Das Vermächtnis der Vielzuvielen

Von Michaela Preiner

„Das Floß der Medusa“ (Foto: Markus Sepperer)

03.

November 2017

Es gibt viele Theateraufführungen, die eine bewegte Geschichte aufweisen. Entweder wurden sie von der Zensur verboten, fielen beim Publikum durch oder ernteten Proteststürme vor, während oder nach der Aufführung.

In der Musikgeschichte findet sich dieses Phänomen schon weitaus weniger oft. Eines der bekanntesten Beispiele im 20. Jahrhundert dafür ist jedoch Hans Werner Henzes „Das Floß der Medusa“. Er komponierte das „Oratorio volgare e militare in due parti“ in den Jahren 1967/68 zu einem Text von Ernst Schnabel. Dieser fügte seiner eigenen Lyrik Sätze aus Dantes Göttlicher Komödie hinzu.

Ein Schiffsunglück im 19. Jahrhundert

Im „Floß der Medusa“ behandelte das Duo Henze/Schnabel eine wahre Begebenheit – nämlich das Schiffsunglück der Medusa, die sich unter französischer Königsflagge auf den Weg in den Senegal machte, unterwegs jedoch auf ein Riff auflief und sank. Ein Teil der Besatzung – vornehmlich die hohen Chargen – fanden in den Rettungsbooten Platz. 154 Menschen mussten ein selbst gezimmertes Floß besteigen, das von den Rettungsbooten schon nach wenigen Stunden im Schlepptau gekappt wurde. Als es durch einen Zufall nach 13 Tagen gefunden wurde, gab es nur 15 Überlebende. Schriftliche Aufzeichnungen von zwei Männern, die von der Zensur verboten wurden, führten schließlich dennoch dazu, dass, wie Christoph Becher im Programmheft vermerkte, Historiker heute davon ausgehen, dass die haarsträubende Erzählung vom selbstsüchtigen und unverantwortlichen Verhalten der Befehlshaber zur Befeuerung der Julirevolution beitrug, die 1830 die Bourbonendynastie stürzte. Henze und Schnabel sahen in dem Thema eine Allegorie für die Tendenz von Hierarchien zu Unmoral und Unterdrückung. Dass sich gerade auch heute viele analoge Beispiele finden lassen, welche diese These untermauern können, zeigt, wie brandaktuell Henzes und Schnabels Werk wieder geworden ist.

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Das Floß der Medusa (Foto: Markus Sepperer)

Tumulte in Hamburg, Uraufführung in Wien

Als es in Hamburg zur Uraufführung gebracht werden sollte, weigerte sich der Chor der RIAS, der aus dem amerikanischen Teil Berlins angereist war, unter der roten Fahne zu singen, die auf dem Podium angebracht worden war. Die tumultartigen Szenen, die zwischen Befürwortern und Gegner der Aufführung stattfanden, verhinderten schließlich die Uraufführung, die erst 1971 im Musikverein in Wien stattfand. Henze, zu jener Zeit von den Studentenrevolten in Deutschland politisiert und mit der APO in Verbindung, setzte ein viriles, politisches Lebenszeichen an den Schluss seines Oratoriums.

Das Konzert im Rahmen von Wien Modern am Allerseelenabend wurde, wie zu erwarten, von keinerlei Protestaktion gestört. Cornelius Meister dirigierte das RSO, eine kleine Auskoppelung der Wiener Sängerknaben und den Arnold Schönberg Chor wie immer souverän und einfühlsam zugleich. Mit Sarah Wegener, die den Part des Todes „La Mort“ übernahm und Dietrich Henschel, der für Matthias Goerne kurzfristig einsprang, stand eine Solistin und ein Solist am Podium, die ihre schwer zu singenden Rollen nicht nur technisch hervorragend meisterten. Wegener agierte als personifizierte Verführung in weißem Abendkleid mit geschmeidigem Timbre. Henschel gab Jean-Charles seine Stimme, jenem dunkelhäutigen Mann, der auf Théodore Géricaults Gemälde „Le Radeau de la Méduse“, den Betrachtenden abgewandt, mit blankem Oberkörper und wehendem, roten Stoff das kleine Schiff in der Ferne beschwört, das schließlich die Rettung für das Grüppchen Überlebender bedeutete.

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Sarah Wegener als „La Mort“ (Foto: Markus Sepperer)

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Dietrich Henschel als „Jean-Charles“ (Foto: Markus Sepperer)

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Arnold Schönberg Chor (Foto: Markus Sepperer)

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Wiener Sängerknaben (Foto: Markus Sepperer)

Musikalisch extrem vielschichtig

Henzes Musik zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass sich der instrumentale Part und jener des Chors in einem höchst ausgewogenen Verhältnis zueinander befinden. Der Chor teilt sich mit Fortschritt der Aufführungsdauer in zwei Gruppen; eine rechte und eine linke – die rechte sinnbildlich für die Toten, die linke für die noch Lebenden. In seiner klanglichen Expressivität und Farbigkeit kann er locker mit dem Orchester mithalten und in beeindruckender Weise das Elend, die Angst und die Todesverlockung beinahe bildlich illustrieren. Gleich zu Beginn, während von der Einschiffung berichtet wird, lässt Henze mit lauten, scharfen Dissonanzen im Fortissimo das spätere Unheil bereits ankündigen. Der Gang auf das Rettungsfloß wird mit dunklen Pauken unterfüttert. Mit solch illustrativer Kraft hebt er dabei dramatische Vorgänge ebenso hervor wie innige, zutiefst berührende. Ein Beispiel dafür ist der vielstimmige Aufschrei in jenem Moment, der das Kappen der Leinen von den Rettungsbooten zum Floß veranschaulicht. Diese laute, instrumental begleitete Markierung gräbt sich genauso markant ins Gehörgedächtnis ein wie das kleine Lied der beiden Matrosenjungen, die als erste sterben und mit zarten Stimmchen noch einmal ihre Jugend markieren. Ganz im Widerspruch zum teils hektischen, klanglich extrem verdichteten, zum Schluss hin apathischen, musikalischen Treiben hat Henze die Rolle des Todes angelegt. Stoisch, verlockend „Kommt, Vielzuviele!“, aber immer siegessicher steht Wegener vor Chor und Orchester und verführt die Todgeweihten mit engelsgleicher Samtstimme bis hin zu unausweichlichen Befehlstönen im höchsten Diskant.

Ho, Ho, Hồ Chí Minh!

Henzes politisches Statement – an den Schluss gesetzt, kündigt sich durch leises, rhythmisches Summen der Sängerinnen und Sänger an. Zu Beginn diffus und kaum wahrnehmbar, schwillt es zu klar und deutlichen Ho-Ho-Ho-Chi-Minh-Rufen an. Jenem Schlachtruf, mit dem vor allem in Deutschland die linken Proteste gegen den Vietnamkrieg begleitet wurden. Mit Ernst Georg Schnabels allerletztem Satz, gesprochen von Charon (Sven-Eric Bechtolf agierte nicht nur artikulationsstark, sondern auch rhythmisch sicher), wird der Zusammenhang mit dem Unglück auf dem Floß klar: „Die Überlebenden aber kehrten in die Welt zurück: belehrt von Wirklichkeit, fiebernd, sie umzustürzen.“

Die Aufführung von Henzes „Floß der Medusa“ im Wiener Konzerthaus kann von vielen, verschiedenen Blickwinkeln aus betrachtet werden. Ganz dem Motto des Wien-Modern-Festivals „Bilder im Kopf“ verpflichtet, eröffnet es eine schreckliche Bilderflut, der man sich nicht entziehen kann. Henzes Musik, unbändig und roh, zugleich aber auch Schnabels und Dantes Lyrik feinsinnigst verpflichtet und zutiefst emotional, kann seine Singularität im Konzertkanon des 20. Jahrhunderts nach wie vor behaupten. Die Tatsache jedoch, dass die große Vision, die hinter diesem Werk so kräftig durchblitzt – die Gleichheit und Selbstbestimmtheit aller Menschen ohne Unterschied von Stand und Rang – auch heute wieder ein so großes Thema ist, ist bestürzend.

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