Das Dschungelbuch – neu gedacht

Das Dschungelbuch – neu gedacht

Michaela Preiner

Foto: ( Ambra Vernuccio )

24.

Juli 2022

Akram Khan schuf mit „Jungle Book reimagined“ eine inhaltlich überarbeitete Geschichte des Klassikers von Rudyard Kipling. Als großes Tanzspektakel angelegt, wird es sicherlich die Bühnen der Welt erobern.

Wer kennt nicht die Geschichte des Findelkindes Mowgli, das im indischen Dschungel unter Tieren aufwächst? Jene Geschichte von Rudyard Kipling, die als Animationsfilm in den Disney-Studios verfilmt wurde?

Nun gibt es „Jungle Book reimagined“ von Akram Khan. Die österreichische Uraufführung fand im Rahmen des Festivals Impulstanz am Burgtheater statt. Der britische Tänzer und Choreograf, dessen Familie aus Bangladesch stammt, hat als kleiner Junge Mowgli in einer indischen Tanzaufführung gespielt. Diese Erinnerung, aber vor allem „die drei tiefgehenden Lehren des Stückes“, wie er es nennt, haben ihn so tief beeindruckt, dass er jetzt, nach vielen Jahren, ein neu interpretiertes Dschungelbuch mit seiner Kompanie auf die Bühne bringt. Der Hauptplot der Geschichte bleibt in etwa gleich, jedoch ist „Mowgli“ in seiner Version ein Mädchen, das aufgrund einer Umweltkatastrophe von ihrer Familie getrennt wird. Dargestellt wird sie zart und zerbrechlich, am Ende jedoch stark und voller Hoffnung für ihre Zukunft, von Pui Yung Shum. Auch sie verbringt, wie ihr männliches Vorbild, eine Zeit unter Tieren, die sich ihrer annehmen, um sich letztlich jedoch wieder auf die Suche nach Menschen zu machen.

Viele von Akram Khans Inszenierungen beschäftigen sich mit dem desaströsen Zustand unserer Welt. Die Auseinandersetzung mit dem, was auf unserer Erde zerstört wurde und noch immer wird, zählt zu einem seiner zentralen Themen. Und so beginnt seine Geschichte auch mit einem wilden Weltuntergangszenario. Steigendes Wasser, untergehende, zerstörte Städte, auf Flößen flüchtenden Menschen, all das wird durch computeranimierte Zeichnungen auf der Bühne sichtbar. Obwohl sie ursprünglich nur aus Gründen der Ökonomie und einer möglichst geringen Umweltbelastung anstelle eines haptischen Bühnenbild geplant worden waren, tragen die Darstellungen von Miriam Buether maßgeblich zum Erfolg des Abends bei. Zart und zugleich aussagekräftig, voller Poesie und dennoch real schuf sie eine Welt der Erinnerung und des aktuellen Geschehens zugleich. Fliegende Vögel, singende Wale, zu Boden fallende Blätter – all das versetzt das Geschehen ohne großen Umbau in wechselnde Umgebungen. Der Einsatz dieser Technik auf der Bühne und im Tanz ist nicht neu, wird hier jedoch exzessiv verwendet. Sosehr, dass man sich an gewissen Stellen im Londoner West-End oder in einer Broadway-Produktion wähnt.

Khans Dschungelbuch kommt – entgegen allen Gepflogenheiten beim Tanz – jedoch nicht ohne Sprache aus. Sie ist vielmehr ein genauso zentraler Bestandteil der Inszenierung, wie auch die Visuals. Der an die Jetztzeit adaptierte Text stammt von Tariq Jordan. Die Stimmen der einzelnen Figuren, wie von Bagheera dem Panther, oder Balu dem Bären, kommen vom Band. Das Faszinierende daran ist, dass jede einzelne tänzerische Bewegung von diesen Stimmen getragen und unterstützt wird. Diese Kombination verstärkt, durch den Einsatz individueller Bewegungsmuster, die Erkennbarkeit der Figuren. Die Dialoge der einzelnen Tiere werden immer wieder von reinen Tanznummern abgelöst, unterlegt mit einem schlüssigen Sound. Es ist eine Freude zuzusehen, wie Holly Vallis als Bagheera geschmeidig um Balu oder Mowgli schleicht. Es macht einfach Spaß, wenn Tom Davis-Dun den „Tanzbären“ mimt und dabei völlig außer Rand und Band gerät. Auch, dass man sich vor der Schlange Kaa nicht fürchten muss, ist wunderbar gelöst und wird vor allem das junge Publikum besonders ansprechen.

Die Kompositionen weisen starke Anleihen unterschiedlichster Herkunft auf. Ob Philip Glass‘ „Koyaanisqatsi – das er für den gleichnamigen Film von Godfrey Reggio schuf, oder ob es breit angelegte, symphonische Rockinterpretationen sind – wie man sie von Vangelis kannte, ob Zitate aus einem christlichen Kyrie Eleison oder Klänge wie aus einem Weltmusikalbum – die englische Komponistin Jocelyn Pook schöpfte für ihren Soundtrack aus dem Vollen. Ihre Kompositionen gehen ins Ohr und unterstützen das Geschehen wie eine gute Filmmusik höchst emotional.

Die Tier-Rotte, die sich um Mowgli kümmert, wird durch wechselnde Beleuchtung einmal in dramatisches Rot getaucht, dann wieder in kühles Blau. Die Bewegungen der Affen, des Panthers und des Bären imitieren deren Gang oder auch ausgelassenes Gehabe. Wenn sie sich jedoch so benehmen möchten wie die Menschen, dann tanzen sie, wie man es aus zeitgenössischen Produktionen kennt. Mowgli selbst bleibt über lange Strecken eine Beobachtende, greift kauf ein. An ihrer Seite ist oft der „Affen-Outcast“ anzutreffen. Er wird beängstigend, unergründlich, aber auch voller Empathie von Max Revell getanzt. Greta Thunbergs „how dare you are!“ – aus ihrer Rede vor den Vereinten Nationen aus dem Jahr 2019, aber auch Berge von Kartons, wie sie Online-Riesen quer über die Welt an konsumgewöhnte Menschen verteilen, sind nur zwei von mehreren Verweisen auf die Problematiken, die uns im Moment schier zu erdrücken erscheinen.

Trotz aller Weltuntergangsstimmung und düsteren Aussichten wünscht sich Akram Khan, dass seine Inszenierung auch von Kindern besucht wird. Sie mit dem zu konfrontieren, was wir „Alltag“ nennen, meint er, sei notwendig. Vor allem aber sind es die zuvor schon angesprochenen drei Lehren, die ihm wichtig sind, weiterzugeben. Die Lehre von der Gemeinschaft der Arten, die gegenseitige Abhängigkeit von Mensch, Tier und Natur und die Bedeutung von Familie und unser menschliches Bedürfnis dazuzugehören.

Der Choreograf hat ein Händchen für große Inszenierungen. Das von seiner Kompanie und einer großen Anzahl von Co-Produzenten geschaffene Spektakel wird, aller Voraussicht nach, die großen Bühnen auf der Welt erobern. Dass er dadurch auch viele Menschen für zeitgenössischen Tanz begeistern wird, die bislang nicht tanz-affin waren, ist ein nicht zu unterschätzender Nebeneffekt.
 

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