Was für eine Zeit!

Was für eine Zeit!

Michaela Preiner

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6.

Juni 2022

In den Jahren der Trump-Ära wurden wir rund um den Globus mit dem Begriff der fake-news vertraut. So stark, dass wir jetzt meinen, uns das Lügen selbst aneignen zu müssen, um in der Gesellschaft zu überleben. Martin Gruber hat sich mit seinem Ensemble das Phänomen genauer angesehen. Aber nicht nur dieses.

Zum aktionstheater ensemble geht man aus verschiedenen Gründen. Weil man wissen will, welches Theater diese Truppe macht, weil man von Freunden mitgenommen wird und keine Ahnung hat, was einen erwartet, weil man die Art von Theater schätzt, die man zu sehen bekommt oder weil man das Gefühl hat, alte Bekannte wiederzutreffen. Wenn man Martin Gruber und seine Arbeit schon länger verfolgt, gibt es aber noch einen Grund, jede neue Inszenierung anzusehen. Es ist die Faszination, einen kreativen Zugang zu unserem Zeitgeschehen zu bekommen und Ereignisse, Emotionen und gesellschaftliche Strukturen einmal unter einem anderen Blickwinkel zu betrachten als jenem, mit dem wir tag-täglich konfrontiert sind.

Es ist genau diese Herangehensweise, die jeden Besuch zu einem neuen Erlebnis werden lässt. Die jeweilige Besetzung generiert Gruber mittlerweile aus einem großen Ensemble-Pool, der auch immer wieder Neuzugänge aufweist. Bei „Lüg mich an und spiel mit mir“ sind Zeynep Alan, Babett Arens, Michaela Bilgeri, Luzian Hirzel, David Kopp und Tamara Stern im Einsatz. Ergänzt wird das Bühnengeschehen durch Live-Musik von Dominik Essletzbichler, Daniel Neuhauser, Gidon Oechsner, Daniel Schober. Sie sind dieses Mal ein starker, eigener Part und nicht nur für einen untermalenden Soundtrack zuständig.

Die Bühne betreten alle ausnahmslos mit schwarz umflorten Augen. Eine offensichtliche Botschaft, dass das, was kommen wird, kein lustiges Trallala sein wird. Wie sollte es auch – in Zeiten wie diesen! Die Pandemie ist noch nicht verschwunden, die Umweltproblematik wird nie mehr verschwinden und der Krieg im Osten Europas hat Auswirkungen weit über die Ukraine hinaus. Der Zeitgeist, der uns umgibt, ist angefüllt mit Ängsten, aber auch Aggressionen, die wir bemüht sind, so gut es geht, zu unterdrücken.

Genau auf diese Wunde setzt Gruber seinen Finger. Je länger die Vorstellung dauert, umso mehr wird diese Wunde geöffnet, aus der schließlich auch viel Blut fließt. Das, was viele von uns in ihrem Inneren austragen, darf sein Ensemble vor uns und für uns ausleben. Da wird beleidigt und geschrien, da pufft man einander und reizt sich so lange, bis die Wut aus allen hervorbricht und das Faustrecht Einzug auf die Bühne hält.

Allen voran lässt Tamara Stern gleich von Beginn an ihren negativen Emotionen freien Lauf und das streckenweise sogar so heftig, dass sie einem wilden Tier gleicht. Was sich anfänglich nur in heftigen Verbalinjurien äußert, kippt in ein körperliches Aggressionsverhalten, das in heftigen Angriffen und Prügeleien mündet, die sich nach und nach auf alle anderen überträgt.

Die Bühne wird von einer konkaven Leinwand begrenzt, auf der Fotos zu sehen sind, die sich langsam verändern. Durch kleine Gucklöcher ist eine Landkarte der Ukraine zu erkennen, später wird das Theater von Mariupol zu sehen sein – zerschossen, zerbombt, mit teilweise eingestürztem Dach. Nichts davon wird kommentiert, sondern steht unterschwellig permanent im Raum, unterlegt die Sätze mit einer weiteren Ebene. Man beginnt nicht nur zu verstehen, dass das Grauen und die Bedrohung genauso gut uns, die wir im geschützten Theaterraum sitzen, betreffen könnte. Man beginnt auch zu verstehen, zu realisieren, was man ohnehin immer fühlt. Wir können uns unsere Realität noch so schönreden, wir können noch so vermeintlich positiv in die Zukunft blicken und versuchen, wegzuschieben, was uns nicht passt oder schlichtweg überfordert. „Es“ ist dennoch da. Passiert, während wir uns zu amüsieren versuchen.

Da hilft es auch nicht, neidisch auf die Schweizer Bevölkerung zu blicken. Der Aussage von Babett Arens und Luzian Hirzel zufolge ist dort für jede Bürgerin und jeden Bürger ein Platz in einem Schutzbunker vorrätig. Unter dem Theater in Mariupol wähnten sich die Menschen auch in Sicherheit. Was nützt aber jedes noch so fortifizierte Versteck, wenn wir mit jedem Waschgang unsere Umwelt ruinieren? Auch Bio-Waschmittel landen schließlich im Abfluss und zerstören unsere Gewässer. Wie können wir Gut von Böse unterscheiden, wenn uns langjährig bekannte Bettler plötzlich nicht mehr als Roma, sondern als Ukrainer um Hilfe bitten? Was ist mit jenem ukrainischen Geflüchteten aus dem Osten des Landes, der schon vor 8 Jahren hier bei uns Zuflucht fand, geflohen damals vor den ukrainischen Repressalien? Welche Botschaft haben wir nicht gehört, nicht hören wollen? Darf man übergriffige Russen attackieren, Ukrainer aber nicht? Und welche Absurdität oder vielleicht sogar Monstrosität offenbart sich im Umstand, dass ein Staatspräsident, der sich als hervorragender Dancing Star bewährt hat, jetzt erbittert um Dörfer und Städte kämpfen lässt, die in Schutt und Asche gelegt werden? Was sind Fakten, was sind Lügen? Wie sehr beteiligen wir uns daran und warum? An einer Stelle fällt ein folgenschwerer Satz, wenngleich ganz locker ausgesprochen: „Wir sagen, dass wir in einer funktionierenden Demokratie leben und lügen zurück, bis es stimmt!“ Aber es wird auch die Erkenntnis ausgesprochen, dass uns das Lügen zusammenhält.

Die harten Beats, die von den schwarz gekleideten Musikern beigesteuert werden, das Dröhnen der Sounds unterstützen Anti-Aggressions-Übungen und pushen gleichzeitig die Idee, sich für einen bevorstehenden Kampf rüsten zu müssen. Parallel dazu verändern sich die Bilder auf der großen Leinwand und zeigen Aufnahmen von menschlicher Hautoberfläche. Das, was wir weit wegschieben wollen, trifft uns unerbittlich und bedroht uns körperlich ganz nahe. Aber auch Bilder von Menschen schießen einem dabei durch den Kopf. Menschen, die ums nackte Überleben kämpfen. Möglicherweise verknüpft der eine oder die andere aus dem Publikum damit auch andere Assoziationen.

Allein an diesem Umstand kann man erkennen, dass das theatrale Universum des aktionstheater ensembles genau das widerspiegelt, was unserer aktuellen Erlebnis- und Gefühlswelt entspricht. Wir sind umgeben von Unsicherheit und müssen uns mit Fragen beschäftigen, für die wir keine klaren Antworten haben. Zugleich dürfen wir uns aber alle, jeder einzelne und jede einzelne, die an einer Vorstellung teilnehmen, privilegiert fühlen. Wir dürfen für die Dauer von ungefähr eineinhalb Stunden wieder etwas erleben, was uns gefehlt hat. Wir dürfen wieder etwas erleben, von dem wir zuvor nicht wussten, wie sehr es uns einmal tatsächlich fehlen würde: Wir erleben eine Gemeinschaft, die uns zeitgleich lachen und staunen lässt. Die uns zeitgleich eine Wut verspüren lässt und uns in eine Hilflosigkeit stürzt, aus der wir dank einer klugen Dramaturgie dann doch wieder emporkommen. Wir dürfen erleben, dass Menschen Menschen wollen und benötigen. Die Idee, dass Theater nichts bewirken kann, stellt sich als Illusion heraus. Zum Glück für alle Beteiligten – ob auf oder vor der Bühne.

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