Der Kirschgarten – Nostalgie gewürzt mit Ästhetik am TNS in Straßburg

Der Kirschgarten – Nostalgie gewürzt mit Ästhetik am TNS in Straßburg

Michaela Preiner

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10.

Mai 2010

Der Kirschgarten, Anton Tschechows letztes Stück, erfährt in Europa in den letzten Jahren landauf landab neue Inszenierungen. Eine davon ist nun bis Ende Mai in Straßburg am TSN zu sehen. Julie Brochen, die neue Theaterdirektorin, die das TNS seit dieser Saison übernommen hat, legte selbst Hand an und führte die Regie. Wer glaubt, das klassische […]
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Der Kirschgarten in der Inszenierung von Julie Brochen am TNS Strasßburg (c) Franck Beloncle

Der Kirschgarten, Anton Tschechows letztes Stück, erfährt in Europa in den letzten Jahren landauf landab neue Inszenierungen. Eine davon ist nun bis Ende Mai in Straßburg am TSN zu sehen.

Julie Brochen, die neue Theaterdirektorin, die das TNS seit dieser Saison übernommen hat, legte selbst Hand an und führte die Regie. Wer glaubt, das klassische Theater sei tot, der irrt gewaltig. Denn was Julie Brochen auf die Bühne zaubert, ist Nostalgie pur, mit einigen – dafür umso spritzigeren zeitgeistigen Ideen – die aber den Gesamteindruck der soliden Theaterarbeit, die sich nahe am geschriebenen Wort orientiert, nie kaputt machen. Das Bühnenbild besteht aus einem großen, aus Glas und filigranen Eisenstäben gebauten durchlässigen Raum. In dieser schönen Kulisse, die an ein herrschaftliches Gewächs- oder Palmenhaus aus dem 19. Jhdt. erinnert, lässt die Regisseurin einen ständigen Wechsel zwischen der Außen- und Innenansicht zu, was sich als eine wunderbare psychologische Metapher erweist. Braucht es überhaupt einen Raum, der Schutz und Geborgenheit vermittelt, um sich entfalten zu können, oder reicht dem Menschen seine eigene Hülle, um das tief Verborgene in ihm bewahren und schützen zu können? Dieser ständige Ortswechsel, der sich doch nur durch eine Glasscheibe manifestiert, wird nur einmal ausgehebelt. Für die Szene des großen Festes, das die Familie um Ljubow Andrejewna Ranjewskaja ein letztes Mal auf ihrem Anwesen nahe der großen Stadt gibt, verschwindet das Eisen-Glas-Konstrukt, sodass das Publikum freien Blick auf den großen Saal hat, in den ein Kristallluster herab schwebt, der aus vielen einzelnen Champagnergläsern besteht. Für dieses Bild wird auch die gute, alte Drehbühne bemüht, auf der sich der Festsaal im Kreise dreht, sodass man meinen könnte, er selbst würde tanzen.

Neben dem bestechenden Bühnenbild von Julie Terrazzoni ist es aber vor allem der Schauspieltrupp, den Julie Brochen zusammengeführt hat, der überzeugt. Keine der Figuren ist eine Fehl-, einige davon darf man getrost als Traumbesetzungen titulieren. So z.B. Jean-Louis Coulloc`h in der Rolle des Lopachine, jenem Sohn eines ehemaligen Leibeigenen der Herrschaft, der durch Handel zu Reichtum gelangte und Andrejewna dazu drängt, ihr Gut vor der drohenden Versteigerung zu retten, indem sie den Kirschgarten abholzen und das Land parzellieren und verpachten könnte. Jean-Louis Coulloc`h gelingt es, die Gespaltenheit der Tschechow´schen Figur wunderbar überzeugend darzustellen. Vom innig flehenden Berater, der erkennen muss, dass man ihn wohl aufgrund seiner niederen Herkunft nicht ernst nimmt, bis hin zum an der eigenen Courage verzweifelten Mann, der weiß, dass die Welt und ihre alten Werte nicht zuletzt aufgrund von Menschen wie ihm, aus den Fugen gerät. Der Moment, in welchem er erklärt, dass er das Gut in der Versteigerung aufgekauft hat, gerät in dieser Inszenierung zu einem extrem berührenden. Nur betrunken wagt er es, den Kauf zu offenbaren – wohl wissend warum.

Kirschgarten

Pommarat, Coulloc’h und Balibar im Kirschgarten am TNS (c) Franck Beloncle

Der Zusammenbruch der Familie, im besonderen Ljubow Andrejewna Ranjewskajas, bleibt nicht aus. All ihr Hoffen und Sehnen war vergebens, all ihr Ignorieren der Tatsachen, all ihre Tatenlosigkeit wird bestraft. Es wird ihr alles genommen, was noch einen Wert für sie darstellte. Das Haus ihrer Kindheit, ihr Kinderzimmer und der wunderschöne Kirschgarten, der seinesgleichen sucht – und das Geld, das ihr bleibt – das weiß sie – ist so flüchtig wie nichts sonst auf der Welt. Jeanne Balibar verkörpert die ehemalige Gutsfrau, die das Land verließ, um nach dem Tod ihres kleinen Sohnes, den dieser im nahen Fluss fand, ein neues Leben mit ihrem Geliebten in Paris zu beginnen. Zusammengekauert, als wimmerndes, gebrochenes Etwas, liegt sie nach Erhalt der Schreckensnachricht unter dem Sofa und selbst, als alle anderen sich schon wieder auf den Weg machen, ist sie unfähig, sich von diesem zu trennen. Lopachine selbst ist es, der sie ein Stück weit fortragen muss – ein Bild, das pars pro toto für vieles steht, was in diesem Stück an Ungereimtheiten, an Unvereinbarkeiten vorhanden ist. Lopachine, der sie unterstützen wollte und sie dennoch vernichtete, ist es, der ihr zum Schluss wieder auf die Beine hilft. Wer kennt nicht diese Ambivalenz, die uns unser eigenes tägliches Leben immer und immer wieder offeriert!

Pjotr Sergejewitsch Trofimow, der ewige Student, der sich für kurze Zeit in Anja verliebt, der jüngeren Tochter der Gutsherrin, er bleibt auch noch zum Schluss seinen Prinzipien treu und nimmt von Lopachine kein Geld an, um das Gut Richtung Moskau zu verlassen. Seine Flüstertiraden, in welchen er Anja all das Leid der vergangenen Generationen schildert, die unfreiwillig auf dem Gut arbeiten mussten, seine später laut heraus gebrüllten, gesellschaftskritischen Anschuldigungen, die bei den Gutsbesitzern nur ein mildes Lächeln hervorrufen, scheinen dem Schauspieler Vincent Macaigne auf den Leib geschrieben zu sein. Man fiebert mit jedem seiner Sätze mit und erwartet, dass sein Vulkan sekündlich ausbricht, doch mehr als Worte – wenngleich auch eindringliche – hat auch der dem Geschehen nicht beizusteuern. Eine imposante schauspielerische Leistung.

Gildas Milin Gaev, der den ebenfalls verarmten und realitätsfremden Bruder Andrejewnas spielt, richtet immer und immer wieder – unter dem Beifall vor allem der Frauen – Strohhalme der Hoffnung auf, die doch allesamt dem Druck der Wirklichkeit nicht standhalten können. Seinen unbegründeter Enthusiasmus, der sich an jeder noch so unmöglichen Möglichkeit entzündet das Anwesen doch noch retten zu können, gestaltet er so warmherzig und offen, dass das Mitleid ungehemmt in seine Richtung schwappen kann.

Jean-Christophe Quenon als nachbarlicher Gutsbesitzer hebt sich durch ständiges, rastloses Hinterherlaufen nach dem Geld von der ansonsten paralysierten und von den Geschehnissen völlig überforderten Gesellschaft ab. Als es ihm schließlich gelungen ist, durch die Investition von englischen Geschäftsleuten zu Geld zu kommen, läuft er, sein Glück laut allen entgegenrufend, in rasantem Tempo gegen die sich bewegende Bühne, um sich nach wenigen Augenblicken von ihrer Fahrt wieder ein paar Meter mitnehmen zu lassen – um dann sofort wieder von vorne seinen Lauf gegen die Zeit aufzunehmen. Ein wunderbarer Einfall, mit Kraft und Kunst so glaubwürdig umgesetzt, dass man die eigenen Vorwärtsschübe und Rückschläge im Leben noch einmal förmlich körperlich spüren kann.

Der alte Diener Firs, der schon auf dem Gut war, als deren Noch-Besitzer allesamt noch gar nicht auf der Welt waren, er ist der einzige, der nach dem Verkauf dort verbleibt – wenn auch nicht ganz freiwillig. Er, der sich zum Sterben niederlegt, verkörpert das Gestrige, das Alte, die vergangene Zeit und Epoche. Was er zuvor aussprach, dass man sich nicht mehr auskennen würde, wer nun der Herr und wer nun der Knecht sei, darüber macht er sich zum Schluss keine Gedanken mehr. André Pommarat, der 80jährige Straßburger Grandseigneur, wurde von Julie Brochen nach 37 Jahren Abstinenz wieder an jene Bühne zurückgerufen, an der er als junger Mann nicht nur studiert, sondern danach unter der Leitung von Hubert Gignoux ungezählte Rollen verkörperte. Er spielt nicht nur Firs, er ist Firs, auch wenn er zum Schluss unglücklicherweise noch ein paar Auftrittsanweisungen aus dem Textbuch vorlesen muss, die diesen überwältigenden Eindruck für wenige Sekunden trüben. Ein kleines, in diesem Kontext allzu zeitgeistiges Regiedetail, das sich mit einer kleinen Streichung leicht eliminieren ließe. Brochens Einladung an Pommarat kommt einer großen Verbeugung jenem Manne gegenüber gleich, der in Straßburg auch nach seinem Weggang vom TNS Theatergeschichte schrieb. Ihm verdankt die Stadt nicht nur das TJP – das Théâtre Jeune Public – sondern auch einige Festivals, die er ins Leben rief und die bis heute unabdingbarer Bestandteil des Straßburger Kulturlebens geworden sind. Welch geniale Besetzung, welch großzügige und herzberührende Geste der neuen Theaterdirektorin! Alleine dafür wird dieses Stück in der Europastadt Geschichte schreiben.

Mit dem kleinen Musikensemble, das zwischen Zigeuner- und jüdischer Musik eine schöne Balance findet und einzelne Szenen aus- und anklingen lässt, sowie einem berührenden Ein- und Ausgangschor, der in russischer Sprache erklingt und von den Schauspielern und Schauspielerinnen gesungen wird, würzt Brochen das Stück auf ganz besondere Art und Weise und verleiht ihm zusätzliche Farben, die es noch stärker zum Leuchten bringen. Ihr Kirschgarten lebt – und das spürt man sehr – vor allem durch ihre Verbundenheit zu den Schauspielern und Schauspielerinnen selbst, was sich auch darin äußerst, dass sie mit einigen von ihnen gerne in Straßburg ein größeres, permanentes Ensemble aufbauen möchte. In ihrem erläuternden Text, der im Programm nachzulesen ist, schreibt sie, dass in Tschechows Stück der Beginn zugleich ein Abschied und der Abschied zugleich ein Neubeginn ist. Tatsächlich ist dies so – wenn auch der Neubeginn erzwungen wird und mehr Narben zurücklässt als er Hoffnungen in sich trägt. Die Transferleistung zum Hier und Jetzt bleibt dem Publikum selbst überlassen. Dass dies angesichts der derzeitigen Umbruchphase nicht wirklich schwer sein dürfte, sollte klar sein. Das derzeitige europäische Drama, der globale Kapitalismus, der gerade dabei ist, sich selbst zu fressen, stellt viele vor gänzliche neue Herausforderungen und lässt die meisten von uns völlig überfordert zurück. Der im Regietheater so gern angewandte Fingerzeig „now everybody can understand what I mean“ bleibt im Kirschgarten in Straßburg ganz aus – vielleicht ist es gerade dieser Umstand, der im Anschluss an diesen Abend so intensiv zum Nachdenken über Tschechows Stück anregt. Julie Brochen macht es wie Anton P. Tschechow – sie zeigt auf, aber sie wertet nicht – in diesem Sinne legte sie eine extrem schlüssige Regiearbeit vor.

Dieser Artikel ist auch verfügbar auf: Französisch

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