Nora sucht sich einen Neuen

Ibsens Drama „Nora oder ein Puppenheim“ hat in den 136 Jahren seit seinem Erscheinen leider nach wie vor nichts an Aktualität eingebüßt. Elfriede Jelinek hat mit den zwei Arbeiten „Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte“ und dem Epilog „Nach Nora“ noch zwei gehörige Portionen an aktuellen, gesellschaftskritischen Texten hinzugefügt. Daraus entstand ein neues Ganzes, Nora³. Als Übernahme vom Schauspielhaus Düsseldorf hatte das Stück nun Im Volkstheater Premiere.

Und was für eine. Die Ovationen am Schluss galten sowohl dem neuen Text von Jelinek, der für die Aufführung in Düsseldorf vor zwei Jahren geschrieben wurde. Eine scharfe Kritik an der Globalisierung der Textilwirtschaft, in der die Ausbeutung der Arbeiterinnen, wie sie bei uns vor 130 Jahren zu finden war, einfach in andere Kontinente verschoben wurde. Die Ovationen galten einer Regie, die umwerfend das Publikum miteinbezog, ohne dabei jemals peinlich oder platt zu wirken. Die Ovationen galten aber vor allem auch einem Ensemble, das schauspielerische Leistungen ablieferte, die im deutschen Sprachraum zur absoluten Spitzenklasse gehören. Mit den bisherigen Besetzungen scheint am Volkstheater eine neue Ära von Schauspielerinnen und Schauspielern angebrochen zu sein. Viele sind dem Publikum von Filmen aus dem Kino oder auch von Serien aus dem Fernsehen bekannt. Sicherlich keine schlechte Entscheidung im Hinblick auf Auslastungszahlen.

Stefanie Reinsperger in der Titelrolle zieht keine Register bei ihrem Können, diese Behauptung wäre schlichtweg untertrieben. Die Leichtigkeit, mit der sie Gefühle auf die Bühne transportiert, scheint nicht von dieser Theaterwelt zu sein. Dabei gelingt ihr das von der Regie verlangte Kunststück, beim Spiel im Spiel in Sekundenschnelle in feinsten Nuancen in die unterschiedlichen Ebenen zu wechseln. Ob im breitesten Wienerisch oder feinstem Hochdeutsch, ihre Nora schillert in allen nur erdenklichen Facetten. Es gibt keinen Augenblick, in dem sie das Publikum nicht fesselt. Sie tut dies als veitstänzerische Nora in Panik vor ihrem Mann ebenso, wie als am Boden zerstörte Frau, die den Strom ihrer Tränen nicht mehr trocknen kann. Zu recht hat sie für diese Rolle von der Zeitschrift Theater heute sowohl den Preis für die beste Nachwuchsschauspielerin als auch den für die beste Schauspielerin erhalten. An ihrer Seite brilliert Rainer Galke nicht nur in der Rolle von Torwald, sondern auch in jener des Personalchefs Fellner. Dabei spricht er das Publikum mit „Belegschaft“ an und präsentiert sich selbstsicher in Macher-Pose. Im Handumdrehen geht er mit Konsul Weygang eine Verbrüderung ein oder wird als Torwald gegen seine Nora sogar zweimal in brutalster Weise handgreiflich. Seine Präsenz und seine Stimmgewalt sind so beeindruckend, dass man davon mehr sehen möchte.

Michael Abendroth als Dr. Wank und Konsul Weygang kann seine Kunst anhand zweier komplett konträrer Figuren unter Beweis stellen. Als Industriellenmogul ohne Handschlagqualität, der Frauen nach einem gewissen Ablaufdatum schonungslos wechselt, auf der einen Seite. Als todkranker Liebender Dr. Rank, den Nora nicht um Hilfe bittet, auf der anderen Seite. Einmalig agiert er in jener Szene, in der er den rasenden Torwald zurückhalten will, während Nora in allergrößter Hektik den Postkasten mit dem belastenden Brief unter einem Wäscheberg vergraben möchte. Jan Thümer liefert wiederum als Krogstad im Duett mit Reinsperger eine Szene ab, die eindringlicher nicht gespielt werden könnte. Jede kleinste Mimik, jede einzelne Artikulation sitzen dermaßen perfekt, dass man dabei Gänsehaut bekommt. Als schwäbischer Franz, ausgestattet mit breitem Dialekt und wenig Verstand, bringt er jene Lacher inmitten des Publikums zustande, welche durch die Farce-Nuancierung des Jelinek-Textes so trefflich vorgezeichnet sind.

Bettina Ernst (Anne-Marie/Marie-Anne) und Sarah Hostettler (Frau Linde/Eva) agieren sowohl als sich gegenseitig ankeifende Arbeitskolleginnen, welche die Rolle der Frau völlig diametral verstehen. Sie verkörpern aber auch in Idealbesetzung Noras Kinderfrau und Christine, genannt Linde, die letztlich Krogstad dazu veranlasst, Torwald seinen Schuldschein zurückzuschicken. Rasant und atemberaubend agiert Sarah Hofstettler in der Liebesszene mit Krogstad, als Muttertier mit einer Kuhglocke ausstaffiert hat Bettina Ernst die Lacher auf ihrer Seite.

Dušan David Pařízek ist ein Multitalent. Nicht nur für die Bühne verantwortlich, einem kahlen, holzvertäfelten Guckkasten, der sich am Ende des Stückes in seine Bestandteile auflöst, sondern auch für die Regie, beschert er dem Publikum ein neues Theaterfeeling. Bis auf Nora sitzen alle Ensemblemitglieder nicht nur zu Beginn in den Zuschauerreihen, quer verteilt im Parkett und auf der neu errichteten Tribüne. Das Licht bleibt im Zuschauerraum an. Pařízek interpretiert ihn kurzerhand in eine Versammlungshalle um, in der die Belegschaft zusieht, wie sich die Kollegen in die Haare bekommen und Konsul Weygang forsch Nora dazu bestimmt, die Hauptrolle im Ibsen-Stück zu spielen. Es ist einer der packendsten Momente des Abends, wenn sich die Bühne des Volkstheaters durch Reinspergers Spiel in jene des Versammlungssaales und wieder zurück verwandelt. Die Leere, die in den vier Wänden von Torwalds Heim herrscht, Sinnbild für Noras Seelenzustand, wird nur mit Bekleidungsstücken und einem später hinzugebrachten Spanholzpostkasten konterkariert. „Es hat jemand an dem Schloss manipuliert“, dieser Satz von Torwald wird zur Lachnummer, hat zuvor doch sein Kontrahent Krogstad den Sperrholzpostkasten mit Füßen eingetreten.

Noras und Christinas Gesinnungsänderung im letzten Jelinek´schen Teil geht in atemberaubender Schnelligkeit von sich. Wie der ganze Text auch sonst eine unglaubliche Rasanz aufweist. Im Sekundentakt entdecken hier die Frauen alle Vor- und Nachteile von Geschäfts- aber auch Privatbeziehungen und lassen jegliche Selbstbestimmung fallen, wenn es darum geht, finanziell von einem Mann gut versorgt zu werden. Da bleibt dem mittellosen Arbeiter Franz nichts anderes übrig, als zu jammern und zu klagen. Die Objekte seiner Begierde orientieren sich lieber an der größeren Finanzkraft seiner Kontrahenten. Zugleich wird das westliche Konsumverhalten bis hin zur Frage durchdekliniert, wie viel denn eine Theaterbesucherin im Monat für Bekleidung ausgibt. Reinsperger durfte dabei am Premierenabend noch mit einer kleinen Impro-Nummer auftrumpfen. Ob nun kapitalistischer Fabriksbesitzer, ob leitende Angestellte oder Arbeiter und Arbeiterinnen, in der Neuverteilung der Rollen, die sich von der Produktion hin zum Verkauf verlagern, ist man sich rasch einig.

Allein Nora bleibt auch hier wieder die Außenseiterrolle zugedacht. Sie agiert als Vernunft, die sich gegen den Konsumwahnsinn stemmt, der Tausenden Arbeiterinnen und Arbeitern in Fernost und in China das Leben kostet. In ihrem letzten Auftritt, auf einem Parkettsessel stehend, deklamiert sie die Worte: Die Schutzbefohlenen sind immer jetzt. Mit einem Schlag ist das Elend unter uns. Nicht in Bangladesh oder in einem anderen fernen Land, sondern nur ein paar Kilometer weiter weg am Haupt- oder Westbahnhof. Am Grenzübergang Nickelsdorf oder in Traiskirchen. Die aktuellen Bezüge von Jelineks Texten sind beklemmend, sie zu ignorieren, führt zu einem sauren Selbst.

Ein außergewöhnlicher Abend von höchstem Niveau, der zugleich unterhaltsam ist. Er verweist auf eine extrem kluge Programmierung, die den Ruf des Volkstheaters als zeitgenössische Bühne nachhaltig stärken wird können, wenn die Qualität der kommenden Stücke auch nur annähernd ähnlich sind. Was schwer sein wird.

 

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