Fliegen müssen und fliegen dürfen sind zwei paar Schuhe

„Ikarus – oder der Traum vom Fliegen“ ist ein Tanztheater für Kinder ab 6 Jahren. Erik Kaiel, in Innsbruck geboren, aber in den USA aufgewachsen und seit einiger Zeit in den Niederlanden beheimatet, schuf dafür nicht nur eine eigene, spannende Geschichte, sondern auch die Choreografie dazu.

Mit Ikarus verbindet man die antike Sage jenes Jungen, der trotz Warnung zu nah an die Sonne flog, weswegen ihm seine mit Wachs zusammengehaltenen Flügel schmolzen und er daraufhin abstürzte. Kaiel verwendet diese Vorlage nur mit einem entfernten Nachhall. Bei ihm geht es viel mehr darum, dass der Mensch in seinem Tun beflügelt werden kann – oder auch behindert.

Dies zeigt er exemplarisch am Beispiel eines Mädchens, das wohl behütet bei seinen Eltern aufwächst. Maartje Pasman vollführt zu Beginn mit ihren Händen in der Luft geschäftige Tätigkeiten, die man nicht sofort deuten kann. Erst im Laufe der Vorstellung wird klar, dass sie damit ihren Alltag markierte. Die Beschäftigung mit Dingen, die man um sich hat, um die man sich kümmert, einen Tagesablauf, in den man wie selbstverständlich eingebunden ist, das ist es, was sie vorführt. Mit den Eltern am Tisch zu sitzen, aber sich auch alleine die Zeit vertreiben, wenn diese bei der Arbeit sind, wird ebenso gezeigt. Nichts Spektakuläres also, sondern ein Geschehen, das alle Kinder nachvollziehen können.

Ein weißes Ruder, das die junge, zierliche Tänzerin gleich von Beginn an in ihrem ersten Auftritt verwendet, wird im Laufe der Geschichte mehrere Bedeutungsebenen erhalten. Es wird damit jedoch nicht nur gerudert, sondern auch darauf geschlafen oder mit ihm gekämpft. Nicht zuletzt symbolisiert es jene materiellen Dinge, die uns umgeben, die unser vertrautes Umfeld bilden. Mit einem Wort – Besitz. In Kaiels Inszenierung steht das Ruder aber auch als Symbol für alles Vertraute an das wir uns gewöhnt haben und das wir nicht missen möchten.

Steffi Jöris und Rino Indiono tanzen Mutter und Vater, die nach der anfänglichen Harmonie versuchen, aus ihrer beengten Umwelt auszubrechen. Die düstere Licht- und Soundführung dieser Szene macht klar, dass sie sich an einem Ort befinden, der seinen Menschen keine Freiheit lässt. „Ich wollte die Geschichte nicht in ein bestimmtes Land versetzen“, meinte Kaiel bei einem Interview. Die kleine Familie könnte in Nordkorea ebenso zuhause sein wie in Syrien oder einem anderen Land, in dem für die Menschen der Begriff Freiheit abstrakt bleibt. Im Kniestand sitzend, hieven sich Vater, Mutter und Kind mit Schwung immer wieder hoch, scheitern aber ein ums andere Mal, einen festen Stand zu erreichen. Da helfen auch ihre angedeuteten Flügelschläge nichts.

Die Bedrohung nimmt schließlich so große Ausmaße an, dass die Familie gezwungen ist, ihr Heim zu verlassen. In einer langen Passage, während der das Licht heruntergefahren wird und in der sich alle permanent an den Händen halten, werden die drei förmlich durch den Bühnenraum geschleudert. Auf der Flucht sein, das wird hier klar, hat nichts mit Kuscheln zu tun. So werden sie von imaginären Wellen gepeitscht, die ein kleines Boot ins Schleudern bringen, man kann sich aber auch andere Umstände vorstellen, die ihnen in diesem Moment alles abverlangen, um beisammen bleiben zu können.

Der Eintritt in ihr neues Leben ist kein leichter. Das, was die kleine Gruppe in ihrer neuen Heimat erwartet, hat nichts mit einer schlagartigen Verbesserung ihrer Lebensumstände zu tun. Die auf sie einwirkende Gewalt ist zwar gewichen, aber die Hilflosigkeit erfasst nicht nur das Mädchen, sondern auch die Erwachsenen. Es dauert eine lange Strecke mit einem schönen, zeitgenössisch getanzten Pas de deux von Jörris und Indiono, bis sich das Paar endgültig wieder gefunden und Vertrauen in seine gemeinsame Zukunft gefasst hat. Maartje Pasman hingegen sitzt bockig und traurig inmitten eines aus Life-Westen errichteten Schutzwalls. Bis sie wieder glücklich wird, bedarf es ein Weilchen, aber der Schluss in der Geschichte um den Traum vom Fliegen, stimmt richtig versöhnlich.

Ikarus oder der Traum vom Fliegen im Dschungel Wien (c) Ani Antonova

Ikarus oder der Traum vom Fliegen im Dschungel Wien (c) Ani Antonova

Nicht nur, dass sich alle wieder in ihrem Gleichgewicht befinden und ihre Beziehungen untereinander wieder aufnehmen können. Es geschieht auch noch ein kleines Wunder: Denn das mit dem Fliegen geht ja dann doch!

„Ikarus – oder der Traum vom Fliegen“ lebt von einer tollen und kurzweiligen Choreografie, in der die Bewegungen den Ausdruck der Sprache übernehmen. Die musikalische – auf den Punkt stimmende – Untermalung, aber auch die richtige Taktung der Szenen und allen voran die Leistung der drei Tanzenden ergeben eine höchst gelungene Vorstellung. Sie bietet nicht nur die Möglichkeit mit Kindern und Jugendlichen über Aufbrüche im Leben zu sprechen. Bei ihr darf man auch tief in den zeitgenössischen Tanz eintauchen. In eine Bewegungsform, mit der man gar nicht früh genug in Berührung kommen kann, um Ängste davor gar nicht erst aufkommen zu lassen.

Termine für weitere Aufführungen auf der Seite des Dschungel Wien.

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