Die „Bürger*innenbühne“ am Schauspielhaus in Graz lässt über „Wendepunkte“ nachdenken.

Die „Bürger*innenbühne“ am Schauspielhaus in Graz lässt über „Wendepunkte“ nachdenken.

Michaela Preiner

Foto: ( Johanna Lamprecht )

17.

November 2022

Das Schauspielhaus in Graz bringt in dieser Saison wieder zwei Stücke, die mit Laien besetzt sind und jeweils mit Regisseurinnen und Regisseuren, sowie Profis aus dem Haus erarbeitet werden.

Die erste dieser beiden Produktionen – „Wendepunkte – eine Bürger*innenbühne über lebensverändernde Ereignisse und das alltägliche Glück“ – darf man als sehr gelungen bezeichnen. Das Stück zeigt auf, was Theater heute spannend macht. Ganz abseits von großen Stoffen, die man von einem Haus wie dem Schauspielhaus in Graz erwartet, macht diese Inszenierung deutlich, dass es Geschichten aus dem Leben von Menschen sind, die, spannend aufgearbeitet, das Publikum fesseln und ins Theater bringen können.

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Wendepunkte (Foto: Johanna Lamprecht)

Wie der Titel schon andeutet, handelt es sich bei diesen Geschichten um einschneidende Erlebnisse, oder auch zum Teil um Erdachtes, das von den Schauspielenden in Soloauftritten erzählt wird. Es sind Geschichten über eine nervenaufreibende Betreuung von Kindern in einem Sommerlager, über den schweren Weg aus der Alkoholsucht, über den Wechsel des Berufes, eine schwere Krankheit, die einen normalen Tagesablauf nicht mehr zulässt, über das Leben vor und nach einer Geschlechtsanpassung oder auch die Erzählung einer aktuellen Flucht aus der Ukraine.

Alles, was man vorgespielt bekommt, weist kluge, theatrale Momente auf. Die junge, ukrainische Regisseurin Natasha Syvanenka verwendet dafür auch clever eingesetzte musikalische Untermalungen, bis hin zu einem unerwarteten Soloauftritt. Damit, aber auch mit der Nutzung des Raumes – der nicht in seiner Tiefe, sondern seiner Länge bespielt wird, schafft sie eine Atmosphäre, die über reine Erzählungen hinaus geht und so nur im Theater zu erleben ist.

Renate Eichberger, Alina Fedorova, Aylin Maviengin-Kozak, Florian Gamillscheg, Johannes Haid und Verena Albertz beeindrucken mit ihren Auftritten und bilden ein Ensemble, wie aus einem Guss. Einige ihrer Gedanken dürften viele aus dem Publikum aus eigenem Erleben bekannt vorkommen. Wie mehrere, gegeneinander streitende Meinungen, die sich in einem auftun, wenn man eine wichtige Entscheidung vor sich hat.

Anderes wiederum ist Neuland, wie die Verwendung des Substantivs „Geschlechtsanpassung“ für eine dementsprechende Operation und all jene Herausforderungen, mit denen Menschen dabei konfrontiert sind.

Ein literarisches Gustostückerl dabei ist die Neuinterpretation des „Vater unser“, in der der Wunsch des Individuums zur Selbstbestimmung zur zentralen Aussage wird. Die Aufzählung eines trockenen Alkoholikers, der Schritt für Schritt errungenen Ziele bis dahin, letztlich ganz vom Alkohol loszukommen, lässt erahnen, welch gewaltige Leistung dahintersteckt.

Die Überforderung eines jungen Menschen, der erstmalig erlebte, was es heißt, auf Kinder aufzupassen, die ganz und gar nicht zu bändigen sind, löst so manche Erinnerung an die eine oder andere misslungene Erziehungsmaßnahme aus, die man selbst erlebte oder auch auslöste. Was es heißt, aufgrund einer Erkrankung seine Tage am WC verbringen zu müssen, die Auflehnung gegen dieses am eigenen Leib erfahrene „Unrecht“ und der Ausbruch daraus – auch das wird in Wendepunkte anschaulich und kunstvoll zugleich thematisiert.

Mit Alina Fedorova rückt der Krieg in der Ukraine ganz nah ans Publikum. Die Lebensschilderung der jungen Sängerin berührt vom ersten Moment an. Aber es ist nicht nur das Vergangene, das ihren Auftritt so emotional macht. Es ist ihre nach wie vor prekäre Situation, von der niemand ihrer Kolleginnen und Kollegen, aber auch niemand im Publikum sagen kann, wie sie sich weiterentwickeln wird, die betroffen macht.

Ein Abend zum Nachdenken, Schmunzeln und Staunen, zum Dazulernen und Zurücklehnen. Was soll Theater noch mehr bieten?!

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