Eine spannende Mischung

Eine spannende Mischung

Elisabeth Ritonja

Foto: ( )

7.

Juni 2022

Bouchra Ouizguen legte mit ihrer Arbeit "Elephant" im Rahmen der Wiener Festwochen ein grenzüberschreitendes Tanzprojekt vor.

Bouchra Ouizguen ist seit einigen Jahren im Tournee-Plan von Kooperationspartnern des zeitgenössischen Tanzes anzutreffen. Frankreich und Belgien spielen dabei eine herausragende Rolle; die Idee, Produktionen länderübergreifend zu unterstützen, findet aber auch gerade im Festival-Business hierzulande immer mehr Zuspruch.

Obwohl sie mittlerweile ihre siebente Produktion auf die Beine gestellt hat, ist sie doch eine Grenzgängerin im zeitgenössischen Tanzgeschehen. In Interviews erzählt sie immer wieder, dass weder sie noch ihre Tänzerinnen eine dementsprechende Ausbildung genossen hätten. Das, was ihre Arbeit auszeichnet, oder vielmehr der Beginn ihrer Arbeit zu diesem Projekt, ist das Aufspüren von Menschen, die noch tradierte Lied- und Tanzformen beherrschen.

In „Elephant“ hat sich Ouizguen zum Ziel gesetzt, marokkanischen Tanz und Musik auf die Bühne zu holen, um sie dem Vergessen und Verschwinden zu entreißen. Als Metapher hat sie sich dafür den Elefanten auserkoren, der eine bedrohte Tierart ist und vielleicht im kommenden Jahrhundert schon ausgestorben sein wird.

Mit drei weiteren Protagonistinnen – einer jüngeren und zwei älteren Frauen, die schon mit Ouizguen zusammengearbeitet haben, präsentierte sie im Programm der Wiener Festwochen im Odeon das Ergebnis ihrer musikalischen und tänzerischen Spurensuche. Das gefundene Material wird bei ihr intuitiv-kreativ zu einem einstündigen Stück verarbeitet. Einem Stück, das nicht nur Traditionelles aufzeigt, sondern dieses Traditionelle in einen neuen Mantel hüllt.

Bevor jedoch ihr Spektakel tänzerisch beginnt, wird erst einmal der Bühnenboden von zwei Frauen mit großen Bodenreibtüchern sauber geputzt. Danach kommen sie – ausgestattet nicht mehr wie Putzfrauen, sondern in Festgewand, mit zwei weiteren Tänzerinnen auf die Bühne, um den Raum nun mithilfe von Weihrauch zu reinigen. Hier wird klar, dass sich das, was gezeigt werden wird, zum Teil im rituellen Bereich abspielt. Und tatsächlich erscheint ein tanzendes Wesen mit einer bunten Kopfbedeckung, die rundum mit hellen Bastschnüren bestückt ist. Bald schon wirbelt es quer durch den Raum.

Anders als ganz zu Beginn kommt die Musik jetzt nicht vom Band. Nun sind es die Frauen selbst, die auf der Bühne live singen. Vielstrophige Litaneien bilden das Hauptkonvolut des musikalischen Geschehens. Sie finden, von einer Vorsängerin ausgehend, ihren Widerhall bei den anderen und werden von ihnen gleichzeitig mithilfe von Djenbes, kleinen Bongotrommeln, rhythmisiert. Dieses musikalische Setting bleibt die ganze Aufführung über so, die einzelnen getanzten Szenen jedoch verändern sich. Man wird Zeuge einer solistischen Einlage, vorgeführt von der jüngsten Frau, die, aufgepeitscht von der Musik, die immer schneller wird, erschöpft zusammenbricht. Aber die Frauen treten auch in einer beeindruckenden Gruppenchoreografie auf.

Sie bildet den künstlerischen Höhepunkt der Performance. Als Kontakt-Improvisation angelegt, ist sie jedoch alles andere als improvisiert. Nachdem zuvor Kleidungsstücke ins Off gezogen wurden – was als eindringliche Metapher vom menschlichen Ableben verstanden werden kann, und die Frauen eine Klagelitanei anstimmten, gruppieren sich die drei Tänzerinnen zu einem einzigen Organismus. Sie bewegen ihn in immer wieder neuen Kombinationen mithilfe von Hebetechniken durch den Saal. Dabei entsteht der Eindruck, dass sie einander in ihrer Trauer und ihrem Schmerz halten und niemals fallen lassen. Es ist dies eine hochemotionale und aussagekräftige Szene. Zeigt sie doch Menschen in einer Ausnahmesituation, die für sie nur durch gegenseitigen Zusammenhalt zu bewältigen ist. Wie sie sich miteinander verbinden, sich in die anderen fallen lassen, von ihnen gezogen oder geschoben werden, wie sie in ihrem laut artikulierten Schmerz dennoch nicht zu Boden gehen, sondern sich immer und immer wieder gegenseitig stützen und halten, ist auch in höchstem Grade metaphorisch zu lesen.

Die Mischung aus tradierter Musik und neuer Choreografie erscheint in diesem Moment nicht aufgesetzt, sondern ganz natürlich. Sie versetzt das Publikum in die Lage, weit über das tänzerische Geschehen hinauszudenken. Dass sich dabei die Arbeit von Bouchra Ouizguen beinahe automatisch in einem größeren, kulturhistorischen Kontext, wiederfindet, macht ihr Werk auch für andere Disziplinen wie der Musikwissenschaft, der Kulturanthropologie oder der Soziologie interessant.

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