Vom Kommen und Gehen des Menschen

Vom Kommen und Gehen des Menschen

Aurelia Gruber

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14.

Februar 2022

In die Oper zu gehen bedeutet, einer in Musik gegossenen Erzählung beizuwohnen, die von unterschiedlichen Lebensentwürfen und -schicksalen handelt. Das Musiktheater „Morgen und Abend“ von Georg Friedrich Haas, nach einem Libretto von Jon Fosse, ist allerdings anders. Das zeigte sich bei der bejubelten Premiere und zugleich österreichischen Erstaufführung in der Grazer Oper.

Haas zählt zu den wichtigsten und einflussreichsten Komponisten seiner Generation und kann nicht nur mit einer stattlichen Anzahl von Orchester- und Ensemblewerken aufwarten, die vorrangig bei den internationalen Festivals für moderne Musik aufgeführt werden. „Morgen und Abend“ ist bereits sein neuntes Bühnenwerk und das zweite, das auf einem Text des norwegischen Autors mit österreichischem Wohnsitz basiert.

Fosse gilt unter Literaturkennern als Anwärter auf den Literaturnobelpreis. In seinem Roman „Morgen und Abend“ stellt er keine detaillierte Biografie eines Mannes vor, sondern konzentriert sich lediglich auf die Beschreibung seiner Geburt und seines Todes. Auch in der Bühnenfassung bleibt dieses verkürzte Lebensdestillat erhalten und reicht dennoch für einen spannenden und emotionsgeladenen Operngenuss.

Mit wuchtigen Paukenschlägen wird jener Vorgang angekündigt, der einen Menschen aus dem sicheren, mütterlichen Uterus in eine Welt katapultiert, die sich auf der Bühne als überaus kalt und unwirtlich darstellt. Der musikalische Auftakt beschreibt mit großer Dramatik jenes „ungefragt-in-die-Welt-geworfen-Werden“, wie Martin Heidegger es definierte, das mit jeder Geburt einhergeht. Graue Asche oder unfruchtbare Erde bedeckt den Boden der Bühne, eine hölzerne Umrandung, die an den Bug eines größeren Schiffes erinnert, bildet die Begrenzung. Der Fischer Olai, ein Mann mittleren Alters – dargestellt von Cornelius Obonya – erwartet in dieser dystopischen Umgebung die Niederkunft seiner Frau und wechselt dabei in seinen Emotionen von panisch ängstlich, empathisch mitleidend bis hysterisch lachend. Die Art und Weise, wie Fosse die Gedanken eines werdenden Vaters vermittelt, ist einzigartig und vergleichslos. Obonya lässt – trotz einer Sprechrolle – dennoch seine Stimme mit seinen Rufen und Stöhnen höchst musikalisch mit dem Orchester mitschwingen. Man fühlt seine Empathie mit der Gebärenden, den Schmerz, den er selbst körperlich wahrnimmt, man taucht ein in seine Hilflosigkeit, die darin gipfelt, dass er vor Angst eine Zeitlang braucht, um seinen Sohn, den ihm die Hebamme bringt, auch tatsächlich ansehen zu können.

Flirrende Streicher vermitteln das Gefühl eines Schwebezustandes mit höchster Dramatik, ein von der Ferne hörbar werdender Chor verdichtet die bis dahin abseits der Dur-und Mollskalen angesiedelten Klänge, hin zu einem langen, harmonischen Akkord. Dieser, sowie einige Glockenschläge lassen an eine westlich-christlich konnotierte Geburt denken, die immer mit einer metaphysischen Bestimmung verbunden ist. Noch einmal wird dem Chor eine derartige Metapher zuteilwerden – allerdings erst an viel späterer Stelle. Allein wegen dieser Szene wäre es wert, sich diese Oper anzusehen. Sowohl die musikalische Umsetzung als auch die Erzählung eines Geburtsvorganges aus der Sicht eines Mannes sind ein Erlebnis für sich.

Beständige aufstrebende Streicherglissandi – ein kompositorisches Markenzeichen von Haas – werden an einigen Stellen von fast bösartigen Bläserstimmen begleitet und machen deutlich, dass das, was auf den neuen Erdenbürger zukommt, zumindest von Wirrnissen begleitet sein wird.

„Es gibt einen Gott, der ist ganz, ganz weit weg und ganz nah.“ Mit diesem Satz drückt Olai seine Ergriffenheit über die Geburt seines Sohnes, den er Johannes nennt, aus. Auch dieser Satz wird in der Oper noch einmal an späterer Stelle vorkommen.

Normalerweise würde nun die Erzählung über das Leben von Johannes beginnen – nicht jedoch bei „Morgen und Abend“. Durch einen kleinen Regietrick verwandelt sich der Säugling Johannes in einem Augenblick zu einem alten Mann. Zu Johannes, dessen Frau und dessen bester Freund Peter schon gestorben sind und der von seiner jüngsten Tochter fürsorglich täglich besucht wird. Rasch wird klar, dass er sich an seinem Lebensende befindet, denn das, was er sagt, pendelt zwischen Fantasie und Realität.

Kongruent dazu bewegen sich die einzelnen Wände seines Hauses samt schlichtem Interieur über dem Bühnenboden auf und ab, um schließlich ganz zu verschwinden. Während sich der alte Mann wundert, dass sich alles „so leicht anfühlt“ und das Blut aus seinen Fingern und Zehen weicht, springen Kinder um sein Bett und verdeutlichen seine Jugenderinnerungen. Mit dem Auftritt seines Freundes Peter gelingt Foss sogar ein komischer Einschub, denn der sterbende Johannes erklärt, dass es höchst an der Zeit wäre, Peters Haare wieder zu schneiden. Der Autor verweist damit auf Situationen, die Menschen, welche demente Patienten betreuen, bekannt vorkommen. Oft möchten diese Aufgaben ausführen, die sie in ihrer Vergangenheit erledigen mussten, aber nun in keinem Realitätsbezug mehr stehen. Das Duett, das Haas für Peter und Johann schrieb, ist berückend schön und wird, wie schon zu Beginn der Oper, von choralartigen Chorpassagen und Glockenschlägen begleitet.

Einen sowohl musikalisch als auch emotional eindrucksvollen Auftritt hat Signe, die Tochter von Johannes in einer Szene, in welcher sie beschreibt, dass „etwas Kaltes auf sie zugekommen und durch sie hindurchgegangen“ sei. Diese Schilderung deckt sich mit Berichten von Hinterbliebenen, die das Ableben von ihnen nahestehenden Personen körperlich spüren konnten, ohne beim Sterbemoment tatsächlich dabei gewesen zu sein.

Jener Moment, in welchem Johann von Peter zu seiner letzten Reise geholt wird, erfährt eine schöne und zugleich kluge Regieumsetzung. Peter lässt Johann auf einem Stuhl Platz nehmen, stellt sich direkt hinter ihn und beginnt diesem die Arme so zu bewegen, als würde er in einem kleinen Boot die Ruder bewegen. Ad hoc denkt man an die antike Überlieferung von Charon, der die verstorbenen Seelen auf dem Fluss Styx ins Jenseits begleitete.

In der letzten Szene, in der sich Johanns Tochter an seinem Grab befindet, spricht sie noch einmal jenen Satz, den ihr Großvater bei der Geburt seines Sohnes zitierte: „Es gibt einen Gott, der ist ganz, ganz weit weg und ganz nah.“ Die Videoprojektionen von zarten, symmetrischen Nebelschwaden, die von einem hellen Licht bekrönt werden und die letzte Feststellung von Johann, der im Loslassen von der Welt auf diese hinunterzusehen scheint, lassen den Tod als etwas erscheinen, vor dem man sich nicht fürchten muss. „Da unten ist es nicht schön“, singt Johann und vermittelt damit ganz den Eindruck, sich in einem Zustand zu befinden, der besser ist als jener, den er auf der Welt vorgefunden hatte.

Roland Kluttig agierte souverän am Dirigentenpult, was besonders bei zeitgenössischen Partituren hervorgehoben werden muss, ist es doch nicht jedermanns Sache, diese treffsicher dem Orchester zu vermitteln. Immo Karamans Regie, Rifail Ajdarpasics Bühnenumsetzung und Fabian Poscas Kostüme erscheinen wie aus einem Guss. Ebenso wie die Lichtgestaltung von Daniel Weiss und das Videodesign von Philipp Fleischer.

Cathrin Lange singt sowohl die Amme als auch die Tochter von Johannes und beeindruckt mit ihrem sehr klaren und festen Timbre bis hin zum letzten, in sphärische Höhen entrückten Ton, der zugleich der letzte der Aufführung ist. Markus Butter ist wohl eine Johann´sche Idealbesetzung. Seine Präsenz, die sich über den gesamten zweiten Teil der Aufführung erstreckt, bleibt ein starker Erinnerungsmoment. Christina Baader als seine Frau Erna und Matthias Koziorowski als Freund Peter ergänzen das Ensemble auf der Bühne mit genauso beeindruckenden Leistungen wie die zuvor Genannten.

Das Publikum dankte mit reichlichem Applaus. Georg Friedrich Haas schuf eine Oper, die trotz der Schwere ihres Themas Suchtcharakter bereithält. Dies vor allem, da seine Musik, die zwischen lichten, sphärischen Höhen und brachial-brutalen Klangmomenten oszilliert, alles aufweist, was hörenswert ist.

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