Tanz aus alltäglichem und sportlichem Bewegungsvokabular

Tanz aus alltäglichem und sportlichem Bewegungsvokabular

Michaela Preiner

Foto: ( )

7.

Dezember 2015

Fotos und Slowmotion – aus beiden Medien kennen wir sie: Bilder von alltäglichen Bewegungsabläufen, die darin entweder extrem verlangsamt werden und dadurch eine eigene Ästhetik erhalten oder ganz eingefroren werden.

Fotos und Slowmotion – aus beiden Medien kennen wir sie: Bilder von alltäglichen Bewegungsabläufen, die darin entweder extrem verlangsamt werden und dadurch eine eigene Ästhetik erhalten oder ganz eingefroren werden. Noé Soulier, französischer Tänzer und Choreograf widmet sich in seiner Arbeit „Removing“ einem eigenwilligen Bewegungsvokabular, das er einerseits aus Alltagsbewegungen entnahm, andererseits aus jenen der Kampfsportart Jiu Jitsu.

Im Tanzquartier präsentierte der Pariser nach „Movement on Movement“ im Vorjahr seine zweite Arbeit. Dafür extrahierte er einzelne Bewegungselemente, verband sie mit anderen und setzte sie zu einem neuen Ganzen zusammen. Das ist zwar im zeitgenössischen Tanz nicht neu. Was jedoch ungewöhnlich ist, sind die Ableitungen aus sportlichen Disziplinen. Wobei in dieser speziellen Choreografie die Grenze zwischen Tanz und Sport teilweise zu verschwimmen scheint. Die Vorführung kommt größtenteils ohne Musik aus, nur zu Beginn und am Schluss werden Geräusche wie leichtes und lautes Donnergrollen eingespielt. Jeder und jede der vier Tänzer und zwei Tänzerinnen verwenden auf große Strecken hin die selben Schritt- und Bewegungskombinationen, wandeln sie ab, ergänzen sie und stellen sie immer wieder neu zusammen.

Auch wenn Soulier selbst nicht davon spricht, ist man versucht, die mehrstimmigen Inventionen von Bach als theoretisches Vergleichsmodell heranzuziehen. Das Ensemble tritt solistisch auf, in Duetten oder Terzetten, zu viert fünft oder sechst. Sie tanzen synchron, dann wieder wie in einem Kanon verschoben oder so, dass sich die Bewegungsmuster auf der Bühne in der Aufsicht verstricken und wieder auflösen. Dies ergibt eine ästhetische Basis, die im exakten Vier-Vierteltakt durchgehalten wird, auch wenn keinerlei Musik erklingt. Das rasche Tempo verlangt den Tänzerinnen und Tänzern viel Kraft ab.

Immer wieder entsteht der Eindruck, als würden Bälle im Spiel sein, Tennis- oder Squashbälle, nach denen ausgeholt wird und die fort geschlagen werden. Dann wieder sind Jiu Jitsu Aktionen deutlich erkennbar. Das Ausholen eines Beines, das Treten nach einem imaginären aber auch realen Gegenüber, das Fangen, Werfen, Ausweichen, Fallen, das Attackieren und zu-Boden-Gehen, all das verbindet Soulier mit einem tänzerischen Habitus.

Dabei ist es keine Geschichte, die erzählt wird. Die Bewegung an sich, die daraus entwickelte Choreografie, steht im Vordergrund des Erlebens, muss stark genug sein, um ein Programm zu füllen. Soulier meinte dazu in einem Interview mit Thomas Hahn im tanz.Jahrbuch 2015, das auszugsweise im Programmheft abgedruckt wurde: „ Narration ist nur noch retrospektiv…und sie verlangt eine enorme Vereinfachung. Von daher verliert sie immer an Glaubwürdigkeit.“ Das ist einer der Gründe, warum der Choreograf versucht, Erzählerisches zu vermeiden. Immer wieder laufen die Tänzerinnen und Tänzer für ihren nächsten Einsatz in ihren Turnschuhen auf die Bühne, so als wollten sie ihre Kolleginnen und Kollegen abklatschen. An manchen Stellen agieren sie, indem sie sich gegenseitig unterstützen, manches Mal reagieren sie auf Momente, in welchen Druck Gegendruck oder Zug Gegenzug erzeugt.

Im Mittelteil geht es in den körperlichen Nahkontakt. Zwei der Tanzenden verbinden sich zu einem einzigen Organismus, der sich über lange Strecken auf dem Boden in immer neuen Formationen mit und gegen sich selbst bewegt. Ineinander verhakt, rollen die beiden Männer verknäuelt, bleiben auf- und untereinander liegen, verharren für Sekunden regungslos, um von Neuem die Bewegung aufzunehmen. Ein sehr langer Teil, der von offensichtlichen Hafengeräuschen begleitet wird. Hier hätte Soulier ohne Verlust kürzen können, das Geschehen scheint wie in einer Endlosschleife repetiert zu werden.

Wie zu Beginn endet der Abend mit  Solo- und gemeinsamen Auftritten, die sich ablösen. Das Zusammenballen, das Auseinandergehen, das sich-wieder-Finden der Tanzenden, das Abgehen geschieht nun in einer formvollendeten Tanzsprache, die, auch aufgrund einiger weniger erkennbarer Tanzschritte, an klassischen Tanz erinnert. Obwohl die einzelnen Körper bis auf diese Miniaturen völlig andere Bewegungsvokabularien verwenden.

Mit einem Augenzwinkern verabschiedet sich „Removing“, das man mit  „Neu-Zusammensetzung von Bewegungen“ übersetzen könnte. Denn Jose Pauolo Dos Santos steppt ganz wider Erwarten leichtfüßig von links nach rechts, mit einigen beruhigten Zwischenschritten über die Bühne. Tanz von vorgestern, wie im Hauch ins Heute herüber wehend, winkt dem Publikum noch einmal zu. Es wird kein Zufall sein, dass Soulier einen Tanzstil wählte, bei dem das Publikum in seiner Entstehungszeit im 19. Jahrhundert vielleicht sogar ähnliche ästhetische Erfahrungen machen konnte wie dies heute in seinem „Removing“ der Fall ist. Alltägliches neu sehen und neu interpretieren, das ist die künstlerische Leistung des jungen Choreografen, die er mit diesem Stück vorlegt.

Mit: Jose Pauolo Dos Santos, Yumiko Funaya, Anna Massoni, Norbert Pape, Nans Pierson, Noé Soulier

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