Präzise heißt nicht blutleer

Harrison-Birtwistle

Harrison Birtwistle (c) Hanya Chlala

Den Briten wird per se eine etwas noble Unterkühltheit im sozialen Umgang attestiert. Würde dies stimmen, müsste sich dies auch in den zeitgenössischen Kompositionen ausdrücken. Wie man aber am 31. Oktober im Konzerthaus in Wien feststellen konnte, so ist diese Vorstellung in keiner Weise deckungsgleich mit der Realität. Das Ensemble London Sinfonietta unter dem Dirigenten Franck Ollu bewies nämlich genau das Gegenteil. Was das Kammerorchester allerdings auch zeigte: Zeitgenössische Musik erfordert Präzision, wird aber nur dann zum Ereignis, wenn sie mit Herzblut gespielt wird. Und das war unbestritten der Fall. Auf dem Programm standen 5 Kompositionen zeitgenössischer, britischer Komponisten. Allen voran – weil er als Altmeister der zeitgenössischen Musik auf der Insel gilt – Harrison Birtwistle. Dem 1934 Geborenen ist beim Festival Wien Modern ja neben Friedrich Cerha ein Themenschwerpunkt gewidmet, was aufmerksamen Besucherinnen und Besuchern die Möglichkeit bietet, Parallelitäten oder auch Unterschiede der beiden Komponisten zu entdecken.

Und Ehre wem Ehre gebührt – soll an dieser Stelle seine Komposition als erste zu ihrem beschriebenen Recht kommen. Sein Stück Silbury Air, geschrieben für Kammerensemble im Jahr 1977, beeindruckte massiv. Nicht nur die Kritikerin, sondern das gesamte Publikum, dass dementsprechend akklamierte. Sein im 2/4 Takt angelegter Auftakt, ganz zu Beginn beinahe wie das Ticken einer Uhr wahrnehmbar, wandelt sich im Laufe des Stückes hin bis zu einer stampfenden Rhythmik, um ganz zum Schluss in einem wiederum zarten, metrisch bestimmten Abgesang noch einmal leise aufzutauchen. Zwischen dem Anfang und dem Ende gelang Birtwistle nicht nur ein schönes und mitreißendes Stück, sondern zugleich zeugt es von hoher Intelligenz sowie wunderbarem Verständnis, was den Einsatz der Instrumente betrifft. Allen voran konnte der exzellente Schlagwerker sein Können unter Beweis stellen. Von ihm hingen viele Einsätze ab, die wegen der komplexen, manches Mal ineinander verschachtelten Rhythmik punktgenau kommen mussten. Gekennzeichnet war das Stück sowohl von einem vollen Orchesterklang bis hin zu einer Reduktion der Stimmen, in welcher der vorgegebene Marschrhythmus nur mehr schwingend erahnbar war. Aber auch die immer wieder kehrenden, harten Trommelschläge, die einzelne Passagen beendeten, konnte man schon mit schöner Regelmäßigkeit wieder erwarten. Der Schluss, den Birtwistle selbst als Air bezeichnete, als ein kleines, musikalisches Stück mit melodiösem Grundcharakter, verzauberte die Stimmung komplett und ließ all die Macht und Genauigkeit, all das Voluminöse und Akkurate, all das Laute und Plakative im Nu hinter sich. Die Musik verschwand, ja tropfte förmlich aus und hinterließ mit den letzten Harfenklängen einen lang wirkenden Nachhall, den das Publikum bis ins letzte Hinein genoss.

Mit George Benjamin (*1960 in London), Luke Bedford (*1978 in Wokingham), Simon Holt (*1958 in Bolton) sowie Thomas Adès (*1971 in London) beherrschten vier weitere, jedoch wesentlich jüngere Komponisten das weitere Geschehen des Abends. George Benjamins „First Light“ von 1982 – ein Werk das er als 22jähriger geschrieben hat – erwies sich als sehr komplex und zeigte mannigfaltige musikhistorische Querverweise. Es stellt den Versuch dar, ein Bild von William Turner zu beschreiben, der darin mündet, die Komposition weit darüber hinaus mit der Musikgeschichte zu verbinden, in der Benjamin ja nicht der erste ist, der sich an Bildbeschreibungen abgearbeitet hat. Es kann kein Zufall sein, dass seine scharfen Trompetenstöße, seine klagenden Klarinetteneinsätze oder die helle Flötenstimme unweigerlich Assoziationen zu Mussorgskys Ausstellungszyklus erweckt, überraschender hingegen wirkt eine kurze Passage, die klanglich ganz nahe an der zweiten Wiener Schule steht. Als ob er aber auch noch den Beweis abliefern müsste auch die zeitgenössische Kompositionstechnik erforscht zu haben, kommen, wenn auch sehr sporadisch, aber doch, Alltagsklänge zum Einsatz. Dann nämlich, wenn der Schlagwerker zum Beispiel eine Zeitung zerreißt, oder einen kleinen Tischtennisball mehrfach auf hartem Untergrund aufhüpfen lässt. Spätestens diese kleinen Verweise, die das Publikum in Sekundenschnelle ganz sensibel auf die folgenden Klangphänomene macht sind Hinweise zumindest auf die Entstehungszeit der Komposition. Nicht jedoch auf Benjamins Alter, denn eine Arbeit wie diese möchte man kaum als Jugendwerk einstufen.

Luke Bedford, dessen Werk „Man Shoots Strangers vom Skyscrapers“ aus dem Jahr 2002 im Anschluss erklang, wählte, wenn man so möchte, im Hinblick auf den Ausgangspunkt seiner musikalischen Überlegungen, mit einem Kammerorchester eigentlich ein anachronistisches Medium. Immerhin nahm er sich Luis Buñuels „Das Gespenst der Freiheit“ als Ausgangsbasis seiner Komposition vor. Jenen Film, in welchem ein Unbekannter von Hochhäusern aus wahllos auf Passanten schießt. Es gelingt ihm, aus dem Kammerorchester einen unglaublich dichten, wogenden, melodischen Klang zu zaubern, der akustisch ein wesentlich größeres Ensemble evoziert. Immer wieder treten einzelne Stimmen daraus hervor, bis durch scharfe, immer wiederkehrende Tuttisalven die Leichtigkeit, ja beinahe Unbekümmertheit der Stimmung in eine Bedrohung umschlägt, die nicht mehr abgeschüttelt werden kann. Der in Wien anwesende, sehr sympathisch wirkende Komponist, schuf mit diesem kurzen Stück aber mehr als nur die Kurzfassung einer Filmbeschreibung. Vielmehr lässt er an jene Schicksalsmomente denken, die manche von uns aus heiterem Himmel wie Keulen treffen und nach denen nichts mehr so ist, wie es zuvor einmal war. Man kann gespannt sein, was die Zukunft Bedfords noch bringen wird.
Simon Holts „Lilith“ aus dem Jahr 1990 wurde aus kleinen, fast miniaturhaften Themen entwickelt, die in ihren Variationen ein ständiges Vorantreiben des Stückes bewirkten. Begleitet von extrem harten, stakkatierenden Harfenklängen, durchliefen diese Miniaturen das gesamte Ensemble, bis die Oboe die Kraft der Harfenschläge übernahm. Nur kurz dauerte der daraufhin einsetzende, ruhige Mittelpart, in dem das Publikum sich von der Wucht der Instrumentaleinsätze und der Rastlosigkeit des Geschehens erholen konnte, um bald darauf mit einem abermals dramatischem Aufbrausen konfrontiert zu werden. Ganz im Gegensatz zu Birtwistles Stück gestaltete der junge Komponist seinen Schluss dramatisch. Nach einer sirenenhaften Ballung aller Stimmen, sowie einem abermaligen scharfen Oboensolo und einem harten Harfenklang verstummte das Orchester und hinterließ damit eine unaufgelöste Spannung.
„Living Toys“, das opus 9 von Thomas Adès, komponiert im Jahr 1993, stellte am Schluss des Konzertabends eine schöne Klammer dar, die sich vor allem im Hinblick auf Holt und Birtwistle als interessanter Vergleich erwies. Das 17minütige Stück ist in 5 Teile gegliedert, das, laut Konzertbeschreibung, Anagramme des Wortes battle beinhaltet. Das Spiel mit den Worten battle, balett und tablett – war zwar in der Komposition akustisch nicht mehr wahrnehmbar. Dennoch überzeugt diese mit ihren ständig wechselnden Stimmungen. Zu Beginn gleich verschmolzen viele kleine Zitate zu einer nervösen Verfassung, die besonders durch den differenziert Einsatz von vielen Perkussionsinstrumenten, aber auch dem zusätzlichen Klatschen einzelner Musiker, gekennzeichnet war. Diesem Auftakt folgten jazzige Anklänge durch die Trompete, die mit dem Einsatz von einem Dämpfer besonders plakativ ausfiel. Die Antwort des Ensembles, überraschenderweise jedoch in einer ganz anderen musikalischen Sprache, blieb nicht aus und als ob es auf die Kraft des Blasinstrumentes ein adäquates Gegenmittel setzen hätte wollen, eskalierte und verdichtete sich der Klang zusehends. Wie auf einer Schaukel wiederholte sich diese Eskalation und Deeskalation noch einmal, verblüffte jedoch dazwischen mit einer fast romantischen Einlage, die vom immer beeindruckenden tiefen Klang des Fagotts unterlegt war. Ein dumpfer Paukennachhall, nachdreimaligem orchestralem Aufschrei, beendete das Stück.
Das besonders Interessante dieses Konzertabends war die Tatsache, dass alle Komponisten mit ihren Werken ganz im Rahmen des herkömmlich tradierten Gebrauches der Instrumente arbeiteten. Bis auf kleine Ausnahmen blieben sie dabei, die jeweiligen Klangeffekte der Instrumente beinahe schon historisch zu nutzen. Einzig die Kompositionen selbst, in denen es an Ideenvielfalt nicht mangelte, stellten den Bezug zu unserer Jetztzeit dar. Eine gelungene Demonstration, dass der Konzertsaal und das Kammerorchester nach wie vor noch eine Rolle im zeitgenössischen Musikgeschehen einnehmen.
Ein Abend, an dem man sich wünschte, viel mehr Zeit für die einzelnen Kompositionen zu haben, um das Paket an Informationen, das jede einzelne in sich trägt, noch besser zu entschlüsseln und genießen zu können.

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