Tschechow als großartige Lachnummer

Der kroatische Autor Bobo Jelčić inszenierte Anton Tschechow. Die Wiener Festwochen zeigten „Galeb/Die Möwe“ und landeten damit zu Recht einen Publikumserfolg.

Kein Garten, kein Sturm, der aufzieht und die Bühnendekoration losreißt. Nur Bühnenarbeiter, die hektisch von links nach rechts und umgekehrt über die Bühne des Theater Akzent laufen. Eine Schauspielerin, die verärgert in Richtung Regieplatz blickt, weil die Mitarbeiter dort offenbar laut Radio hören. Ein Schauspieler, der gleich nach seinem Auftritt bemerkt, dass seine Kollegin noch nicht da ist und rasch wieder abgeht. Es wird gebohrt, gehämmert und Staub gesaugt. „Galeb/Die Möwe“ von Anton Tschechow präsentiert sich in der Fassung des kroatischen Regisseurs Bobo Jelčić
von Beginn an als Probensituation an einer mittelgroßen Bühne und vermittelt dabei kein bisschen Landschaftsflair, dafür aber umso mehr Humor.

Das Stück, das Tschechow selbst mehr ironisch als sinngetreu als Komödie betitelte, präsentiert sich in der Inszenierung bei den Wiener Festwochen als aktuelle Theaterstudie, in der es dennoch viele Parallelen zum Ursprungswerk gibt. Die Schauspielerin, die beiden Autoren, die Mutter, die in diesem Fall ein Theater leitet, Mascha und der liebeskranke Lehrer, sowie Polina, die Frau eines Gutsverwalters, sie alle finden sich auch bei Jelčić
erkennbar wieder. Und dennoch ist es nicht Tschechows erzählte Geschichte von der Hoffnung der jungen Irina als Schauspielerin zu reüssieren, die hier nacherzählt wird. Der Regisseur, der meist nur eigene Stücke zur Aufführung bringt, zeigt nur den ersten und den dritten Akt und lässt das Geschehen dazwischen und danach ausgeblendet. Dabei verschmelzen jedoch Tschechows Figuren mit dem kroatischen Ensemble in verblüffender Weise.

Der Heiratsantrag des Lehrers an Mascha präsentiert sich zwar als heruntergespulter, auswendig gelernter Tschechow-Text. Ganz ist man sich aber danach nicht sicher, ob denn der großartige Pjer Meničanin nicht doch unsterblich in seine Kollegin Katarina Bistrović-Darvaš verliebt ist. Holprig, ungelenk und ohne jeglichen männlichen Sex-Appeal muss er sich eine Ablehnungstirade von „Mascha“ anhören, in der das Wort „niemals“ gefühlte 50 Mal wie eine Wortsalve gegen ihn geschleudert wird. Boris wiederum ist sich seines Status als anerkannter Hausdramatiker sehr wohl bewusst und schwenkt in seinem Urteil über das Werk von Konstantin erst um, als er bemerkt, dass dies auch Auswirkungen auf sein Weiterkommen an diesem Theater haben kann.

Jelčić, auch für die Bühne und die Kostüme verantwortlich, verwendet ein zerschlissenes Sofa, zwei Fauteuils und einen desolaten Perserteppich, nicht um ein Spiel im Spiel zu inszenieren. Vielmehr ist es ein Spiel, das zeigt, wie ein Spiel entsteht und welche Mechanismen im Theater heute dabei wirksam werden. Da ist an einer Stelle von einem „dekadenten Stück“ die Rede, über das sich alle Beteiligten, außer der hasenbeohrten Schauspielerin und dem jungen, hochgewachsenen Autor, beschweren. Krešimir Mikić, jung, hochgewachsen und ein Ausnahmetalent im komischen Fach, ist zugleich so etwas wie ein Vermittler zwischen dem Ensemble und dem Publikum. Als Jungautor Konstantin lernt er Ablehnung und Speichelleckerei in rascher Abfolge hintereinander kennen. Letzteres jedoch durch ein Kalkül ausgelöst. Denn schließlich möchte Boris, Tschechows erfolgreicher Belletrist in seinem Stück, die Mutter von Konstantin für sich gewinnen. Sein plötzlicher Gesinnungsschwenk drückt sich durch einen pseudointellektuellen Kommentar zum „Nichts“ seines jungen Kontrahenten aus. Umgehend stimmen auch alle anderen eine Lobeshymne auf das revolutionäre Werk an und bitten die Schauspielerin  um eine zweite Vorführung.

Scharf analytisch stellt der Regisseur das herkömmliche Regietheater, das sich Dramen bedient, um daraus Unterhaltung zu schaffen, auf den Prüfstein und impft dem Stück durch seine überzeichneten Figuren einen Humor ein, den man nestroyhaft bezeichnen könnte. Schelmisch, stets die eigene Figur hinterfragend, sind sich die Hauptakteure Boris und Konstantin ihrer sozialen Verpflichtungen und der ihnen zugewiesenen Lebensrollen bewusst. Der eine nutzt das Establishment für seine Zwecke, der andere rebelliert dagegen permanent. Schwarz und Weiß und nichts dazwischen unterhält das Publikum immer am besten. Das Licht bleibt im Zuschauerrraum beständig an, der Austausch mit den Spielenden ist permanent gegeben. Bis hin zu einer Szene, in welcher aufgrund technischer Probleme eine 2minütige Unterbrechung angekündigt wird. Drei Männer aus dem Publikum müssen schließlich das Mobiliar wieder an seinen angestammten Platz zurückstellen, dann geht´s munter weiter. Die Hoffnung, die bei Tschechow eines der Leitmotive darstellt, sie schrumpft bei Jelčić beinahe ins Unmerkliche. Auch weil in vielen Szenen Slapstickelemente eingebaut wurden, die das Publikum zu Lachstürmen hinreißen.

Die Frage, wie hoch denn die Gagen heute beim Theater seien, bleibt unbeantwortet. Auch, ob Mascha ihren um die Ehe bettelnden Lehrer schließlich doch erhören wird. Eine gute Figur zu machen, und sei es auch nur durch gezierte Sprünge, versucht Jadranka Đokić in der Rolle von Irina wahrlich umwerfend. Der kurz dem Publikum präsentierte Sack mit der Aufschrift „Festival d´automne Paris“ ist ein zarter Hinweis auf die Hoffnung, vielleicht der gesamten Truppe, dort auftreten zu dürfen und weit außerhalb der Grenzen ihrer eigenen Heimat zu Erfolg zu gelangen. Ein wunderbarer Regieeinfall, der Tschechows Idee vom kommenden Glück nicht auf den Punkt, sondern auf eine simple Tragtasche bringt. Ninas kofferschleppender Abgang mit dem Rest der Truppe veranlasst schließlich Konstantin „Kostja“, sich das Leben zu nehmen. Tollpatschig, wie er sich zuvor gebärdete, griff er wahrscheinlich sogar aus Versehen zur richtigen Waffe und nicht zur Schreckschusspistole, die wenige Augenblicke vorher schon für einige lauter Knaller gesorgt hatte. Ein Plumpser hinter der Bühne ist zwar hörbar, aber war er es wirklich, der sich hier selbst tötete? Was erwartet das Publikum vom Theater, was müssen Schauspielerinnen und Schauspieler auf sich nehmen, um überhaupt spielen zu dürfen? Die Gummimöwe, die nach einem Schuss hart auf die Bühne fällt, sie ist bei Tschechow das Sinnbild einer Freiheit, die es eigentlich nicht gibt. Bei Jelčić mutiert sie zu einem Relikt, mit dem er das Regietheater zu Grabe trägt. Auch wenn er, Einbeziehung des Ensembles hin oder her, hier allerbestes Regietheater macht.

Das brillante Ensemble überzeugte ebenso wie die intelligente Regie. Jelčić legte über Tschechows Drama eine zweite, aber durchlässige Ebene, von der man mühelos in jedem Augenblick gedanklich vom Heute auf das Gestern springen konnte. So leichtfüßig es vielleicht auch ausgesehen haben mag, das war Theater von großer Klasse.

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