Das eigene Leben ist kein Schauspiel

Julia bei den Wiener Festwochen

Julia von Christiane Jatahy wird bei den Wiener Festwochen gezeigt. (Photo: Marcello Lipiani)

Der kleine Theaterraum im brut im Künstlerhaus beherbergt nur drei Sitzreihen. Nur wenige Meter Breite, dafür aber den kompletten Raum in der Länge haben die SchauspielerInnen, um sich darauf zu bewegen, denn zwei überdimensional große Leinwände versperren den Blick und auch den Raum in die Bühnentiefe. Wie im Kino wird zu Beginn ein Film auf diese projiziert. Gezeigt wird ein kleines Mädchen, ganz in Weiß gekleidet, das – offenbar von seinem Vater – mit einer Handkamera gefilmt wird. In einem erkennbar weitläufigen Park läuft es immer wieder mit einem großen Ball auf die Kamera zu und ganz nebenbei wird das Publikum auch Zeuge einer unfreiwilligen Szene. Ein um wenige Jahre älterer Junge pflegt den Rasen. Die Stimme des filmenden Vaters bedeutet ihm unwirsch, er möge aus dem Bild gehen und mit diesem Hinweis sind die Rollen determiniert. Auf der einen Seite die wohlbehütete und in einer reichen Familie aufwachsende Julia, auf der anderen der Sohn eines Angestellten, der selbst als Diener in die Familie hineinwächst.

Nach wenigen Augenblicken ändert die Szenerie und nun ist die kleine Julia nicht mehr als ausgelassenes und lebhaftes Kind zu sehen, sondern als kleines, nachdenkliches Mädchen. In schwarzem Kleid, mit schwarzen Strümpfen sitzt es nachdenklich wieder im Freien und sagt direkt in die Kamera, dass sie nicht mehr gefilmt werden möchte. Mit diesem kurzen, aber einprägsamen Intro hat die Regisseurin Christiane Jatahy die Bipolarität ihrer Hauptfigur Julia klar umrissen. Aber auch den schwelenden Sozialkonflikt, den schon August Strindberg in seinem Drama „Fräulein Julia“ beschrieb. Wie dort lässt auch Jatahy Julia und Jelson (Jean bei Strindberg) ein Liebespaar werden, wie dort bricht der Konflikt zwischen Arm und Reich sofort nach der Liebesnacht richtig auf und wie dort gelingt es den beiden Charakteren nicht, ihre persönlichen Prägungen hinter sich zu lassen. Das Neue und Einmalige an Jatahys Neuinterpretation, die anlässlich der Wiener Festwochen in Österreich zu sehen ist, ist aber nicht das Setting im heutigen Brasilien, einem Land, in dem der Unterschied zwischen Arm und Reich in unglaublichem Ausmaß postkolonialistisch nach wie vor besteht. Das Neue und Einmalige ist die Verschmelzung der Medien, die sie zur Erzählung dieser Geschichte einsetzt. Neben dem Eingangsfilm, der einen Rückgriff in die Geschichte der beiden jungen Menschen erlaubt, sind es über lange Strecken tatsächliche Live-Aufnahmen, welche immer wieder auf die verschiebbaren Leinwände übermittelt werden. Sie zeigen Julia und Jelson, der sich lange den Verführungskünsten seiner jungen Herrin widersetzt, letztlich aber doch ihren Reizen unterliegt, live von einem Kameramann auf der Bühne gefilmt und verschränken das Live-Geschehen abermals mit filmischen Einspielungen.

In einer realistischen und technisch höchst raffinierten Beischlafszene, in der sich das Ereignis zwar unmittelbar vor dem Publikum in einer Bühnennische abspielt, sichtbar für dieses aber nur auf der Leinwand wird, verschwimmt erstmals drastisch Realität und Fiktion. Der dabei stattfindende Dialog, in dem der junge Mann seinen Traum vom Leben, ein eigenes Hotel zu besitzen, offenbart, bricht durch seine Inadäquatheit die Schärfe der Sexszene. Wenn er immer wieder und immer wieder anstelle eines Liebesschwurs, der von ihm gefordert wird, aber nicht über seine Lippen kommt, während des Kopulierens ein Zukunftsszenario ausmalt, in welchem er einmal finanziell ein „gutes Leben“ führen wird, darf auch gelacht werden. Und doch changiert die Botschaft permanent zwischen Groteske und Tragik und das Lachen bleibt im Hals stecken, denn den ZuseherInnen geht es in diesem Moment wie Julia selbst, die noch während des Liebesaktes erkennen muss, dass ihr Geliebter in ihr nicht mehr als die Möglichkeit seines sozialen Aufstiegs wahrnimmt. Dieses Oszillieren der Gefühle setzt die Regisseurin gekonnt mehrfach ein. Immer wieder setzt sie tragischen Momenten lachhafte entgegen und färbt so in Strindbergs Grau allerhand bunte Flecken. Julia, mit unglaublicher Intensität, überzeugendem Lolita-Charme und entwaffnender Jugendlichkeit von Julia Bernat gespielt, wird permanent von Trauer, Angst und Jähzorn heimgesucht. Ihre Wutausbrüche und Beschimpfungen wechseln von einer Sekunde auf die andere in bemitleidenswerte Hilflosigkeit. Ihre Idee von der romantischen Liebe kann bei Jelson, der längst gelernt hat seine Gefühle hintanzustellen, keinen Widerhall finden. Und auch ihre Sprache ist nicht seine, denn als sie ironischerweise ihn dazu auffordert, doch ihren Wellensittich zu töten, wenn er ihm auf ihrer geplanten Flucht im Weg sei, greift dieser tatsächlich zum Messer um die Tat auszuführen. Hier kippt erstmals das Geschehn und schwappt in einer Interaktion auf das Publikum über.

Völlig in Rage wendet sich Julia an die ZuseherInnen und fragt, ob denn der junge Mann nicht komplett verrückt geworden sei und ab nun gibt es kein Halten mehr. Das Spiel im Spiel wird zur Teilrealität, bei der die SchauspielerInnen sogar den Raum verlassen und sich im Freien auf dem Platz vor dem brut ein Schreiduell liefern. Nun sind sie angekommen, im Hier und Jetzt dieses Theaterabends, nun sprengen sie tatsächlich die Grenzen zwischen Spiel und Realität. Dass dies einer der wichtigsten Kunstkniffe der Inszenierung ist, liegt auf der Hand, denn Strindberg einfach nur in einer Neuaufnahme in ein anderes Land zu versetzen, wäre eine allzu dünne Theatersuppe. So wird daraus aber ein richtig schmackhaftes Menü, in dem man zwischen den einzelnen Gängen seinen Favoriten wählen kann. Ist es die jugendliche, perfekte Schauspielleistung von Julia Bernat und ihrem kongenialen Partner Rodrigo dos Santos, ist es die politische Sprengkraft der sozialen Unterschiede oder ist es das Oszillieren des Geschehens zwischen Fiktion und Realität, welches am meisten beeindruckt? Der Griff in die technisch-mediale Trickkiste hat es in sich und fügt dem Geschehen noch eine zusätzliche Ebene hinzu in der medienkritische Überlegungen zur Genüge stecken. Der kluge Schluss, an dem Julia mit tränennassen Augen das Publikum fragt „und jetzt?“ läuft die junge Frau nicht aus Scham an ihrem eigenen Tun in den Tod, wenngleich dieser bilderstark dahinter auf der Leinwand zelebriert wird. Vielmehr bleibt das kleine Häufchen Elend, das von der Gesellschaft, ihrem Erwählten aber letztlich auch von sich selbst um sein Glück gebracht wurde, ratlos auf der Bühne zurück und trägt damit viel schwerer an ihrem Sein als es durch ihren Freitod – wie in Strindbergs Fassung – gewesen wäre. Mit einem Mal wird klar: Das eigene Leben ist kein Schauspiel, sondern Resultat seiner eigenen Fehltritte, mit denen es weiterhin zu leben gilt. Eine Flucht in die mediale Fiktion ist Fiktion. Zeitgenössisches Theater mit zeitgenössischen Medien kunstvoll in Szene gesetzt und ein Abend, bei dem Jatahy das Kunststück gelang, inhaltlich Schweres mit Leichtem so zu vermengen, dass beide Qualitäten nebeneinander Bestand haben.

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