Viel und wenig und doch von allem mehr als genug

Viel und wenig und doch von allem mehr als genug

Michaela Preiner

Foto: ( yako.one )

13.

Juli 2022

Am Eröffnungswochenende zeigte das Festival Impulstanz neben anderen Produktionen „Dances for an actress“ von Jérôme Bel und „Vollmond. Ein Stück von Pina Bausch“. Wenn man diese beiden Produktionen als Kostprobe für das ansieht, was noch kommen mag, darf man sich mit Fug und Recht auf die nächsten Tanz-Wochen in Wien freuen.

„Vollmond. Ein Stück von Pina Bausch“

Unterschiedlicher hätten sie nicht sein können – aber auch nicht ergänzender. „Vollmond“ – gezeigt auf der großen Bühne des Burgtheaters, performt vom Tanztheater Wuppertal Pina Bausch – wartete mit jeder Menge „Theaterzauber“ auf. Das vor nun schon 16 Jahren uraufgeführte Stück benötigt insgesamt 12 Tanzende, eine Bühnentechnik, die es regnen lassen kann und auch die Möglichkeit hat, einen Teil des Bühnenbodens zu fluten. Bausch startet mit einer schwülen Sommernachtstimmung, in der junge Männer und Frauen in einer beständigen Abfolge von kurzen Szenen miteinander interagieren. Dabei fällt auch der eine oder andere Satz in Richtung Publikum, meist mit einer feinen Prise Humor gewürzt.

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„Vollmond“ (Foto: © yako.one)

Die Choreografie ist dabei, wie auch die Kostüme, geschlechtsdualistisch aufgebaut. Während die Männer überwiegend in langen Hosen und mit nacktem Oberkörper ihre Kraft tänzerisch bis akrobatisch demonstrieren, kann man bei den Frauen mit hüftlangen Haaren und weich fließenden Kleidern das typische Bausch-Bewegungsrepertoire erkennen. Oszillierend zwischen Gesten der gewünschten Kontaktaufnahme und solchen, bei denen der Rückzug ins eigene Innere immer wieder gut erkennbar ist, wechseln dabei ab. Das Sichtbarmachen von Gefühlszuständen kommt wesentlich häufiger bei den Tänzerinnen vor als bei ihren männlichen Kollegen. Zwischengeschlechtliche Begegnungen sind häufig von Spannungsmomenten geprägt. Sich lieben und sich hassen, voneinander nicht lassen können und den anderen mit Verachtung strafen, werden ebenso visualisiert wie Momente, in welchen die Frauen die Männer dominieren. Bis hin zu einer Anweisung, wie denn der BH einer Frau schnellstmöglich geöffnet werden muss, um den prickelnden Moment der erotischen Erwartung nicht zu stören.

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„Vollmond“ (Foto: © yako.one)

Trotz einer intensiven choreografischen Arbeit, die dem Ensemble Extremes abverlangt, gibt es jedoch noch einen weiteren, stummen und bewegungslosen Akteur auf der Bühne, der die Aufmerksamkeit des Publikums ebenso auf sich zieht. Es ist dies ein mächtiger Felsbrocken, der von einem Gewässer unterhöhlt ist. Das Wasser strömt besonders im zweiten Teil nach der Pause beinahe unablässig wie ein Dauerregen auf die Bühne herab und wird einmal sogar zum uneingeschränkten Bühnenstar. Von den Männern in Akkordarbeit in Kübeln geschöpft, wird es von ihnen in kraftvollen Stößen von allen Seiten gegen den Felsbrocken geschleudert. Der optische Reiz, der dabei entsteht, kann gut als „Wasserfeuerwerk“ beschrieben werden, ohne dass sich dabei ein Gegensatz öffnet. Denn die explosionsartigen Wasserkaskaden ähneln optisch jenen von Raketen, die, einmal explodiert, in feinem Feuerregen in Richtung Erde prasseln. Diese visuell starke Szene hat Suchtcharakter und brennt sich in die Erinnerung genauso ein, wie die klitschnassen Kostüme der Tänzerinnen und Tänzer und bilden gemeinsam ein unauslöschbares Wiedererkennungspaar.

„Dances for an actress“

Arbeitete Bausch in ihrem Stück mit einem extrem hohen technischen Aufwand, kommt „Dances for an actress“ mit dem Stromverbrauch eines Staubsaugers, der 1 Stunde läuft, aus. So erzählte es zumindest die belgische Schauspielerin Jolente De Keersmaeker, Schwester der Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker, die mit ihren Choreografien auch häufig Gast in Wien ist. Jolente wurde von Jérôme Bel überredet, ein Tanzstück zu erarbeiten. Dass es sich dabei um kein übliches handelt, dürfte allen klar sein, die schon Arbeiten von Bel gesehen haben. Perfektion und schöner Schein – all das ist es, was Bel seinen Künstlerinnen und Künstlern nicht abverlangt. Hingegen eine große Portion Mut zur Imperfektion und zur Offenbarung sowohl des Könnens als auch des Scheiterns dem Publikum gegenüber. Der französische Choreograf ist so etwas wie ein Vordenker seiner Zunft. Das, was die Gesellschaft bewegt, denkt er bühnentauglich weiter und hinterfragt dabei, was gesellschaftspolitisch relevante Themen für die Aufführungspraxis bedeuten könnten.

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„Dances for an actress“ (Foto: Herman Sorgeloos)

Aktuelles Beispiel ist die derzeit verbreitete Verweigerung, Programmhefte zu drucken. Aus ökologischen Gründen werden diese im Moment bei Aufführungen rund um den Erdball eingespart, siehe auch „Wiener Festwochen“ – Bel fand eine eigene Methode, dennoch dem Publikum ein wenig Einblick in das Geschehen vorab zu geben. Durch eine mündliche Einführung von Jolante selbst, die das normalerweise Gedruckte, inklusive der Sponsoren- und Partnerliste, dem Publikum erzählte. Zwangsläufig ging dies mit einer gewaltigen Prise Humor einher, einem Kennzeichen, aber auch einem subtilen Hinweis, dass diese im Moment aufpoppende Praxis wohl auch für Bel nicht wirklich der Weisheit letzter Schluss ist.

Nach diesem Prolog, ausgelöst durch das allgemeine ökologische Desaster, dem wir im Moment nicht entkommen können, präsentierte die tanzende Schauspielerin eine längere Szene, in welcher sie Proben ihres klassischen Ballettrepertoires gab. Sie schöpfte dabei aus einem Bewegungsfundus, den sie während ihres Ballettunterrichts im Alter zwischen 6 und 14 Jahren erarbeitet hatte. Dass diese Zeit für sie kein Spaß gewesen sein dürfte, merkt man ihr auch heute noch an. Die einzelnen Tanzschritte mit hoher Konzentration ausgeführt, Sprünge nur so angesetzt, dass keine Verletzungsgefahr besteht und eine Körperbeherrschung, die tanzen nicht lust– sondern eher qualvoll erleben lässt – all dies kann als Beweis gelten, warum Jolante nicht den Beruf einer Tänzerin ergriffen hat.

Von diesen ersten Eindrücken spannt sie einen weiten Bogen von unterschiedlichen Improvisationen verschiedener Choreografie- und Tanzgrößen des 20. Jahrhunderts. Den Beginn macht ein Chopin-Prélude, ursprünglich choreografiert und getanzt von Isadora Duncan. Anhand dieses Beispiels zeigt sie auch eine jener Methoden auf, mit welcher sich Tänzerinnen und Tänzer die Bewegungsabläufe merken können. Das Verbalisieren von Bewegungsabläufen ist ein bis heute gängiges Mittel, sich Schritt- und Bewegungsabfolgen zu merken.

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„Dances for an actress“ (Foto: Herman Sorgeloos)

Der Wechsel zu einer Pina-Bausch-Improvisation, angelehnt an ihre Arbeit „Café Müller“ aus dem Jahr 1978, leitet sie durch das stumme Ablegen ihrer Kleidung ein. Das Eintauchen in jene zerbrechliche Gestalt, die nackt vor dem Publikum zu den Klängen von Henry Purcells „Didos lament“ tanzt, gehört zu den eindrücklichsten Momenten der gesamten Performance. Das Sichtbar- und Spürbarwerden der Fragilität des menschlichen Körpers und dessen Seele zugleich entfaltet einen unglaublichen, emotionalen Zauber. Welch großer Unterschied zum pompösen „Vollmond“-Stück derselben Choreografin tut sich hier auf. Wollte man anschaulich erklären, dass technischer Einsatz nicht mit der emotionalen Bewegung des Publikums korrelieren muss – diese beiden Stücke wären Lehrbeispiele dafür.

Welch toller, großartiger Einfall, diese Bausch-Choreografie von Rihannas Song „Diamond“, abzulösen. Ausgestattet mit einem pulsierenden Rhythmus und einem lebensbejahenden Drive, reißt die Musik allein schon in wenigen Augenblicken das Publikum mit sich. Der immer noch nackte Körper hat nun aber rein gar nichts mehr von Zerbrechlichkeit an sich, sondern strahlt pure Lebensenergie, unbändige Lebensfreude und Tanzpower pur aus. Sosehr, dass man am liebsten mittanzen möchte.

Nach einer intensiven Mimikstudie, gewidmet dem Butho-Großmeister Ono Kazuo, bei der die Performerin ihre enorm starke mimische Ausdruckskraft zeigen kann, landet sie in der zeitgenössischen Tanzperformance. Dafür beschreibt sie, auf der Bühne sitzend, mit einem Laptop auf ihrem Schoß, ein YouTube-Video, dessen Inhalt sie nur wörtlich wiedergibt. Allerdings wäre „Dances for an actress“ keine Produktion von Jérôme Bel, würde er mit der kommenden „John-Travolta-Nummer“ nicht auch selbst auf die rein verbal-reflektorisch reduzierte Tanzwiedergabe mit viel Humor antworten. Die Art, wie Jolente De Keersmaeker langsam beginnt, während ihrer Beschreibung die berühmte „Saturday Night-Fever-Szene“ mitzutanzen und sich dabei beständig hineinzusteigern, ist einfach umwerfend witzig.

Dass sie das Ende eine selbst gestaltete Choreografie zu einer Renaissance-Musik mit starkem, repetitivem Rhythmus und südländischem Flair beisteuert, rundet die Performance auf gelungene und abermals hochintelligente Weise ab. Wie stark ist nun jener Gegensatz zu spüren, den Keersmaeker mit ihrer klassischen Ballettimpro zu Beginn und dieser eigenen, kraft- und lustvollen Choreografie am Ende von „Dances for an actress“ ausdrückt! Mit dieser eigenen Choreografie ist sie sichtbar an einem Punkt angelangt, an dem man ihr abnimmt, dass Tanzen etwas ist, das auch ihr Spaß macht, ja ihr offenbar sogar im Blut liegt. Bels Stück offenbart durch seine geniale Protagonistin Jolente De Keersmaeker eine eigentlich zutiefst simple Erkenntnis: Tanzen ist eine menschliche Ausdrucksmöglichkeit, die jeder und jede nach seinen Bedürfnissen gestalten darf und soll. Ob man dabei eine vorgegebene Choreografie exakt wiedergeben möchte, eine Improvisation auf diese tanzt oder ob man seine eigenen Ideen umsetzt – alles ist möglich, alles ist erwünscht, nichts ist verboten. Welch wunderbare Einsicht auch für Menschen, die sich jahrzehntelang mit diesem Medium beschäftigen. Merci Jolente und chapeau Jérôme.
 

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