Auch Unterträgliches muss erzählt werden dürfen

Auch Unterträgliches muss erzählt werden dürfen

von | 11. Mai 2021 | Theater

Michaela Preiner

„Weiter leben“ (Foto: © Alex Lazarov)

11.

Mai 2021

Es gibt nicht mehr viele Zeitzeugen, die den Horror des Holocaust miterlebt haben. Nach und nach verlassen sie uns – wie Ruth Klüger, die voriges Jahr im Herbst verstorben ist. Ihr Vermächtnis – „weiter leben“ – ist in Buchform erschienen und schildert ihr Leben als Kind in Wien zu Beginn der Nazi-Zeit, ihre Auswanderung in die USA und ihren Willen, das Erlebte weiter zu geben.
MAKEMAKE-Produktionen hat sich dieser Erinnerungen angenommen und sie in ein theatrales Erlebnis verwandelt. Den Lockdown-Zeiten geschuldet, auf andere Weise als ursprünglich geplant, wurde „Weiter Leben“ in eine „begehbare Videoinstallation“ verwandelt, die an vier verschiedenen Orten erfahrbar wird. Ausgestattet mit einem kleinen Plan, auf welchem die verschiedenen Locations mit dem Beginn der jeweiligen „Vorstellung“ eingezeichnet ist, macht man sich auf den Weg. Dabei will es der Zufall, ob man an Ruth Klügers letzter Station beginnt, in der sie über ihr Leben und ihre Ehe in Amerika berichtet, oder auch in jener, in welcher ihre Erinnerungen beginnen und sie über ihre Flucht aus dem letzten Lager, in dem sie mit ihrer Mutter inhaftiert war, erzählt. Die Regisseurinnen Sara Ostertag und Kathrin Herm wählten das Hamakom, das „Milieu Kino“ in der nahe gelegenen Praterstraße und zwei verschiedene Räumlichkeiten im Odeon – alles Stationen, die fußläufig voneinander in wenigen Minuten gut erreichbar sind.

Wer glaubt, dass die Videoeinspielungen auch zuhause am Bildschirm konsumiert werden könnten, irrt gewaltig. Denn die Räume mit ihren sensiblen Installationen sind wie atmende Wesen oder Zeitkapseln, welche bestimmte emotionale Stimmungen vermitteln, in die man augenblicklich eintaucht. Diese grandiose Ausstattung stammt von Max Kaufmann, Eva Grün und Mirjam Mercedes Salzer.

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„Weiter leben“ (Foto: © Alex Lazarov)
 

Dabei kommt man sich manches Mal vor wie in einem Hörsaal, dann wieder wie in einem Kino, in dem der virtuelle Sitznachbar unangenehm nah an einen rückt, um eindringlich von Ruth Klügers Kindheitstrauma während einer Filmvorführung zu erzählen. Man steigt aber auch in einen Luftschutzkeller hinab und findet sich dort plötzlich einem Zug im Dunkeln gegenüber, auf den man ins völlig Ungewisse zugeht.

Geräusche und Gerüche, der Wechsel von Licht und Dunkel, aber auch die ein- oder andere räumliche Überraschung fügen sich zu einem Gesamtkunstwerk, in dessen Mitte man sich befindet. Obwohl man sicher ist, „nur“ Videos gegenüberzustehen oder auch zu sitzen – je nachdem wie man es sich aussucht – glaubt man doch häufig, dass im nächsten Moment jemand aus dem Ensemble neben einem auftaucht, so geschickt haben die beiden Regisseurinnen die Settings installiert. Jedes für sich ein Meisterwerk, jedes für sich mit einem anderen Erzählschwerpunkt versehen und doch gehören sie alle puzzleartig zusammen und lassen ein Leben Revue passieren, von dem es Wert ist, mehr zu erfahren.

Die Kernbotschaft, die Ruth Klüger uns hinterlassen hat, kommt klar und deutlich an. Sie, die all das Grauen überlebt hat, um danach darüber zu berichten, musste fast ein ganzes Leben lang darauf warten, tatsächlich gehört zu werden. Klar und deutlich spricht sie aus, dass sie lange nicht verstehen konnte, dass niemand ihre Geschichte hören wollte, sie aber nicht dazu bereit war, ihre eigene Vergangenheit zu verleugnen und zu verdrängen. Und sie hinterlässt die Erkenntnis, dass die Weitergabe von Wissen, von dem, was man selbst erlebt hat, für alle Beteiligten heilsam sein kann. Nicht nur für jene, die erzählen, sondern auch für jene, die zuhören. Eine Tugend, die wir vielleicht gerade in Zeiten wie den unsrigen wieder kultivieren sollten.

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„Weiter leben“ (Foto: © Alex Lazarov)
Alireza Daryanavard und Martin Hemmer treten in wechselnden Ruth-Klüger Identitäten auf, Anne und Emma Wiederhold schlüpfen in konstante Mutter-Tochter-Rollen. Beeindruckend klar, standhaft und mit wachem Verstand vermitteln sie ganz unterschiedliche Facetten von dieser beeindruckenden Frau und machen sie in ihren Performances, ohne sie zu imitieren, menschlich erfahrbar.

Ein eindrucksvolles Theatererlebnis, ganz abseits von Theater, wie man es sich auch in regulären Spielzeiten idealer nicht vorstellen kann.

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