Der Körper als Conditio sine qua non

Der Körper als Conditio sine qua non

Michaela Preiner

Foto: ( )

16.

Oktober 2015

Bilder, das ist es, was Sasha Waltz hier vermittelt, keine dramaturgisch durchgehende Geschichte, sondern einzelne Szenen, die unabhängig von einander funktionieren. Und doch ergeben sie am Schluss ein Ganzes.

„Körper“ von Sasha Waltz erlebte im Tanzquartier in Wien seine Österreich-Premiere. Das Stück, das vor 15 Jahren für die Schaubühne in Berlin inszeniert wurde, ist zu einem Dauerbrenner ihrer Compagnie „Sasha Waltz & Guests“ geworden.

Das Publikum sucht noch seine Plätze, da ist auf der Bühne schon Hochbetrieb. Bei Saallicht agieren zwei Männer in schwarzen Anzügen vor einer hohen, schwarzen Wand, laufen hin und her, pirschen sich an das rechte Eck, legen sich auf den Boden. Zwei Löcher in der Wand bieten Händen, Armen, Beinen und Haaren die Möglichkeit, sich einmal ganz exklusiv zu präsentieren. Ohne lästige weitere menschliche Anhänge. So kommen die Extremitäten zu ihrem großen Auftritt und heben sich hell vom Dunkel der Wand ab.

Wie ein Nummerngirl schreitet eine der Tänzerinnen mit einer roten, digitalen Laufschrift über die Bühne. In mehreren Sprachen wird gebeten, die Handys auszuschalten. Ein diffuser Sound (Hans Peter Kuhn) untermalt das Geschehen noch dezent. Im Laufe des Abends wird dieser anschwellen, sich zu stampfenden Maschinenrhythmen verdichten, um dann doch einer kleinen Akkordeonmelodie Platz zu machen.

Schon bald nach der Eröffnungsszenerie formiert sich ein Bild, das sich durch seine starken Gefühle, die es auslöst, ins Langzeitgedächtnis förmlich einbrennt. Nur mit hellen Slips bekleidete Männer und Frauen drängen sich in langsamen Bewegungen in einem kleinen, in der Tiefe sehr schmalen Fenster. An der Vorderseite Glas, dahinter ein schwarzer Raster, der dem Ensemble die Möglichkeit bietet, darauf auf und abzusteigen. Die Geräuschkulisse erinnert entfernt aber doch an Hörerlebnisse, die man unter Wasser hat und löst gemeinsam mit den fließenden Bewegungen Assoziationen aus, die an das menschliche Sein im Uterus anknüpfen. Es ist ein Schweben und ein sich Verlieren, ein Aneinanderdrücken und ein Emporsteigen, dem man nicht müde wird zuzusehen. Für andere Menschen mag dieses Bild andere Erinnerungen hervorrufen – ein Charakteristikum dieser Arbeit, das sich im Laufe des Abends immer wieder zeigen wird.

Bilder, das ist es, was Sasha Waltz hier vermittelt, keine dramaturgisch durchgehende Geschichte, sondern einzelne Szenen, die unabhängig von einander funktionieren. Und doch ergeben sie am Schluss ein Ganzes. So etwas wie ein Kompendium des menschlichen Seins. Das, was uns am nächsten ist, ist unser Körper. Nicht nur für Tänzerinnen und Tänzer, sondern für alle von uns. Die Erfahrungen, die wir mit ihm machen, sind zwar subjektiv, dennoch aber empathisch von allen Menschen nachzuempfinden. Das ist auch ein Grund, warum eine weitere Szene ebenfalls extrem berührt. Darin wird ein Mann von anderen an seiner Haut hochgehoben, wieder fallen gelassen, erneut aufgehoben. Die Schmerzen, die damit verbunden sein müssen, sind ad hoc nachvollziehbar. Die darauf folgende Beschriftung von einzelnen Körperteilen zweier Frauen und das Benennen derer materiellen Wertigkeit lässt einem Schauer über den Rücken laufen. Parallel dazu findet das Entleeren von Körpern statt. Nicht aus den bekannten Körperöffnungen, sondern aus der Flanke, aus dem Hals, aus einer Armbeuge rinnt Wasser auf den Boden. Surreale Bilder, die dennoch in der Lage sind, multiple Emotionen auszulösen. Die Eindrücke dieser Bilder, die Körper in neuen Funktionszusammenhängen zeigen, irritieren.

Das pralle Leben, in dem alle einen bestimmten Platz einnehmen und sei er auch noch so sinnentleert, visualisiert sie durch das Bild des Schifahrers, der von luftiger Höhe entlang der dunklen Wand auf den Boden herabgeseilt wird. Dort befindet sich alles in hektischer Betriebsamkeit, läuft, geht seinen eigenen Geschäften nach. Objekte fliegen durch die Luft, ein Mann zerreißt ein Plüschtier und verwandelt sich selbst zu einem solchen, ein anderer bläst Tabakrauch in einen Glaskubus, um sich diesen anschließend überzustülpen. Fantastische Traumsituationen, die den Blick für unsere oftmals mehr als absurde Realität imstande sind zu schärfen.

Das Kulminieren von Angstzuständen schafft Waltz durch eine atemlose Choreografie, unterstützt mit anschaulichen Kostümen, die verletzte Körperteile und Blut assoziieren. Bernd Skodzig schuf eine Kollektion, die auch heute noch auf jedem Laufsteg für Furore sorgen würde. Die Angst vor körperlicher Versehrtheit, vor Krebs treibt die Tanzenden in einsame Zustände, in denen sie willenlos Getriebene sind. Das harte Aufschlagen der Körper materialisiert förmlich auch jenen Zustand, den man durchleben muss, wenn man mit lebensbedrohlichen Diagnosen konfrontiert wird. Während die Agierenden über einzelne Körperteile berichten, sie benennen, zeigen sie auf völlig andere Körperstellen. Auch das Thema der Realitätskonstruktion bringt die Choreografin auf diese Weise in dem Stück unter.

Vieles, was Sasha Waltz in „Körper“ an Bewegungsrepertoire zeigt, hat in den darauffolgenden Jahren bis heute in Choreografien anderer Einzug gehalten. Körperagglomerationen von übereinander geschichteten Leibern, organische Linien, die sich durch das Aneinanderreihen von liegenden Körpern ergeben, ein lebender Radius, der sich durch eine gemeinsam ausgeführte Bewegung im Moment eines Augenaufschlages in einen marschierenden Durchmesser verwandelt. Und da sind noch jene Fabelwesen, die mit verdrehten Gliedmaßen das Publikum in Staunen und Entzücken versetzen. Dieses Stückchen Varieté inmitten all der tänzerischen Hochkultur fokussiert die Blicke und die Aufmerksamkeit auf das, was nur das Theater bieten kann. Auf Sensationen, die das Auge täuscht. Auch solche gibt es mehrere in der Inszenierung. Die Wand, die mit einem lauten Krach zu Boden fällt, deren Glasscheibe jedoch später wie von Zauberhand wieder von der Decke schwebt. Plötzlich auftauchende und wieder verschwindende Leiber, durch eine geschickte Lichtregie ins Nichts gezaubert. Waltz arbeitet mit jenen theatralischen Mitteln, die schon seit Jahrhunderten die Zusehenden fesseln. Sie tut dies so kunstvoll, dass man sich dessen gar nicht richtig bewusst wird. Perfekter kann man die Illusionsmaschine des Tanz-Theaters nicht bedienen.

Die Beziehungsuntersuchungen, die am Ende der Inszenierung durch Mann-Frau und andere unterschiedliche Paarkonstellationen vorgenommen werden, scheinen vom bis dahin stringenten Thema abzuweichen. Sie knüpfen aber an jene Szenen an, die den Körperanschauungen zuvor schon immer wieder zwischengeschoben wurden. Erst durch sie wird klar, was den Menschen tatsächlich ausmacht. Neben all den Körperteilen, neben all den Organen, neben all den Schmerzen und Abnormitäten sind es die zwischenmenschlichen Beziehungen, sind es die Beschäftigungen mit den anderen, die uns zu sozialen Wesen machen. Unser Körper ist die Conditio sine qua non, aber ohne unsere Gefühle, unsere zwischenmenschlichen Interaktionen, ohne Beziehungen zu anderen blieben wir nur bewegte Hände, Arme, Beine. Wie im ersten Bild, in dem sich diese hell vom Dunkel der Wand abheben.

„Der Tanz hat für mich nach wie vor eine Dimension, die den Menschen  über das Wort hinaus erreicht. Er hat etwas, was uns ganz, ganz tief berührt, auch zu unserem Unterbewussten spricht; auch zu dem Geheimnis der Seele spricht.“ Die Erklärung, die Sasha Waltz in einem Interview gab, gilt eins zu eins auch für ihr Stück „Körper“.

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