. Als Dämon, der jegliche Reflexionsfähigkeit außer Kraft setzt und letztendlich das unmenschliche Handeln bestimmt, in welchem das Leben der eigenen Ehefrau ausgelöscht wird. Als Tier – sozusagen als ein „es“ dass abgekoppelt vom Willen agiert, diesen beherrscht und auslöscht. Die immer wiederkehrenden Summlaute, die Büchel von sich gibt, einzelne Schrittabfolgen, die noch nachträglich eine Gefängniszelle markieren, die der Mörder 11 Monate lang bewohnte, die Verringerung der Erzähllautstärke ausgerechnet an jenen Stellen, in denen Posdnyschew seine wildeste Raserei wiedergibt, all das sind meisterliche Stilmittel, die den psychischen Zustand der Figur trefflichst als krank beschreiben. Die ermordete Ehefrau – als Menetekel oder Erinnerungszerrbild von Jürgen Messensee in einem Großformat interpretiert – wird als Mensch charakterisiert, dessen größter Fehler es im Leben wohl war, in ihrem Klavierbegleiter eine verwandte Seele gefunden zu haben. Auch noch nach ihrem Tod gibt ihr Ehemann unumwunden zu, niemals in ihr Inneres geblickt zu haben, sie kein einziges Mal verstanden und auch die gemeinsamen Kinder nicht als Freude, sondern als immense Belastung empfunden zu haben. Seine Eheanalyse – zumal von ihm immer generalisiert dargeboten – kann als harter Tobak für Jungverliebte gelten und mag für diese als überzogen erscheinen. Aber dennoch wissen all jene, die schon auf einige Lebensjahrzehnte zurückblicken können, dass tatsächlich bei einem Großteil der Ehepaare und solchen, die es einmal waren, das Nichtverstehen des anderen an der Tagesordnung steht. Trotz aller Schuldzuweisung an die unsägliche Triebhaftigkeit bleibt es dem Mörder jedoch nicht erspart, seine Tat zu bereuen und an ihr zu leiden, vielleicht sogar zugrunde zu gehen. Der taktweise Einsatz der Musik – live von Antonia Rankersberger auf der Geige dargeboten und von Paul Gulda, wenngleich auch nur vom Band begleitet, lässt erahnen, dass die beiden Eheleute in zwei verschiedenen Welten beheimatet waren. In zwei Parallelwelten möchte man sagen, die einzig im Akt der körperlichen Vereinigung Berührungspunkte fanden. Nikolaus Büchel versteht es auch, dem Publikum genau an jener Stelle Lacher zu entlocken, die als die schrecklichste der Novelle gelten kann. Dann nämlich, als Posdnyschew nach seiner Tat von seiner Schwägerin ans Sterbebett seiner Frau gerufen wird. „Gehört sich das so?“ frägt er sich in einem Zustand, in welchem ein Teil seines Bewusstseins schon dabei ist auszublenden, was er gerade getan hat. Die absurde Frage nach der Etikette post einer Bluttat ermöglicht den Zuseherinnen die Angespanntheit ihrer Gefühle in einem Lachen loszuwerden und Platz und Raum in ihrem Aufnahmevermögen zu schaffen, um das Ende der Geschichte zu erfahren. Einer Geschichte, die für Tausende Frauen brutale Wirklichkeit war, ist und sein wird. Einer Geschichte, in der Nikolaus Büchel all jenen Tätern eine Stimme verleiht, die da waren sind und sein werden. Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht.

Das Gastspiel des Austro-Liechtensteiners im Schauspielhaus Wien zählte neben „Bridge.Eine Komödie“ von Gustav Ernst zu den beiden „Openern der Saison“, bevor das Haus in der Porzellangasse ab Oktober mit Eigenproduktionen in die Vollen greift.

Nietzsche on stage

Nietzsche on stage

20120704 184942Unter dem Titel „to-rsO“, den es erst einmal  gedanklich zusammenzusetzen gilt, um zu erfahren, dass es sich dabei um das Bruchstückhafte eines Torsos handelt, performte die Tanzgruppe „feinsinn“ 3 Abende in der Expedithalle der ehemaligen Ankerbrotfabrik.

Dem – aufgrund der tropischen Temperaturen – schweißtreibenden Abend lag die Entdeckung einiger Kompositionen von Friedrich Nietzsche zugrunde, die nur einer eingeweihten Nietzsche- Gemeinde bekannt sein dürften. Sie bildeten den Ausgangspunkt und den Hebel, sich den Gedanken des Philosophen tänzerisch zu nähern. Und ganz abwegig ist dies tatsächlich nicht, behandelte er doch in mehreren Stellen seines Werkes den Tanz und hob ihn als wichtiges dionysisches Lebenselement hervor.

Die Tänzerin und Choreografin Elke Pichler und der Musiker Sasha Nantschev eigneten sich Nietzsches Musik nicht nur an, um sie tänzerisch mit einigen seiner philosophischen Ideen zu verknüpfen, sondern griffen auch tief in die Kompositionen ein um sie zu erweitern und neu zu interpretieren. Zur Seite standen ihnen dabei Christo Popov am Klavier, Michael Flatz an den Drums und Robert Siegel am Bass. So entstand aus den großteils romantisch-elegischen Notenquellen ein Soundtrack, der sich auf Rockig-Poppiges bis hin zu abstrakten, in Endlosschleifen gemixten Soundspuren ausdehnte, die direkt vor Ort mit den Stimmen der ProtagonistInnen erzeugt wurden. Ganz zu Beginn durfte man in eine glucksende und blubbernde Geräuschkulisse eintauchen, die Nantschev auf seiner E-verstärkten Gitarre erzeugte, dabei gleichzeitig aufnahm und mehrere Spuren vor Ort übereinanderlegte.

Als Bühnenbild dienten – neben dem Industriedenkmal selbst, das einen bezwingenden, spröden Charme verbreitet – 5 schmale, schwarze, hoch aufragende Quader, an deren Rückseite leuchtende Neonröhren installiert waren. Bald wurde klar, dass diese nicht nur ein ästhetisches Moment darstellten, sondern vielmehr symbolisch für eine Entwicklung standen, die Nietzsche in seiner Kritik an der Moral anprangerte. Nicht als moralische Fehlentwicklungen in der Menschheitsgeschichte waren sie in diesem Kontext zu lesen, sondern bildeten vielmehr den Gegenpol zu einem Menschenbild, das in der Inszenierung überdeutlich von seiner animalischen Abstammung her geprägt und determiniert ist. Immer und immer wieder verwandelten sich die TänzerInnen Elke Pichler, Julia Mach und Filip Szatarski zu am Boden kriechenden Mehrzellern, gesteuert einzig von naturhaftbedingten Prozessen. Immer und immer wieder imitierten sie tierische Bewegungsmuster, die nicht vergessen ließen, welche Abstammung dem Menschengeschlecht zugrunde liegt. In Momenten allerdings, in welchen sich die Musik als herausragendes Element in das Geschehen einmischte, wurde alles Tierhafte abgeschüttelt und die menschlichen Sinneswahrnehmungen mit ihrer Reaktion auf Musik zelebriert. Dies gipfelte in der gesanglichen Interpretation der „Beschwörung“, eines von Puschkin verfassten Gedichtes, welches Nietzsche vertont hatte. Die darin ausgesprochene Klage und der Wunsch, die geliebte, verstorbene Frau bei sich behalten zu können, wurde so zart und berührend von den Bühnenagierenden interpretiert, dass es ein Leichtes war, Nietzsches Musikverbundenheit nachzuvollziehen und seiner absoluten Bewunderung dieser Kunstgattung zuzustimmen. Das Einbinden der Musiker in das tänzerische Geschehen selbst schien weniger von einem tiefsinnigen Grundgedanken gekennzeichnet gewesen zu sein als vielmehr mit einem ironischen Augenzwinkern behaftet. Zumindest nahm das Publikum dies so auf. Entkleidet bis auf ihre schwarzen Unterhosen, durften sie in allerlei Posen ihre Instrumente bedienen – ob als Kleiderständer missbraucht oder vom Klavierstockerl durch die TänzerInnen einfach abgehoben und in waagrechte, schwebende Position gebracht. Nichts konnte sie erschüttern, sie blieben völlig unbeeindruckt ihrem Musizieren treu ergeben, verbunden mit ihren Instrumenten, wie Mütter das mit ihren Babys durch ihre Nabelschnur sind. Der kontemplative Moment, im heutigen Fachjargon als „Flow“ betitelt, den MusikerInnen während des Spielens häufig erleben, wurde wohl auf diese Weise versucht zu veranschaulichen.

Was als unschuldige, zaghafte, ja fast zögerliche Choreografie zu leisen Tropfgeräuschen begann, steigerte sich im Laufe des Abends zu einer lebensbejahenden, ja beinahe orgiastischen Körperarbeit, an deren Ende die absolute Erschöpfung stand. Passend dazu verfärbten sich die weißen Shirts und Hosen der ProtagonistInnen und wiesen bald großflächige Schmutzflächen auf, die aus dem Kontakt mit Grafitpulver stammten, das an gewissen Stellen am Boden aufgestreut worden war. Der unschuldig geborene Mensch, in dem sich auf Dauer das Animalische nicht verstecken lässt, der Mensch, der von seinen Trieben durch und durch beherrscht wird, aber diese immerhin lustvoll auszuleben versteht – dieses Bild wurde schlüssig von Beginn der Aufführung bis zu deren Ende durchgezogen. Und dennoch gelang es den Kreativen zum Schluss einen völlig unerwarteten Kontrapunkt einzuziehen, der nicht nur versöhnlich wirkte, sondern als Hoffnung zu lesen ist. Dieser verweist nämlich darauf, dass es doch große Unterschiede zwischen Tier und Mensch gibt. Ein Lachen, das nach und nach nicht nur die TänzerInnen, sondern auch die Musiker erfasste, verdeutlichte, dass der menschliche Intellekt im Laufe der Jahrtausende seiner Evolution nicht nur soziale Fehlentwicklungen produzierte. „Lernt über euch selber lachen, wie man lachen muss“ war Nietzsches Aufforderung an die Menschen und ein deutlicher Hinweis, dass das Lachen eine Lern- und eine Reflexionsfähigkeit voraussetzt, die nur den Menschen, nicht aber den Tieren innewohnt.

Zuvor wurde jedoch noch in kurios-überzeichneter Weise Nietzsches Religionskritik in ein einprägsames Bild gegossen. Dazu durfte einer der Musiker mit Eimer und Klobesen bewaffnet das Publikum während des weihevollen Abschreitens der Tribüne segnen. Ihm auf den Fersen folgend, trug einer seiner Kollegen den obligaten Klingelbeutel am langen Stab, um von der Publikumsgemeinde seinen Obolus einzuholen. Dass die zuvor an Erschöpfung Verstorbenen, die sich auf einen Leichenberg zusammengefunden hatten, als Untote unerwartete Auferstehung feierten, erweiterte den vorgezeigten Gedankengang hin in eine weitere fröhliche Absurdität.

So sehr Pichler und Nantschev auch den Torsogedanken als Leitmotiv ihrer Arbeit betonen – sie brachten dennoch ein Ganzes auf die Bühne, das keineswegs den Makel des Bruchstückhaften vermittelte. Mach, Pichler und Szatarski agierten mit bewundernswerter Kondition trotz egalitärer Kostüme und ebensolcher Rollen als individuelle Subjekte. Obwohl es im Wesen des Menschen verankert ist, als Kollektiv in dieser Welt zu agieren, versucht dennoch ein jeder seine eigene Subjektivität so individuell wie möglich zu leben. Sollte diese Aussage auch bewusst nicht intendiert gewesen sein, nimmt man sie dennoch gerne gedankenleicht mit nach Hause.

Die Poesie des Destruktiven – eine subversive Kraft

Die Poesie des Destruktiven – eine subversive Kraft

Photo Julio Calvo

La casa de la fuerza – Haus der Gewalt (Photo: Julio Calvo)

Angélica Liddell, spanische Autorin, Performerin, Schauspielerin mit Erfahrung im Kofferpacken für internationale Theaterfestivals, gastierte 3 Abende lang anlässlich der Wiener Festwochen im Tanzquartier. Mit im Gepäck hatte sie 7 Frauen. Darunter eine Ärztin für fachgerechtes Blutabnehmen auf der Bühne, das aus 6 Männern bestehende Orchester Solís (Mariachis) sowie den großartigen Pau de Nut, der nicht nur seinem Cello schöne Töne zu entlocken vermag, sondern sich darauf auch in verschiedenen Stimmlagen bis hin zum Countertenor selbst begleitet.

Musik spielt eine große Rolle im „Haus der Gewalt“ oder „La casa de la fuerza“ wie das Stück im Original heißt, ja sie ist nicht nur Hintergrundrauschen, sondern integraler, visualisierter Bestandteil. Nicht nur dort, wo sie von der Mariachi-Band oder Pau de Nut live performt wird, sondern auch dort, wo Liddell mit ihren beiden Kolleginnen sich zur Musikkonserve bis knapp vor dem Zusammenbruch in einem Laufmarathon verausgaben. Alle musikalischen Nummern handeln von gebrochenen Herzen, von Gewalt und ihrer Auswirkung und es ist erstaunlich, wie viel davon im mexikanisch-spanischen Liedschatz vorhanden ist. In den traditionellen Mariachi-Nummern aber auch in aktuellen Popsongs rechtfertigen Männer ihre Gewaltstrategien und klagen Frauen über ihr zerstörtes Leben und ihre emotionale Abhängigkeit, die sie nicht überwinden können. Darüber hinaus wird den Bach-Interpretationen von Glen Gould großer Raum gewidmet. Immer wieder bieten sie den akustischen Background zu einem grausamen Geschehen, das eigentlich weit ab von jeglicher Kunst angesiedelt ist. Und so, als wollte die Regisseurin Liddell den krassen Unterschied zwischen Kunst und dem Leben außerhalb jeglicher schöngeistiger Beschäftigung noch unterstreichen, lässt sie die Agierenden auf der Bühne dazu auch gerne die pianistischen Handbewegungen imitieren und Luft-Klavier spielen. Diese Gesten ziehen sich wie ein roter Faden durch das gesamte Stück und veranschaulichen zwei antipodische Haltungen. Das „richtige“ Leben hat mit Kunst nichts zu tun, aber ohne Kunst lässt sich das „richtige“ Leben nicht ertragen.

Der Abend besteht aus 3 Teilen, die sich mit Pausen über insgesamt 5 Stunden erstrecken. Für einige im Publikum ist dies definitiv zu lang denn nach der zweiten Pause lichteten sich die Reihen merklich. Wer jedoch ausharrte und sich einließ auf das Liddell-Spiel, das da heißt „Leid empathisch verstehen kann nur der, der selbst leidet, und sei es durch 5stündige Nötigung auf dem einem Theaterstuhl“, wer sich also auf dieses Abenteuer einließ, wurde bis zum Ende nicht nur mit einer wahren einprägsamen Bilderflut belohnt, sondern auch mit einem Stück, das in seiner Tiefe und Vielfalt so stark ist, dass es eine auf den ersten Blick nicht nennbare Summe an Erkenntnismöglichkeiten bietet.

Liddell setzt sich in ihrer Arbeit, die in Wien ihre deutsche Uraufführung erlebte, wobei dies durch Übertitel geschah und ein hohes Maß an Publikumskonzentration erforderte, mit ihrer eigenen Liebesgeschichte auseinander, die 2008 scheiterte. Konsequenterweise hat sie dies auf ihrer Homepage gleich im Intro vermerkt. Unter der Überschrift „Hijo de puta“ zu Deutsch „Arschloch“ ist das Foto eines menschlichen Herzens zu sehen und die Konnotation zu einem Mann, der ihr Herz gebrochen hat, damit unausweichlich gelegt. Ganz zu Beginn der Aufführung lässt sie ein kleines Vorschulmädchen auftreten und erklären, dass man für seelische Verletzungen ausschließlich selbst verantwortlich sei. Nach diesem kurzen, aber einprägsamen Statement darf es in einem rosafarbenen Tretroller-Flugzeug über die Bühne fahren, wobei Liddell durch dieses Bild die Geschichte nicht nur an den Beginn ihres eigenen Lebens setzt. Vielmehr legt sie eine Spur, die sich im Lauf des Abends nur als teilweise richtig herausstellen wird. Ihre Geschichte, und das wird rasch deutlich, steht exemplarisch für die Geschichte unzähliger Frauen die von ihren Männern psychisch oder physisch misshandelt werden. Die seelischen Verletzungen, die dadurch entstehen, fügen sie sich beileibe nicht selbst zu. Was bei vielen bleibt, ist der Verlust des Selbstvertrauens und der damit einhergehende Rückzug aus der Gesellschaft aber auch der Griff zu Suchtmitteln jeder Art. Liddells Frauen mutieren allesamt zu depressiven und liebesunfähigen Trinkerinnen und Kettenraucherinnen. Die Autorin, die auch als Regisseurin und als Schauspielerin agiert, intoniert in einer Szene von den 6 Mariachis begleitet, ein Lied, das von einer liebeskranken Tequila-Trinkerin erzählt. Und sie tut es in einer Weise, die unter die Haut geht. Ihr Lamento ist angesiedelt zwischen einer explosiven Anklage und dem beständigen Bemühen, sich die restlichen schmerzhaften Erinnerungsfetzen mit Alkohol aus dem Gehirn zu blasen. Das Bier, das sie sich während dieser Performance nicht nur in die Kehle, sondern auch reichlich über ihr eigenes Kleid verschüttet, fließt an diesem Abend noch in Strömen. Und auch zeitgedehnte Momente, wie jene, in denen Liddell mit ihren beiden Mitstreiterinnen ohne handlungstreibende Aktion an einem Küchentisch sitzt und raucht und trinkt, gibt es in der Inszenierung mehrfach. Wobei diese Dehnungen an die Grenzen der Machbarkeit im Theater gehen, was die Publikumsflucht deutlich macht. Und dennoch haben diese Längen ihre Berechtigung. Dies wird im mittleren Bühnenteil spürbar, in welchem die 3 Schauspielerinnen in einer Sisyphusarbeit dazu verdammt werden, schwere, dreisitzige Sofas auf der Bühne in Position zu bringen. Die anschließende Darbietung fordert Publikumssitzfleisch da in ihr – wie aus der Beschreibung eines Lehrbuches der Psychologie – die einzelnen Phasen einer schweren Depression durchdekliniert werden. Hier macht die Länge eines klar: eine Depression ist kein Sonntagsspaziergang und auch nichts, was von einem Publikum erfasst werden kann, welches damit vielleicht in einem Nebengeschehen im Theater konfrontiert wird. Die spanische Regisseurin setzt dieses Geschehen als Handlungsloop auf die Bühne, der schier nicht mehr enden will und schafft so die Transformation des eigenen Gefühles ins Publikum selbst. Gegen dieses hilft auch die schweißtreibende Körperarbeit mit Hanteln nichts, die Liddell sich selbst über Monate hindurch verordnet hatte. Auch ein Ortswechsel – die Flucht nach Venedig – bringt keine Verbesserung des Leidens. Der Wechsel vom inneren in den äußeren Schmerz funktioniert nicht. Das multimediale Tagebuch, dass Liddell dabei führte, verweist auf die Gräuel einer erneuten Eskalation des Gaza-Konfliktes und springt dabei aus dem eigenen Liebesleid über auf ein weltpolitisches Drama, das Abertausende Menschen seit Jahrzehnten erleiden. Und dennoch ist die Künstlerin zu diesem Zeitpunkt so von ihrem Schicksal gefangen, dass ihr all das, was um sie herum vorgeht „am Arsch vorbeigeht“. Ob der Palästinenserkonflikt, Obama oder auch das Geschehen am Theater. In diesem Moment bekennt sich ihr Text zum blanken Existenzialismus, dessen Menschenentscheidungen noch dazu als völlig nichtig gegenüber der allgewaltigen Natur aufgezeigt werden. Nichts vom Menschen bleibt, nichts ist wichtig und dennoch ist das Leiden unausweichlich.

Liddells Text ist gerade in der ersten Phase des Abends nicht nur kunstvoll, sondern auch höchst ausbalanciert. Kein Wort davon ist überflüssiger Ballast, vielmehr ist jedes auf die literarische Goldwaage gelegt. Das zeigt sich auch in jener Szene, in welcher die Protagonistinnen Kohlensäcke in die Bühnenmitte schleppen und dort zu einem schwarzen, verkohlten rechteckigen Flecken aufschütten, auf dem sie anschließend in blütenweißen Kleidern Platz nehmen. Die Deklination des Wortes „leben“ bleibt reine Deklination, denn letztendlich zerbricht eine nach der anderen beim Zurückschaufeln des staubigen Brennmateriales und zurück bleibt nichts als Leere, Hoffnungslosigkeit und Tod. Tschechows resignierende Schwestern fliegen dabei aus der Vergangenheit direkt auf die Bühne des Tanzquartiers, wo sie sich nicht nach Moskau, sehr wohl aber nach Mexiko sehnen. Und wo sie krampfhaft aber vergebens versuchen, sich den Sinn des Lebens in der Arbeit einzureden. Drastischer als in diesem Bild wurde wohl kaum jemals das Joch der Arbeit dargestellt, unter welchem die Menschen nicht ihre Erfüllung, wohl aber ihr eigenes Ende finden. Selbstbetrug bis zum Umfallen, ohne Aussicht auf eine Veränderung der Erkenntnis. Hier wirkt Liddells Poesie des Destruktiven nachhaltig, wenngleich und das mag vielleicht wie ein Widerspruch klingen, positiv. Denn das Nachdenken über das Joch der Arbeit ist nicht nur dann angesagt, wenn es darum geht, eigenen Schmerz zuzuschütten.

Gerade an dem Punkt, an dem man meint, dass die Künstlerin sich mit dieser Arbeit eine selbstverordnete Therapie gegönnt hat, kippt das Geschehen gänzlich und lenkt den Blick auf jene grauenhaften Geschehnisse, die in Mexiko angesichts der Drogenbandengewalt auf der Tagesordnung stehen. 3 Frauen, die nicht wie Schauspielerinnen, sondern wie Augenzeugen wirken, erzählen Geschichten von Gewaltexzessen und Ermordungen junger Mädchen und sogar Schwangerer und handeln dabei ihren Schmerz, ihre Wut und ihre Angst vor einer mit einfachen Friedhofskreuzen bestückten Szenerie ab. Dass auf dreien von ihnen magentafarbene leichte Kleider hängen, erschließt sich als Hinweis auf die Frauenbewegung, welche diese Farbe als Ausdruck von Frauenliebe und Unabhängigkeit wählte. Und tatsächlich geht Liddell soweit, von weiblicher Seite aus der Gewalt der Männer auf ihren Grund zu gehen und diesen radikal verändern zu wollen. Ihr Vorschlag, dass die Frauen mit ihren Söhnen Inzucht betreiben sollten und so Männer gebären, welche die sanftesten sein sollten, die man sich nur vorstellen könne, ist nur im ersten Moment grotesk. Dass es ihr dabei nicht um die tatsächliche Umsetzung dieser radikalen Idee geht, ist klar. Das das Denken jedoch dort beginnen muss, wo das Leben selbst beginnt, stößt viele neue Türen auf, hinter denen sich neue Denkmodelle verbergen könnten welche zu einer Veränderung der derzeitigen Situation herbeiführen könnten.

Dieser Konjunktiv der möglichen Veränderung bleibt auch in der Bildumsetzung bis zum Schluss aufrecht. Dabei lässt Liddell einen sanften Barden Liebesklänge verströmen – bis er von Juan Carlos Heredia abgelöst wird, der muskelbepackt auf der Bühne Marmorkugeln stemmt, ein Auto umwirft und mit Bierfässern Gewichte stemmt. Die romantische Vorstellung einer gelungenen weiblich-männlichen Revolution, die in Harmonie und Gleichheit mündet, wird weggefegt durch den Auftritt eines einzigen „Strongman“. Und es wird klar: Auch in naher Zukunft wird es von Männern getötete Frauen in Ciudad Juárez und Chihuahua geben. Auch in weiter Zukunft werden Herzen zu Millionen gebrochen werden und Frauen dadurch verstummen. Aber Kunst wie diese, manifestiert als Bühnenstück das durch die Lande zieht, bleibt dennoch nicht unbeantwortet. Liddell, die in einem Interview erklärte, sie wolle doch nichts sehnlicher als geliebt werden die Liebe aber als nicht lebbar darstellt, Liddell, die hin- und hergebeutelt ist von der Idee, dass Arbeit das einzige ist, was dem Leben einen Sinn gibt, Liddell die nicht mit Fäkal- und Kraftausdrücken in ihrem Stück spart und die Geduld des Publikums aufs Äußerste strapaziert, ausgerechnet sie sät mit dieser Inszenierung Frieden und den winzigen Samen Hoffnung, der Menschen dazu bewegen kann die Grenze zwischen Männern und Frauen niederzureißen und auf ihr Blumen der Versöhnung zu pflanzen.

Eine herausragende, wenngleich auch herausragend fordernde Inszenierung, die zu recht als Schlusspunkt an das Ende der Wiener Festwochen gesetzt wurde.

Liebe macht blind – und dumm

Liebe macht blind – und dumm

Amour fou – der Titel verkündet bereits, worum es im Stück des Wiener Maskentheaterensembles Scaramouche geht: Um eine verrückte Liebe.

amour fou - Kosmostheater Wien -

Scaramouche mit Amour fou im Kosmostheater Wien (Foto: (c)Patricia Weisskirchner)

Abseits der großen Produktionen, welche anlässlich der Wiener Festwochen stattfinden, bietet das KosmosTheater noch bis zum 16.6. eine intime Inszenierung eines 4-Personenstückes an. Darin wird dem Publikum – wie einst in den Komödien von Molière – allzu Menschliches präsentiert, das durch das Gefühl von Liebe bei drei älteren Herren ausgelöst wird.

Die Namen- jedoch keineswegs Charakterlosen, die sich schon nach wenigen Minuten als Pedant, Chaot und Schöngeist zu erkennen geben, werden wie durch die Zauberkraft eines verhexten Teppiches von ihrer neuen Bürokollegin in den Bann gezogen und machen ihr, nach anfänglichen Eingewöhnungsschwierigkeiten, allerhand Avancen. Nur mit größter Mühe und Standhaftigkeit kann sie sich der Drollereien der liebestoll Gewordenen erwehren. Bis sie jedoch zum Schluss das Büro übernimmt, hat sie allerhand Verhaltensweisen ihrer Kollegen zu ertragen, die ihr unerklärlich erscheinen. Schon bald sind sich die ehemaligen, wohlgesonnenen Kollegen spinnefeind und versuchen sich gegenseitig nicht nur bei ihren Annäherungsversuchen zu behindern, sondern scheuen auch nicht davor zurück, handgreiflich zu werden.

Dass das Geschehen ohne gesprochenen Text auskommt, verdankt die Inszenierung den treffenden Masken von Martin Schwanda, der auch für die Idee und stimmige Regie verantwortlich zeichnet. Die drei Bürokollegen, die gemeinsam am Ende jedes Arbeitstages ihre noch zu verbleibenden Tage vor ihrer Pensionierung aus dem Kalender streichen, erleben eine Hochschaubahn der Gefühle. Das Zerplatzen ihrer Liebesträume verkraften sie schließlich gemeinsam und verlassen das Geschehen zwar verändert – aber ohne erkennbare Bitterkeit.

Das Publikum wird Zeuge, wie die drei bis dahin ruhigen Herren aufgrund ihrer hormonellen Liebesstöße einen zweiten Frühling erleben in welchem zwar ihr Herz weit, der Verstand aber ganz klein wird. Und so darf man über die Verwandlung des Gesundheitsschlapfenträgers in einen Nike-Konsumenten lachen, sich auf die Schenkel klopfen, wenn der Western-Freak davon träumt, mit seiner jungen Frau über die Prairie zu voltigieren und der akkurate Schreibmaschinenschreiber beim Anblick seiner Kollegin außer Rand und Band gerät und in erotische Träume eintaucht.

Die nonverbale Kommunikation wird durch die Musik von Klaus Karlbauer unterstützt, der alle Register zieht, um das seelische Geschehen der Beteiligten adäquat akustisch zu verdeutlichen. Ein wenig Commedia dell´arte, ein wenig Pantomime, gewürzt mit einer Prise Slapstick – das ist das Erfolgsrezept dieser Inszenierung. Die unter den Masken Agierenden – Florentina Kubizek, Anne Wiederhold, Peter Bocek sowie Martin Schwanda zeichnen für einen Theaterabend verantwortlich, in dem aufmerksames Zusehen gefordert ist. Eine wohltuende Theaterentschleunigung, die ohne aufsehenerregende technische Hilfsmittel auskommt – und dennoch bestens funktioniert.

Dass die junge Frau am Ende aufgrund ihres fachlichen Wissens und der Beherrschung eines Computers gleich alle drei Kollegen ersetzt, kann als wohltuender Fingerzeig gewertet werden. Als Hinweis, dass Frauen in ihrem Arbeitsumfeld nicht als Auslöserinnen hormoneller Entgleisungen angesehen, sondern als Menschen geschätzt werden möchten, die ihren Beruf aufgrund ihrer Kenntnisse und Fähigkeiten ausüben.

Amour fou – der Titel verkündet bereits, worum es im Stück des Wiener Maskentheaterensembles Scaramouche geht: Um eine verrückte Liebe.

amour fou - Kosmostheater Wien -

Scaramouche mit Amour fou im Kosmostheater Wien (Foto: (c)Patricia Weisskirchner)

Abseits der großen Produktionen, welche anlässlich der Wiener Festwochen stattfinden, bietet das KosmosTheater noch bis zum 16.6. eine intime Inszenierung eines 4-Personenstückes an. Darin wird dem Publikum – wie einst in den Komödien von Molière – allzu Menschliches präsentiert, das durch das Gefühl von Liebe bei drei älteren Herren ausgelöst wird.

Die Namen- jedoch keineswegs Charakterlosen, die sich schon nach wenigen Minuten als Pedant, Chaot und Schöngeist zu erkennen geben, werden wie durch die Zauberkraft eines verhexten Teppiches von ihrer neuen Bürokollegin in den Bann gezogen und machen ihr, nach anfänglichen Eingewöhnungsschwierigkeiten, allerhand Avancen. Nur mit größter Mühe und Standhaftigkeit kann sie sich der Drollereien der liebestoll Gewordenen erwehren. Bis sie jedoch zum Schluss das Büro übernimmt, hat sie allerhand Verhaltensweisen ihrer Kollegen zu ertragen, die ihr unerklärlich erscheinen. Schon bald sind sich die ehemaligen, wohlgesonnenen Kollegen spinnefeind und versuchen sich gegenseitig nicht nur bei ihren Annäherungsversuchen zu behindern, sondern scheuen auch nicht davor zurück, handgreiflich zu werden.

Dass das Geschehen ohne gesprochenen Text auskommt, verdankt die Inszenierung den treffenden Masken von Martin Schwanda, der auch für die Idee und stimmige Regie verantwortlich zeichnet. Die drei Bürokollegen, die gemeinsam am Ende jedes Arbeitstages ihre noch zu verbleibenden Tage vor ihrer Pensionierung aus dem Kalender streichen, erleben eine Hochschaubahn der Gefühle. Das Zerplatzen ihrer Liebesträume verkraften sie schließlich gemeinsam und verlassen das Geschehen zwar verändert – aber ohne erkennbare Bitterkeit.

Das Publikum wird Zeuge, wie die drei bis dahin ruhigen Herren aufgrund ihrer hormonellen Liebesstöße einen zweiten Frühling erleben in welchem zwar ihr Herz weit, der Verstand aber ganz klein wird. Und so darf man über die Verwandlung des Gesundheitsschlapfenträgers in einen Nike-Konsumenten lachen, sich auf die Schenkel klopfen, wenn der Western-Freak davon träumt, mit seiner jungen Frau über die Prairie zu voltigieren und der akkurate Schreibmaschinenschreiber beim Anblick seiner Kollegin außer Rand und Band gerät und in erotische Träume eintaucht.

Die nonverbale Kommunikation wird durch die Musik von Klaus Karlbauer unterstützt, der alle Register zieht, um das seelische Geschehen der Beteiligten adäquat akustisch zu verdeutlichen. Ein wenig Commedia dell´arte, ein wenig Pantomime, gewürzt mit einer Prise Slapstick – das ist das Erfolgsrezept dieser Inszenierung. Die unter den Masken Agierenden – Florentina Kubizek, Anne Wiederhold, Peter Bocek sowie Martin Schwanda zeichnen für einen Theaterabend verantwortlich, in dem aufmerksames Zusehen gefordert ist. Eine wohltuende Theaterentschleunigung, die ohne aufsehenerregende technische Hilfsmittel auskommt – und dennoch bestens funktioniert.

Dass die junge Frau am Ende aufgrund ihres fachlichen Wissens und der Beherrschung eines Computers gleich alle drei Kollegen ersetzt, kann als wohltuender Fingerzeig gewertet werden. Als Hinweis, dass Frauen in ihrem Arbeitsumfeld nicht als Auslöserinnen hormoneller Entgleisungen angesehen, sondern als Menschen geschätzt werden möchten, die ihren Beruf aufgrund ihrer Kenntnisse und Fähigkeiten ausüben.

Theater-Rätsel

Theater-Rätsel

Wird sie oder wird sie nicht? Hat er oder hat er nicht? Weiß er von ihr oder weiß er es nicht?

text 07 Makulatur Hoeld Rudle

Makulatur bei den Wiener Festwochen (Photo: Alexi Pelekanos / Schauspielhaus)

Das Publikum, das sich das neue Stück von Paulus Hochgatterer angesehen hat, verlässt das Theater mit Fragen über Fragen, auf die es keine Antworten bekommt. Uraufgeführt als Auftragswerk des Schauspielhauses in Wien, anlässlich der Wiener Festwochen,  präsentiert der Autor in „Makulatur“ ein  Beziehungsgeflecht von Menschen, welches sich im Laufe des Fortgangs der Geschichte als besonders raffiniert erweist. Hochgatterer, in der Kunst des Krimiaufbaues geübt, versteht es, dass sich seine ProtagonistInnen Szene für Szene in kleinen Schritten gefährlich annähern und dadurch die Spannung im Publikum stetig ansteigt. Als Grundgerüst dient ihm das Leiden eines junges Mädchens, das seine Mutter, eine Gymnasialprofessorin für Deutsch, und seinen Vater, einen Architekten der sich auf „Keller“ spezialisiert hat, verlässt. Sie leidet unter dem Gefühl, dass ihre Gliedmaßen nicht Teil ihrer selbst sind und hat den innigen Wunsch, sich ihr Bein amputieren zu lassen. Es wäre möglich, dass Hochgatterer hier auf seinen eigenen Erfahrungsschatz als Kinderpsychiater verweist und auf  ein Vorbild für diese Depersonalisationsstörung zurückgriff, welches er zu behandeln hatte. Zumindest verweist er in der Handlung auch auf ein frühkindliches, traumatisches Erlebnis – nämlich dem „Verschwinden“ der Mutter während der ersten alleinigen Geh- und Raumerobersungsversuche ihrer Tochter Kerstin, die sich verlassen vorkam und dieses Gefühl von da an permanent mit sich tragen muss.

Eine junge Polizistin und ihr Kollege, eine einarmige Trafikantin und ein Mann, der sich als Chirurg ausgibt,  sie alle ergänzen den Reigen von Menschen die – der Titel deutet es an – ihr Fremdbild einer Makulatur verdanken. Hochgatterer verwendet den Begriff ganz im Sinne von Papierbögen, die beim Tapezieren unter der Tapete angebracht werden, um schadhafte Stellen abzudecken und auszugleichen. Und von schadhaften Seelenzuständen wimmelt es in seinem Bühnenstück nur so. Eigentlich müsste man sich nach dieser Aufführung vor jeder Polizistin und jedem Polizisten fürchten, denn so locker, wie die Waffe bei den handelnden Bühnenpersonen sitzt, wäre es leicht möglich, einmal ein bedauernswertes Opfer einer solchen zu werden. Auch kann man froh sein, keine Kinder mehr im Gymnasium zu haben – ganz nach dem Motto „ich lebe glücklich, meine Kinder haben schon Matura“ – denn Hochgatterers Professorin zeigt beim Korrigieren von Maturaarbeiten zuhause unverhohlen, wie sehr sie einzelne ihrer Schülerinnen und Schüler verachtet und dies auch ganz ohne Skrupel in die Benotung einfließen lässt. Dagegen mutet das Duckmäusertum ihres Mannes und die Alkoholsucht der verkrüppelten Trafikantin harmlos an, sind sie zumindest nicht aus jenem Holz geschnitzt, mit dem man andere Menschen seelenruhig verprügeln kann.

Hauptprotagonist ist jedoch neben dem Mädchen  ein Mann namens Jablonski, der seinen Lebensunterhalt mit Operationen verdient, die von zugelassenen Ärzten normalerweise nicht durchgeführt werden. Er amputiert und implantiert, ganz wie seine „Patienten“ es wünschen und lässt sich dafür schließlich von Kerstins Vater auch noch einen versteckten Raum unter dem Schwedenplatz einrichten, um dort ungestört seiner Tätigkeit nachgehen zu können. Bei seiner Arbeit kommt ihm seine Menschenverachtung zugute, die er bei ausgiebigen Beobachtungen im U-Bahnbereich kräftig nährt. Dabei konstatiert er, dass sich höchstens einmal am Tag in den Menschenmassen jemand findet, der intelligent ist und so verspürt er auch nicht im Geringsten die Absicht, die absonderlichen Wünsche seiner Kundschaft auch nur andeutungsweise zu hinterfragen. Die raffinierte Handlungsführung, bei der man zur Halbzeit vermeint, den Schluss bereits voraussagen zu können, endet jedoch völlig abrupt, so als wäre man Zeuge eines irreparablen Filmrisses, sodass man sich genötigt sieht, sich das Ende der Geschichte selbst auszudenken.

Oder gibt es – wie im Leben außerhalb der Theatermauern – unter Umständen gar kein „Ende“ an welchem sich alle Knoten lösen und das Gute über das Böse siegt – oder umgekehrt?

Es ist diese Verstörung, die neben all den psychischen Deformationen, welche die handelnden Personen aufweisen, das Stück als tiefschwarz charakterisieren. Da nützt auch der winzig kleine Hoffnungsschimmer nicht viel, aus dem herauszulesen ist, dass sich Kerstin und Jablonski gefühlsmäßig näher kommen und die drohende Amputation vielleicht doch noch verhindert werden kann.

Hochgatterers Stück ist kein Krimi und kein Psychodrama  – es steht wie auf einer fragilen Wippe genau dazwischen. Ein Schritt in die eine oder andere Richtung würde es endgültig determinieren, was der Autor aber bewusst vermeidet. Die aalglatte Inszenierung von Barbara-David Brüesch hilft nicht nur, einen gehörigen Abstand zu den Personen aufrechtzuerhalten, sondern steigert mit ihren abrupten Szenenwechseln, begleitet durch unerwartete akustische Sensationen, merkbar den Thrill. Unterstützt wird sie dabei vom Bühnenbild von Damian Hitz, der die einzelnen Orte nur durch unterschiedliche Ebenen einer Aluminiumkonstruktion definiert und auf mehreren Videoschirmen das geschäftige Treiben in den U-Bahngängen unterhalb des Schwedenplatzes projiziert.

Steffen Höld (Jablonski), Katja Jung (Trafikantin), Barbara Horvath (Professorin), Max Mayer (Architekt), Christoph Rothenbuchner (Polzist), Franziska Hackl (Polizistin) und Nikola Rudle (Tochter Kerstin) verkörpern ohne Ausnahme ihre Rollen lebendig und absolut nachvollziehbar.

Ob der offene Schluss als Makel oder psychologisch-philosophische Hausaufgabe angesehen wird, bleibt wohl jeder Besucherin und jedem Besucher selbst überlassen.

Ein Naturlehrpfad der Kunstgeschichte

Ein Naturlehrpfad der Kunstgeschichte

Hans Schabus.Vertikale Anstrengung © Belvedere, Wien, Foto: Roland Unger, © VBK Wien 2012

Hans Schabus.Vertikale Anstrengung © Belvedere, Wien, Foto: Roland Unger, © VBK Wien 2012

Kunst und Natur sind zwei Geschwister, die meist naserümpfend nichts von einander wissen wollen. In der neuen Ausstellung im 21er Haus mit dem Titel „Hans Schabus. Vertikale Anstrengung“ ist jedoch eine elegante Verbindung zu bestaunen.

Betritt man den großen, lichtdurchfluteten Raum im Erdgeschoß ist man sofort mit einigen riesengroßen Baumstämmen konfrontiert die sich wie gigantische Mikado Stäbe rund um eine freie Fläche in der Mitte des Saales gruppiert haben. Die Stämme liegen auf dem Boden oder sind winkelig übereinander gelegt und einige wenige von ihnen miteinander sogar verschraubt. Auf den ersten Blick sieht die Anordnung zufällig aus, erst bei näherer Besichtigung wird klar: Es muss eine übergeordnete, wenngleich nicht sofort durchschaubare Logik geben, welche den Grund für diesen Aufbau bildet. Bevor man jedoch mittels der zur Verfügung stehenden schriftlichen Informationen darüber aufgeklärt wird bestimmt erst einmal ein weiterer starker optischer Eindruck das sinnliche Erleben. Es sind die großen, uralten Bäume im Park außerhalb des 21er Hauses die vom Frühling bis in den Herbst hinein eine umwerfende Kulisse bieten. Der Park mit seinen teilweise über 100 Jahre alten Bäumen spielt bei der Installation von Hans Schabus eine große Rolle und hält sich tatsächlich keineswegs nobel im Hintergrund. Ob man will oder nicht, mit aller Macht dringt er in seiner Erscheinung bis in das Museumsinnere und stößt dort auf die leblos am Boden angeordneten Baumstämme. Sind es Menetekel seiner eigenen Zukunft oder – ganz im Gegenteil – haben die teilweise bearbeiteten Stämme hier an dieser Stelle erst ihre absolute Bestimmung gefunden? Tatsächlich ist diese Frage nicht einfach zu beantworten. Denn marschiert man entlang der Baumstämme im Saal fallen einem unweigerlich verschiedene Bearbeitungen derselben auf.

Zugegeben: Wenn man kunsthistorische Vorbildung hat, so hat man dabei so manches „Aha“-Erlebnis, das fehlt, hat man die Kunstgeschichte und hier insbesondere jene der Bildhauerei des 20. Jahrhunderts nicht abrufbereit im Kopf. Aber als KennerIn der Arbeiten von Beuys freut man sich über jenen Stamm, der mit einigen scharfen, runden Durchbohrungen versehen ist. Hier handelt es sich um einen direkten Bezug zur Arbeit von Josef Beuys mit dem Titel „Das Ende des XX Jahrhunderts“. Ein anderer Stamm wiederum, weist den Einschnitt von geometrischen Formen auf die Brancusis „Endlose Säule“ zitieren. Auch auf Marcel Duchamps Arbeit „With hidden noise“ wird verklausuliert hingewiesen, indem Schabus eine Bearbeitung im Inneren eines Stammes durch das Wiederzusammensetzen der einzelnen Segmente und deren Verschraubungen versteckt. Aber auch der österreichische Altmeister Fritz Wotruba erfährt ein augenzwinkerndes Zitat durch die Anordnung unterschiedlich großer Kuben, die aus dem Holz herausgeschnitzt wurden. Und diese Aufzählung ist nicht vollständig. Betrachtet man die Masse an Holz, die sich vor Ort befindet, so erscheinen diese einzelnen Interventionen geringfügig, wie kurze, handschriftliche Vermerke, die man sich neben Texten macht um später damit weiterarbeiten zu können. Es bedarf aber eines zweiten und dritten Hinsehens, um diese Eingriffe von Hans Schabus wahrzunehmen und einer weiteren Wissensebene, um sie auch deuten zu können. Ähnlich wie bei einem Waldlehrpfad, an welchem man allerlei Informatives aus Flora und Fauna erklärt bekommt, ist es möglich, sich anhand dieser „second hand Kunst“ einen Teil der Entwicklung der Skulptur des 20. Jahrhunderts vor Augen zu führen, allerdings muss man sich um die dazugehörigen Erklärungen bemühen. Wissenszuwachs also nur für jene, die schon vorgebildet sind oder aber für die, die sich einer Führung anschließen.

Es sind aber nicht nur die unterschiedlichen kunsthistorischen Verweise, die Schabus hier markiert, welche diese Ausstellung spannend machen. Vielmehr ist es auch die Tatsache, dass der aus Kärnten gebürtige Künstler, dessen größter internationaler Auftritt bisher die Gestaltung des Österreichischen Pavillons auf der Biennale 2005 war, das Kunstwerk in direkten Bezug zum 21er Haus setzt. Einerseits geschieht dies – wie bereits erwähnt – aufgrund der materiellen Verschränkung des Materiales Baum mit der das Museum direkt umgebenden Außenwelt. Diese Verschränkung stellt zugleich jede Menge Fragen, die sich mit der Funktion und der Wirkungsweise der Institution Museum an sich auseinandersetzen. So wirkt, schon allein aufgrund der Tatsache, dass die Stämme von Schabus als gefällte Natur präsentiert werden, der Gegensatz zwischen Leben und Tod mehr als unterschwellig. Dies auch deswegen, da die Stämme so präpariert sind, dass keinerlei Ungeziefer in die heiligen musealen Hallen eingeschleppt werden kann, was dadurch merkbar wird, dass die Installation nicht einmal mehr einen kleinen Hauch von Holzgeruch verbreitet. Was dem Material an Lebendigkeit fehlt, kann durch die Beweglichkeit und Aktionen der Ausstellungsbesucher jedoch wett gemacht werden. Hans Schabus hält sein Publikum nicht davon ab, auf den Baumstammkunstwerken zu sitzen oder zu gehen und sich den Raum je nach Lust und Laune zu eigen zu machen. Er zeigt damit wunderschön auf, dass sinnliches Erleben im Museum auch dort nicht ausgeschlossen ist, wo es sich um die Begegnung mit einer organisch toten Materie handelt – sieht man einmal vom weiteren, zukünftigen Verfall ab, der diese Materie als noch nicht endgültig tot definieren könnte.

Ein weiterer Verweis liegt in der Tatsache, dass – begibt man sich in den ersten Stock des Museums und betrachtet das Werk von Hans Schabus von oben – die Anordnung der Stämme sich als ein zu entzifferndes Wort nämlich „MUSEUM“ erweist. Es bedarf hier allerdings für viele tatsächlich dieses expliziten Hinweises und es gibt Menschen, die, trotz dieser Erklärung, ihre liebe Not haben, dieses Wort tatsächlich zu „erlesen“. Die Kunstgeschichte weist zu diesem Phänomen eine ganze Reihe von Parallelen auf, wie zum Beispiel die Schwierigkeit des Publikums in der ersten Phase des Impressionismus aber auch des Kubismus, den Inhalt der Bilder zu erfassen. Mit diesem Wort definiert Schabus sein Kunstwerk jedoch als eines für das Museum gemachtes, ja mehr noch, als eines, welches sogar den Anspruch erhebt, in seiner Gestalt selbst all jene Funktionen und daraus resultierenden Handlungen aufzuweisen, welche ein Museum kennzeichnen als da wären: Sammeln und Ausstellen von interessanten und wichtigem Material oder Materialien. Bereitstellung dieser Informationen für ein öffentliches Publikum, das daraus wiederum im besten Falle mit einem Erkenntniszuwachs ausgestattet wird.

Nicht zuletzt ergänzt der Künstler diese Installation durch eine weitere, wesentlich kleinere Skulptur, die sich gleich rechts neben dem Eingang zum Ausstellungsraum befindet und leicht übersehen werden kann. Dafür hat er jene Hinweisschilder und Straßennamentafeln verwendet, die jahrzehntelang einige hundert Meter vor dem Museum auf selbiges hinwiesen und in der Skulptur selbst auf den Kopf gestellt. Als „Kern“ dieser kleinen Arbeit fungiert jener Katalog, der für die erste Ausstellung im 21er Haus produziert worden war und den Titel „Kunst von 1900 bis heute“ trug. Das Vorwort dazu verfassten Werner Hofmann sowie der Künstler Fritz Wotruba, den Schabus, wie schon aufgezeigt, in weiterer Folge dieser Arbeit noch einmal zitiert. Diese kleine Skulptur ist ein mehr als beredter Hinweis, ist mehr als eine ergänzende Fußnote zur Arbeit „Vertikale Anstrengung“. Vielmehr kann sie selbst als Einleitung oder als Vorwort zu diesem Werk interpretiert werden, indem sie noch einmal klar macht, dass Schabus diese Arbeit ganz explizit für dieses Museum gemacht hat. Darüber hinaus bündelt er in ihr noch einmal die Idee, sowie die Aufgabe, die diesem Haus zugrunde liegt – nämlich die Vermittlung von moderner und zeitgenössischer Kunst – und definiert abermals deren Standort in der Arsenalstraße, gegenüber dem ehemaligen Südbahnhof.

Mit diesem Werk präzisiert Schabus einmal mehr seinen Status als Künstler, der seine Arbeiten raumbezogen individuell ausrichtet und imstande ist, diese mit vielerlei Bedeutungsebenen aufzuladen, ohne mit einem schmerzenden Holzhammer agieren zu müssen, der vielleicht viele Menschen abschrecken würde. So minimal seine Arbeit auf den ersten Blick erscheint, so erschließt sich seine Komplexität jenen, die sich darauf einlassen. Egal ob dies gespeist aus dem eigenen Wissensfundus geschieht oder mithilfe der angebotenen Vermittlungsprogramme.

21er Haus. Hans Schabus. Vertikale Anstrengung. 1.Juni – 9. September 2012

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