Wenn Gott abwesend ist, bleibt nur seelische Verwüstung

„Das Missverständnis“ von Albert Camus ist in einer außergewöhnlichen Inszenierung von Nikolaus Habjan im Volkstheater zu sehen. Drei Personen bedienen drei Puppen und spielen insgesamt fünf Rollen. Theater pur.

Die Geschichte um einen verlorenen Sohn, der nach 20 Jahren nach Hause kommt und von Mutter und Schwester nicht erkannt wird, ist Maskerade. Eine Camouflage, die Albert Camus vor sein eigentliches Thema setzte, nämlich die Frage nach der Existenz Gottes und der Eigenverantwortung des Menschen. In der Regie von Habjan ist es glücklicherweise fast unmöglich, dass man die Subbotschaft hinter der Geschichte nicht wahrnimmt.

„Das Missverständnis“ wurde von Camus 1963 während der Besetzung der Deutschen in Paris geschrieben, in einer Zeit, in welcher der Existenzialismus seine Hochblüte erlebte. 1966 wurde der Stoff mit der legendären Elisabeth Flickenschild als Mutter in Schwarz-Weiß verfilmt. Eine Arbeit, die für spätere Inszenierungen – vor allem was die schauspielerische Leistung betrifft – die Latte extrem hoch legte. Die Fassung im Volkstheater lässt sich jedoch mit keiner anderen vorherigen vergleichen. Denn Habjan schuf dafür drei Puppen mit expressiven Gesichtern. Er selbst schlüpft dabei in die Rolle von Martha, der Tochter. Seyneb Saleh, welche die Puppe der alten Mutter bewegt, ohne sie dabei anzusehen, erweist sich als geniale Partnerin. Außerdem verkörpert letztere auch Maria, die Frau des Sohnes, die in banger Vorahnung ihren Mann nicht allein in das Haus seiner Familie lassen möchte. Ebenso verkörpert sie den alten Knecht, dessen Auftritte sie jedoch mit Habjan und Florian Köhler abwechselnd teilt. Kostengünstig und effektiv kann man diese Mehrfachbesetzung bezeichnen, die einem während des Spiels nicht auffällt. Nach der Aufführung staunt man ungläubig, wie einfach man im Theater doch getäuscht werden kann. Ungleichzeitigkeiten im Auftritt machen dieses Wechselspiel möglich. Die Puppe von Jan, dem Sohn, wird ebenfalls von Florian Köhler geführt.

Die Bühne (Jakob Brossmann) zeigt eine Hotelrezeption mit Treppen nach unten und oben. Der Raum  verläuft dabei schräg in den Boden. Dass in dem Haus der beiden Frauen so manches aus dem Lot geraten ist, wird dadurch veranschaulicht. Beide tragen schwarze Kleider, so als ob sie sich in einem Trauerzustand befänden. Und tatsächlich herrscht eine Grundstimmung, die man als freudlos und kalt beschreiben kann. Im Gegensatz dazu präsentiert sich Maria in einem grünen Kleid mit roten Strümpfen und einer roten Jacke. Lebensfreude pur wird dadurch ausgedrückt.  Am Ende der Geschichte wird sie einen schwarzen Mantel übergezogen haben – ein Hinweis ihrer verdüsterten Seele.

Martha möchte nichts anderes in ihrem Leben als ans Meer. Die Enge des Hauses und des Landstriches, in dem sie zu leben gezwungen ist, ist ihr unerträglich geworden. Seit geraumer Zeit verfolgt sie den Plan auszuwandern und bringt gemeinsam mit ihrer Mutter wohlhabende, alleinstehende, männliche Gäste um, um sich dann an deren Geld zu bereichern. Jan, Bruder und Sohn der beiden, kommt mit der Absicht, seiner Familie zu helfen, möchte sich aber nicht sofort zu erkennen geben. Das wird ihm zum Verhängnis.

Habjan, der in dieser Saison bereits in „Fasching“ von Gerhard Fritsch im Volkstheater mit einer Puppe auftrat, blieb mit seiner Fassung ganz nah am Originaltext. Den alten Knecht, der bei Camus auch als Gottessymbol gelesen werden kann, präsentiert der Regisseur als einen Untoten. Aschfahl im Gesicht, mit langen, weißen Haaren, zieht er beinahe unsichtbare Fäden, die für die Handlung eminent wichtig sind. Wie die Überreichung des Passes des verstorbenen Bruders, den er Martha schweigend  überreicht. Durch diesen Akt wird ihr erst klar, wer ihr letztes Opfer gewesen ist. „Er hört nicht gut und er spricht nur das Nötigste“, so charakterisiert Martha ihren Knecht. Und tatsächlich reagiert er nicht einmal am Ende des Stückes, als ihn Maria in ihrer allergrößten Not um Hilfe anfleht.

Die Inszenierung zeigt auf eindrucksvolle Weise, dass Theater auch heute mit einfachen Mitteln nach wie vor auf das Publikum wirken kann. Puppen, seit dem Beginn der Geschichte dieses Mediums ein unverzichtbarer Bestandteil desselben – wirken nicht nur auf Kinder magisch. Dass in Habjans Fassung die Menschen, welche die Puppen bewegen, sichtbar bleiben, verleiht diesen Existenzen so etwas wie einen doppelten Boden.  Man könnte die Doppelbödigkeit als Äquivalent zum vielschichtigen Text von Camus selbst ansehen.

Das Meer, Symbol der Freiheit, kommt auch in der Musik selbst vor. Nicht nur als symphonische Andeutung, sondern auch mit dem berühmten Chanson von Charles Trenet. Es wird schlussendlich auch jenes Element sein, in dem sich Mutter und Sohn wieder vereint finden. Camus erklärt die Herzenskälte der jungen Martha durch die Erziehung ihrer Mutter. „Du hast mich in meinem Leben nie nackt gesehen“, erklärt an einer Stelle die Tochter, was aufzeigt, wie wenig körperliche und seelische Wärme sie in ihrer Erziehung erfahren hat. Respekt ist das, was ihr ihre Mutter immer abnötigte, Zuneigung und Liebe sind Worte, die zwischen diesen beiden Frauen nie gefallen sind. Grenzen setzen, Autoritäten anerkennen und allgemein gültige, ethische Werte tradieren, das wollte ihre Mutter nicht, um an Ende ihres Lebens genau darin ihr Scheitern zu erkennen. Und dennoch sind beide unzertrennbar aneinander gekettet. Die düstere Grundstimmung, durch Theaternebel zeitweise noch verstärkt, beherrscht das Geschehen beinahe durchgehend.

Besonders das letzte Drittel des Stückes, in dem Martha ihrer Schwägerin den Mord an Jan kaltblütig gesteht, ist von ungemeiner Aussagekraft. Sie zeigt ihr dabei die Fratze der Unmenschlichkeit in seiner pervertiertesten Form. Marthas anschließender Suizid und der übermächtige Schmerz, der Maria befällt, als ihr klar wird, dass nach der Philosophie ihrer Schwägerin der Tod endgültig und unbesiegbar ist und es keine höhere Instanz gibt, die Schuld rächen kann, ist für viele Menschen schwer auszuhalten. Der stumme Schrei der jungen Witwe und ihr Abrutschen kopfüber von der schiefen Ebene symbolisiert dieses menschliche Dilemma drastisch.

Evgeny Titov, der erst vor einigen Tagen sein Schlussdiplom am Max Reinhard Seminar präsentierte, inszenierte das selbe Stück im März diesen Jahres. Mit anderen, eindrucksvollen Bildern, aber derselben Grundaussage. Beide Regisseure sind nicht in die Falle getappt, das Geschehen nur als Kriminalfall darzustellen.

Die expressiven Puppengesichter und das feine Spiel, das Habjan, Köhler und Saleh zeigen, machen die Inszenierung zu einem ganz besonderen Erlebnis. Die Übernahme aus dem Schauspielhaus Graz war eine richtige Entscheidung – das Publikum reagierte mit langem Applaus und Bravo-Rufen.

Weitere Infos auf der Seite des Volkstheaters.

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