Das verspeiste Herz

„Written on skin“ von George Benjamin und Martin Crimp

Ohne Vorspiel erhebt sich der schwarze Vorhang und sichtbar wird ein Haus mit vier Räumen, verteilt über zwei Ebenen. Im rechten Bereich sind es zwei übereinanderliegende Zimmer, die durch einen durch die Decke wachsenden Baum miteinander verbunden sind. Die karge Einrichtung verweist auf ein ländliches Gebäude aus dem vorigen Jahrhundert, ein Tisch, ein Stuhl und – völlig unpassend dazu – metallene Deckenstützen, wie sie am Bau verwendet werden. Ohne sie würde das alte Gemäuer wohl in sich zusammenstürzen. Die linke Seite hingegen zeigt im oberen Stockwerk eine kleine Werkstatt, darunter einen Raum mit einer Theke, einen Schreibtisch und eine Kleiderstange auf der sich – wie sich noch zeigen wird – die Kostüme dieses Abends befinden. Sie sind in weißen Hüllen aufgewahrt und werden von Menschen, die in unpersönlichem grauem Businesslook gekleidet sind, den SängerInnen für den Kostümwechsel gereicht.

Das Bühnenbild von Vicki Mortimer spiegelt in perfekter Weise das Libretto von Martin Crimp wider, in dem Vergangenes und Gegenwärtiges miteinander verknüpft werden. Der Text basiert auf einer provenzalischen Ballade aus dem 13. Jahrhundert von Guillaume de Cabestanh, die der Librettist aussuchte, um bei den Festspielen in Aix zu reüssieren. Die einzige Vorgabe für das Auftragswerk des Festivals war, dass es einen Bezug zur Provence aufweisen sollte, den Crimp in besagter Textvorlage fand. Darin verpflichtet ein König einen Musiker an seinen Hof. Crimp änderte die Kunstgattung seines Antihelden und machte aus ihm einen Maler, da er nicht dieselbe Figur verwenden wollte, die er in seiner ersten Zusammenarbeit mit George Benjamin schon verwendet hatte. In der Kammeroper „Into the little hill“ war es eine Gestalt, dem Rattenfänger von Hameln gleich, der Kinder mit Musik in seinen Bann zog.

In „Written on Skin“ – der letzten großen Premiere im Rahmen der Wiener Festwochen 2013, die am 14.6. im Theater an der Wien aufgeführt wurde, ist es ein junger Maler, „Boy“ genannt, der einem Herrscher ein bebildertes Buch erstellen soll. In diesem wünscht der Auftraggeber – „man“ betitelt – seinen Lebensraum und sein wohlbestalltes Haus mit seiner Frau, die er als sein Eigentum betrachtet, wiederzufinden. Aber er wünscht sich auch Einblick in das Paradies. Einblick in eine ungewisse Zukunft, die noch vor ihm liegt, und die er mithilfe des Künstlers unbedingt schon zu Lebzeiten erblicken möchte. In knappen eineinhalb Stunden gelingt es dem Dramatiker Crimp mit wenigen, dafür aber umso prägnanteren Sätzen, ein Drama heraufzubeschwören, das in Mord und Selbstmord endet. Angès, die Frau des Herrschers, die von ihrem Mann nicht als gleichwertiges Individuum anerkannt wird, rebelliert. Sie verführt den Künstler und verlangt schließlich von ihm, sich zu ihr zu bekennen. Obwohl er dies nicht tut und das Verhältnis vor seinem Auftraggeber verleugnet, wird er von diesem nicht verschont und auf brutale Art und Weise erstochen. Sein Herz wird Angès schließlich zum Verzehr serviert und als sie erfährt, was sie sich einverleibt hat, gerät ihre Rebellion vollends zum offenen Aufstand. Nie mehr würde ihr Mund einen süßeren Geschmack verspüren als das Herz ihres Geliebten – mit dieser Aussage konterkariert sie die Demütigung ihres Mannes vollends. Danach jedoch wählt sie den Freitod, der sie vor der körperlichen Rache ihres Mannes verschont.

Crimp verpackt in den Text vielerlei Anspielungen ans Hier und Heute. Einer der Höhepunkte darin ist die Offenbarung des jungen Künstlers gegenüber dem Protektor, wie sich sein Auftraggeber auch nennt, dass das Paradies schon zu seinen Lebzeiten zu verorten sei. Was für den einen seine Ländereien, sein Haus und seine Frau, seien für einen anderen zum Beispiel die gesammelten Flugzeugbonusmeilen. Knapper wurde eine religiöse Entzauberung wahrlich noch nie vollzogen, die Engel brutaler wohl noch nie aus ihrem Himmelreich verstoßen. Aber dennoch kommt das Stück nicht ohne eine esoterische Metaebene aus. Die grauen Gestalten, die nicht nur bei den offenen Kostümwechseln behilflich sind, erweisen sich bald als engelsgleiche Geschöpfe mit bipolarem Gebaren. Einerseits stehen sie den ProtagonistInnen hilfreich zur Seite, wenn sie von ihren Emotionen überschwemmt werden und zusammenzubrechen drohen. Andererseits sind sie es, die sich gegenseitig aufmuntern, den Menschen Leid zuzufügen und – wohl die größte Strafe von allen – diese auch mit einem Gewissen auszustatten. So verschränkt Crimp unmerklich mehrere große Erzählungen, die von der Antike herauf bis ins 19. Jahrhundert in mannigfachen Abwandlungen künstlerisch verhandelt wurden. Er beschreibt nicht nur eine verbotene Liebe und das Emanzipierungsbestreben einer jungen Frau. Er stellt Fragen nach dem Woher und Wohin, nach der Existenz eines Schöpfers, oder einem größeren Plan und – er stellt zugleich die Kunst auf den Prüfstein. „Auf dem Feld stapeln sich die Toten“ singt Agnès „und du malst an einem Buch“ – in dieser lapidaren Feststellung verbirgt sich nichts Aktuelleres als die vor allem in ökonomisch schwierigen Zeiten immer wieder hervorgebrachte Frage nach der Legitimation von Kunst. Die der Kunst innewohnende Macht zur Veränderung bis hin zur Zerstörung des eigenen Weltbildes erlebt Agnès schließlich an ihrem eigenen Leib. Kunst, für viele Menschen als reine Erbauung genossen und konsumiert, kann für andere zu einem Erkenntnisgewinn werden, der ihr Leben radikal verändert. All das wirft Crimp in seine theatralische Waagschale, die mit jedem neuen Motiv, das er zusätzlich einbringt, in schwindelerregende allegorische Höhen wandert. Dabei streift er auch noch das Gebiet der bildenden Kunst, wenn er mit der Frage nach dem mit Diamanten besetzten Schädel, wohl ein Hinweis auf Damien Hirsts „for the love of god“, sich einen kleinen Querverweis erlaubt.

Benjamins musikalische Unterstützung tut das einzig Richtige. Sie begleitet die Sängerinnen und Sänger auf weite Strecken mit einem gewissen Understatement und ermöglicht durch ihre Zurückhaltung eine textverständliche Interpretation. Dort, wo Emotionen aufbrechen, wird auch der musikalische Rahmen dichter und breiter. Dort, wo zarte Gefühle abgehandelt werden, ist sie ein unaufdringlicher Begleiter. Von der Grundidee her könnten barocke Accompagniato-Rezitative Pate gestanden haben, die Ausführung des Materials aber hat mannigfache Anleihen am 19. und 20. Jahrhundert genommen. Dissonanz setzt Benjamin nie mit dem schrillen Holzhammer ein, vielmehr herrscht in den Duetten zwischen den Liebenden erstaunliche Harmonie. Farbe bringen ungewohnte Instrumente wie zum Beispiel eine Glasharfe, die ganz zum Schluss ätherische Klangräume andeutet. Kent Nagano leitet unprätentiös das Klangforum, das wohl ohne Übertreibung als eines der besten Klangkörper für zeitgenössische Musik bezeichnet werden kann. Ihm zur Seite steht ein ausgesuchtes Ensemble. Allen voran Barbara Hannigan als Agnès. Sie stand schon während der Komposition als Interpretin dieser Rolle fest, was bedeutet, dass Benjamin ihr diese auf den Leib schreiben konnte. Ihr überaus klarer, an keiner einzigen Stelle scharfer oder unsicherer Sopran weist eine schier unerschöpfliche Bandbreite an Ausdrucksmöglichkeiten auf. Egal ob sie zärtlich-leise im Liebesduett agiert oder vor Verachtung nur so in Rage brüllen möchte – alles gelingt ihr in der musikalischen Umsetzung so natürlich, als ob die Kommunikation zwischen den Menschen immer singend vonstatten ginge. Dazu kommt ihre theatralische Ausdrucksstärke, die ihrem Gesang in nichts nachsteht. Ihr zur Seite – perfekt besetzt – der Bariton Audun Iversen. Seine lyrischen, zarten Momente sind ebenso glaubwürdig wie jene, in welchen er die Kraft seiner Stimme voll ausspielen muss. Iestyn Davis als Boy und Engel in einer Doppelrolle, wird der Herausforderung voll und ganz gerecht, zwei völlig unterschiedliche Charaktere auch stimmlich unterschiedlich zu interpretieren. Zart, verletzlich, ja manches Mal so gar ein wenig schamhaft klingt seine Stimme als junger Künstler. Klar und präzise als Engel, der keine Zweifel an seinem Tun hat.

Die Inszenierung von Katie Mitchell besticht durch die optische Präsenz aller Beteiligten zu jeder Zeit. Die langsamen Bewegungen ihrer Cherubime vermitteln eine wissende Gelassenheit, der das emotionale Treiben der Menschen diametral dazu entgegengesetzt wird. Wie einst die antiken Götter scheinen sie es zu sein, welche die Ereignisse nicht nur vorantreiben und unterstützen. Vielmehr weisen ihre Vorbereitungen, die erst ganz zum Schluss ihre Rätselhaftigkeit verlieren, darauf hin, das Geschehen bereits im Voraus gekannt zu haben. Die beiden Parallelwelten, die sich immer wieder treffen, vermischen und Einfluss aufeinander haben, bieten Stoff für endlose Assoziationen und den Wunsch, sich mit dem Werk noch intensiver auseinanderzusetzen.

Ein gelungener Ausklang der Festwochen, bei welchem die Frage noch lange nachhallen wird, ob das Libretto oder die Musik die stärkere Beachtung verdienen.

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