Das Wichtige ist, sich an das Wichtige zu erinnern

Der unbekannte Junge, der nur einen beschränkten Sprachschatz vorweisen konnte und behauptete, sein Leben bei Wasser und Brot im Dunkeln verbracht zu haben, gab seiner Umwelt Rätsel auf. Laut einem Brief 1812 geboren, tauchte Kaspar Hauser 16-jährig in Nürnberg auf, um dort schließlich bei seinem ihm zugewiesenen Vormund wie ein Ausstellungsstück von der Bevölkerung beäugt zu werden. Um sein kurzes Leben, er starb mit 21 Jahren an einer Stichverletzung, ranken sich Legenden, die viele Künstler inspirierten.

Eine Regie mit Anleihen an die 60-er Jahre

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Kaspar Hauser im Schauspielhaus Regie Lisa Lie (c) Matthias Heschl

So auch Lisa Lie, eine norwegische Regisseurin und Autorin, die im Schauspielhaus mit „Kaspar Hauser oder die Ausgestoßenen könnten jeden Augenblick angreifen!“, ihr Österreich-Debut gab. Bekannt für ihr Cross-over von Theater, Bildender Kunst und Pop-Kultur setzt sie diese Regiearbeit verdächtig nahe an ehemals provokante Arbeiten der 60er Jahre, als Nacktheit, offen gezeigte Brutalität oder Chaos auf der Bühne noch für Publikumsentrüstung sorgten. In ihrer Inszenierung jedoch entrüstet sich niemand mehr, schreit niemand mehr auf, vielleicht auch deswegen, weil die Kopulationsszenen, von denen es jede Menge in der Inszenierung gibt, brav in hautfarbener Unterwäsche vollführt werden. Und auch der Rest ist nicht schockierend, aber auch nicht sonderlich erkenntnisreich oder emotional packend. Die Regisseurin lässt das 4-köpfige Ensemble, drei Männer und eine Frau, abtanzen, dass die Schwarten krachen. Sie dürfen zum Teil herumkommandieren, was das Zeug hält, sich tierisch benehmen und ab und zu auch über die hehre Kunst palavern, die über allem steht, vor allem über Menschen, die wie Tiere behandelt werden.

Ein Monolog pro und contra Kindsweglegungen

Ein großer, weiß getünchter, verwachsener Baumstamm (Bühne und Kostüme Maja Nilsen) steht mitten auf der Bühne und bildet Podest und Unterschlupf zugleich. Vassilissa Reznikoff darf, darauf sitzend, als junge Mutter mit einem Tarncape bekleidet, einen langen Anfangsmonolog halten. In diesem wechselt sie zwischen unterschiedlichen Identitäten hin und her, dass einem schwindlig werden kann. Gerade noch Frau eines Herrschers, sammelt sie in der nächsten Minute – laut ihrer Erzählung – Dreck aus Mülleimern. Gerade noch Verfechterin von übermenschlicher Mutterliebe, kippt sie im nächsten Moment ins Gegenteil und möchte ihre Schlangenbrut so schnell wie möglich loswerden. Auf diese Weise verkörpert sie nicht eine bestimmte Frau, sondern mehrere zum Teil höchst gespaltene Persönlichkeiten. Diese können zwischen dem Akt der Kindesweglegung und der Beschwörung, so etwas nie tun zu können, völlig emotionslos wechseln. Vielleicht lässt Lie diese Mutter die Sorgen und Nöte vieler junger Frauen artikulieren, die sich angesichts einer ungewollten Schwangerschaft die Frage stellen, ob sie das Neugeborenen weggeben sollen. Vielleicht sind es die Sorgen all jener, die missgebildete Kinder zur Welt bringen und sich vor dem gesellschaftlichen Druck der Konformität fürchten. Annahmen hierzu gibt es viele, denn der Text ist offen dafür. Der Kaspar-Hauser-Mythos, den der Titel des Stückes ankündigt, wird jedoch gänzlich verweigert. Mit der Kindesweglegung hat sich die Sache, zumindest was die biografischen Repetitionen anlangt, auch schon erledigt.

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Kaspar Hauser im Schauspielhaus Regie Lisa Lie (c) Matthias Heschl

Der Mensch stammt unwiderlegbar vom Tier ab

Denn auch nach dieser langen Intro folgt keine weitere Erwähnung dieser historischen Person, sondern vielmehr eine wilde, szenische Jagd des Ensembles quer durch die Evolution der Menschheit. Von den Primaten angefangen bis hin zu Disco-Tänzerinnen und Tänzern spannt Lisa Lie den Bogen, in dem alle Szenen, so unabhängig sie auch von den vorangegangenen sein mögen, eine Hauptaussage haben: Der Mensch stammt vom Tier ab und ist und gebärdet sich, so er sich in einer Machtposition befindet, schlimmer als ein solches. Lie zeigt aber auch jene Unterwürfigkeit auf, die unterdrückte Menschen als überlebensnotwendige Strategie verwenden müssen. Ihr tierähnliches Vegetieren in Kerkern, ihr Opportunismus, wenn es darum geht, den Herrschern hilfreich zu sein, ihre Unterwürfigkeit rückt die Regisseurin in die Nähe von tierischen Verhaltensmustern und geht dabei auch über Schmerzgrenzen.

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Kaspar Hauser im Schauspielhaus Regie Lisa Lie (c) Matthias Heschl

Wie in jener Szene, in der ein von allen skurril überzeichnetes, getanztes, klassisches Ballett dazu genützt wird, sich gegenseitig zu boxen, zu treten und zu verletzen, was das Zeug hält. Hier präsentiert Lie einen persönlichen Zugang zur Kulturkritik nach Auschwitz. Macht sie dabei doch klar, dass Kunst nicht einen Funken dazu beitragen kann, dass sich Menschen anderen gegenüber nicht wie wilde Tiere benehmen, wenn sie Gelegenheit dazu bekommen.

Das Tier ist der bessere Mensch

Dieser kulturpessimistische Ansatz zieht sich von Beginn an durch, wenn Reznikoff in ihrem Monolog die Kindsweglegung zu rechtfertigen versucht. Er geht weiter in jener Szene, in der die Affen zu Menschen mutieren und sich zum Five O’Clock Tea treffen, bei dem der Diener übelste Beschimpfungen erleiden muss. Es gibt nur eine Szene, in der Gewalt ausgespart wird. Es ist ausgerechnet jene, in welcher sich eine kleine Affenherde ihr Futter – folierte Glashausgurken – friedlich teilen. Alles, was der Mensch dann im Laufe der Evolution zustande bringt, sind bei Lisa Lie Gewaltakte gegen Schwächere. Dass die Kunst dabei auch dafür herhält, die angebliche, höherwertige Stellung der Unterdrücker zu beweisen, wurde schon kurz erwähnt. Zumindest ist diese zynische  Betrachtungsweise des eigenen Agierens im Kulturbetrieb, das naive Kulturfreaks gerne ausblenden möchten, der Regisseurin hoch anzurechnen.

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Kaspar Hauser im Schauspielhaus Regie Lisa Lie (c) Matthias Heschl

Zwar ist es ein praller und intensiver Theaterabend – vor allem für das Ensemble, das sich bis zur körperlichen Erschöpfung verausgaben muss. Der Funke eines packenden Erlebnisses, einer Neuerkenntnis oder zumindest eines gelungenen Déjà-vu springt auf das Publikum jedoch nicht über. Es ist nicht die freie Herangehensweise an die Thematik, die kritisiert wird, denn diese ist legitim. Es ist auch nicht die Zweisprachigkeit, die verwendet wird. Oft wird vom Deutschen ins Englische geswitcht. Es ist die extrem verkürzte Sichtweise auf die Problematik von Ausgestoßenen und der trashige, ja als beliebig zu bezeichnende Umgang damit, der, wie eingangs schon erwähnt, leider auch keinen Neuigkeitswert hat. Das Positive des Abends: Ein fulminant spielendes Ensemble: Kenneth Homstad, Jesse Inman, Gabriel Zschache und Vassilissa Reznikoff, wobei Letztgenannte mit ihrem Eingangsmonolog eine schauspielerische Höchstleistung hinlegt. Nicht zu vergessen einige schöne Bonmots wie: „Das Fehlen von Respekt gegenüber Menschen darf nicht mit Freiheit verwechselt werden.“, oder: „Das Wichtigste ist, sich an das Wichtigste zu erinnern.“ Wobei es nicht ganz sicher ist, was das Wichtigste dieses Abends ist.

Weitere Termine auf der Homepage des Schauspielhauses.

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