Straßburg 1400, Ein Kunstzentrum in Europa zur Zeit der Gotik

Freunde gotischer Kunst möchte ich dieses mal eine ganz spezielle Ausstellung ans Herz legen. Obwohl „Straßburg 1400, Ein Kunstzentrum in Europa zur Zeit der Gotik“ mit einigen besucherunfreundlichen Mängeln behaftet ist, präsentiert sie sich, trotz ihres eher sperrigen Titels, als wahres Schatzkästchen mittelalterlicher Kunstwerke. Und dies nicht nur in Straßburg, wie der Titel glauben machen möchte. In Erweiterung der Schau, die bis 6. Juli im Musée de L´Oeuvre Notre-Dame, gleich gegenüber des südlichen Langschiffes der berühmten Straßburger Kathedrale, stattfindet, kann man nämlich auf 4 Wegen, die auch ins Schweizerische und Deutsche führen, auf den architektonischen Spuren der Gotik wandeln. Als Einstieg in die Thematik ist die Präsentation von über 100 Kunstwerken im Museum selbst zu empfehlen. Die Ausstellungsverantwortlichen haben aufgrund zahlreicher Leihgaben aus Museen aus dem Ausland schöne Vergleichsbeispiele für jene Werke zusammengestellt, die Straßburger Provenienz zuzuordnen sind und in dieser Kombination wohl einmalig präsentiert werden.

All jene, die des Französischen nicht mächtig sind, sollten sich gleich beim Kassenpersonal um die gedruckten Erklärungen in deutscher Sprache bemühen – eine zweisprachige Beschriftung der Erklärungstäfelchen gibt es leider nicht. Verwunderlich, rühmt sich das Elsaß mit seiner wechselhaften Geschichte doch nach wie vor, zweisprachig zu agieren. Dass die derzeitige Regierung, aber auch schon die vorangegangenen, tunlichst bemüht sind, diesen Landstrich sukzessive zu frankophonisieren, erfährt man mit nicht verborgenem Wehmut, wenn man ins Gespräch kommt, gerne von der älteren Generation. Wie dem auch sei, verwunderlich ist die Vorgehensweise der Verantwortlichen für die Ausstellung allemal, bietet sie doch nicht nur die bereits erwähnten, grenzüberschreitenden Besuchswege, sondern auch spezielle Führungen in deutscher Sprache an. Diese jedoch nur an bestimmten Sonntagen. Führungen in deutscher Sprache Ein rechtzeitiger Blick auf die homepage ermöglicht einen zeitlich dementsprechend ausgerichteten Besuch.

Nun aber zu den highlights: im ersten Raum wird auf die Rolle Straßburgs um 1400 in Europa hingewiesen. Urkunden, wie der „Lettre de serment“, der sogenannte Schwörbrief, aus dem Jahre 1413, bezeugen die alljährlich öffentlich kund getane Loyalität der Straßburger Bürger, ihrem jeweiligen „Ammeister“ (Bürgermeister s. Kommentar) gegenüber. Diese Tradition findet sich noch heute ungebrochen seit dem Mittelalter in Ulm und der jüngst gewählte, neue Bürgermeister der Stadt Strasbourg ließ ebenfalls wieder einen Schwörbrief aufsetzen, um darin seine während der Wahlzeit gegebenen Versprechungen festzuhalten und sich daran messen zu lassen. Ein schönes Zeichen, wie jahrhundertealte Tradition bis heute nachwirkt und in die Gegenwart transformiert werden kann. Der zweite Raum bringt eine kleine kunsthistorische Sensation. Zu sehen ist die sogenannte „Dominikanische Kreuzigung“, das erste Tafelgemälde nördlich der Alpen aus den Jahren 1410 – 1415, welches erst kürzlich von Philippe Lorentz, dem wissenschaftlichen Leiter der Ausstellung, Hermann Schadeberg zugeschrieben werden konnte.

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Die Zuschreibung zu dem Straßburger Künstler, ist die letzte in einer langen Reihe und konnte aufgrund von Vergleichen des hauseigenen Archives stattfinden. Das Gemälde weist mit einer kleinen Kuriosität auf, denn zu Füßen des Gekreuzigten ist ein knieender Dominikanermönch verewigt. Die Expressivität des Gekreuzigten sowie der beiden Schächer beeindruckt noch heute, obwohl unsere Augen und Köpfe voll der Gräuel der täglichen, medialen Berichterstattung sind. Die direkte, ja fast intime Auseinandersetzung mit einzelnen Kunstwerken, und seien sie auch 500 Jahre alt, können nach wie vor emotionale Betroffenheit und Anteilnahme hervorrufen – so man diese Gefühle auch tatsächlich zuläßt.

Neben wunderbaren Handschriften, Glasfenstern und Skulpturen findet sich in einem weiteren Raum ein kleines Gemälde aus den Jahren 1410 bis 1420.

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„Das Paradiesgärtlein“, eine Leihgabe des Städels in Frankfurt, oft beschrieben ob seiner übervollen Ikonographie. Sie wird einer großen Tafel, nämlich der „Maria in den Erdbeeren“, die im Museum in Solothurn beheimatet ist, gegenübergestellt. Eindeutig sind die Parallelen der beiden Bilder zu erkennen; die manirierte Handhaltung Marias mit den gelängten Fingern oder auch der kleine Jesusknabe mit seinem runden, ja pausbäckigem Gesichtchen und seinem charakteristischen, dreiteiligen

Strahlennimbus, welcher auf die Dreieinigkeit Gottes verweist. Man kann sich den Gemälden ohne jedes Vorwissen nähern und sich alleine an der Farbenpracht und der gekonnten Maltechnik erfreuen. Wesentlich interessanter jedoch wird es, wenn man sich mit der überbordenden Symbolik der abgebildeten Gegenstände beschäftigt.

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So finden sich bei beiden Bildern die Dargestellten jeweils in einem „hortus conclusus“, einem durch Mauern von der Außenwelt abgeschlossenen Garten – ein Hinweis auf die Jungfräulichkeit Marias. Die abgebildeten Pflanzen sind alle genau bestimmbar und reihen sich ebenfalls in die marianische Symbolsprache ein, die zu jener Zeit ihren Höhepunkt erlebte. Die detailgetreue Wiedergabe der Vogelwelt zeigt nicht nur, dass der Künstler selbst über ein hervorragendes zoologisches Wissen verfügte, sondern gibt auch Auskunft über die verschiedensten Bezüge der Vögel in Zusammenhang mit der Lebensgeschichte von Jesus und Maria, die im Mittelalter in der Volksfrömmigkeit tradiert wurde und ihren Niederschlag in der „Legenda aurea“ fand, einer Sammlung von Legenden und Lebensgeschichten Heiliger, verfasst im 13. Jahrhundert vom Dominikanermönch Jacobus de Voragine. Die kleinen Walderdbeeren wiederum galten im Mittelalter aufgrund ihrer Dreiblättrigkeit sowohl als Hinweis auf die Dreieinigkeit Gottes, als auch als Speise für verstorbene Kinder; und tatsächlich weist das große Tafelbild am rechten, unteren Rand eine kleine, knieende Figur auf, die von den Kunsthistorikerinnen und Kunsthistorikern als ein verstorbenes Kind interpretiert wird. Die Hilfe der Gottesmutter sollte mit diesem gestifteten Bild wohl erbeten und zugleich das Gedenken an den Verstorbenen aufrecht erhalten werden. Obwohl heute weder Name noch weitere Umstände über den Tod des Kindes bekannt sind, ist doch die Innigkeit und die Hoffnung seiner zurückgelassenen Familie noch spürbar. Hoffnung auf eine Auferstehung und ein Leben in einem Paradies, wie in jenem abgebildeten Garten, umrahmt von Rosen und bedeckt mit Walderdbeeren. Dass die Betrachtung in uns heute noch ein warmes Mitgefühl auslösen kann, ist für mich ein wahrhaftes Indiz der Lebendigkeit und Größe dieses Kunstwerkes.

Eine skulpturale „Kuriosität“ wiederum verbirgt sich in einem kleinen Nebenraum, der sogenannte „Trompeter der großen Orgel“. Eine lebensgroße Figur, die normalerweise mit zwei weiteren in großer Höhe unter der Orgel des Münsters angebracht ist und für die Ausstellung ihren angestammten Platz verlassen hat. Die einem Straßburger Künstler zugeschriebene Holzskulptur zeigt einen Trompeter in der damaligen Heroldstracht in rot und weiß, den Farben Straßburgs. Mit seinen derben, ja überzeichneten Gesichtszügen und seinen beweglichen Armen steht er für eine mittelalterliche Tradition der Effekthascherei, die wir uns heute, angesichts der durchritualisierten Gottesdienste, schwer vorstellen können. Dem Klerus war zu jener Zeit jedes Mittel recht, um Besucher in die Kirche zu locken, und so wurde nicht nur der gezeigte Trompeter, sondern auch der wesentlich bekanntere, jedoch nicht ausgestellte „Roraffe“ dafür verwendet, den Gläubigen ein wahres „Volksschauspiel“ zu bieten. Zu bestimmten Anlässen, wie z.B. Pfingsten, schlüpften bekannte Straßburger in den Roraffen, und wetterten, was das Zeug hielt, in derben Beschimpfungen gegen den Klerus. Erst die Reformation machte dieser volkstümlichen Sitte den Garaus, die Figuren selbst jedoch blieben bis heute erhalten.

In dem der ausgestellten Skulptur vorgelagerten Raum befinden sich – in großem Kontrast zu jenem – einige wunderbare Exemplare von „schönen“ Madonnen. Diese, nach den lieblichen Gesichtszügen und prachtvollen Gewandungen der Gottesmutter benannten, gotischen Skulpturen, sind zum Teil für die Ausstellung aus Kirchen aus dem Umland Straßburgs entliehen. Ihre Farbfrische und wie neu wirkende Vergoldung verdanken sie der nach wie vor andauernden Marienverehrung, die es nicht gestattet, Alterungsspuren oder Verwitterungen zuzulassen. Viel mehr werden diese Kunstwerke einer kontinuierlichen Pflege aber auch häufigen Restaurierung unterzogen, was besonders in der Farbigkeit der Fassungen der Gesichter und Hände erkennbar wird. An diesen Werken soll – laut Forschungsberichten – ein bestimmtes Charakteristikum der Straßburger Gotik sichtbar werden, nämlich eine gewisse Weichheit und Anmut, welche den Ausdruck der Figuren prägen. Diese, sowie andererseits die herausragende Expressivität, wie schon in der „Dominikanischen Kreuzigung“ eingangs beschrieben, stellen die Ausstellungsmacher als regionale Kennzeichen der gotischen Kunst in Straßburg dar. Nun – dies ließe sich jedoch meines Erachtens nach auch für andere Regionen nachweisen. Hier mag wohl ein unbedingtes „Wollen“ einer gewissen Eigenständigkeit in der gotischen Kunst um 1400 im oberrheinischen Raum der Vater des Gedanken gewesen sein. Ich möchte hier nur auf die ausgezeichnete Sammlung gotischer Kunstwerke im Joanneum in Graz hinweisen, in welcher just oben beschriebene, singuläre Charaktersitika jedoch ebenso gut zu beobachten sind.

Das Ende der Ausstellung schließlich wird durch eine skulpturale Installation gebildet, welche Bauschmuck der Zeit um 1400 vom Straßburger Münster zeigt. Figuren, die aufgrund ihrer Anbringung in schwindelerregender Höhe sonst gar nicht zu erkennen sind, können hier ganz nahe bestaunt werden. Sie geben ein kleines Zeugnis des reichen Bildprogrammes des Straßburger Münsters, dessen Besuch man im Anschluss an die Ausstellung unbedingt anstreben sollte. Was in der Schau exemplarisch und eher wissenschaftlich vorgeführt wird, ist im Straßburger Münster nach wie vor live zu erleben. Kunst als ästhetisches Anschauungsmoment aber auch als Mittel zur Kontemplation.

Der aufwändig gemachte und schön bebilderte Katalog weist leider zwei gravierende Mängel auf. Erstens fehlt auch hier die Zweisprachigkeit und zweitens ist er eher ein wissenschaftliches Instrument, das Auskunft über bisherige und neuere Zuschreibungen gibt, aber leider nur sehr wenig grundsätzliche Informationen. Wohl ein Indiz für den Elfenbeinturm, in dem sich viele kunsthistorisch Gebildete auch heute noch befinden.

Dennoch abschließend: Ein Besuch Straßburgs anläßlich dieser Ausstellung lohnt sich und, begibt man sich anschließend auf eine der vorgeschlagenen „Parcours“, dann sollte man auch die leiblichen Genüsse nicht vergessen. Denn Essen und Trinken hält nicht nur Leib und Seele zusammen, sondern ist besonders im Elsaß von einer langen Tradition geprägt, die auch heute noch dementsprechend mundet.

p.s. Ein wunderschönes Buch, auch in deutscher Sprache herausgegeben, begleitet die Exkursionen rund um Straßburg. „1400 Esaß und Oberrhein im gotischen Europa“ zeigt hauptsächlich architektonische Kostbarkeiten aber auch Pläne und Bauplastik. Herausgegeben von der Edition Lieux-Dits bringt es auf 192 Seiten 230 Farb- und Schwarz-Weiß-Abbildungen.

Infos unter: www.strasbourg1400.com

Bilder: „Dominikanische Kreuzigung“
Hermann Schadeberg, La Crucifixion au Dominicain, Strasbourg, vers 1410-1415 Sapin H. 1,26 m, L. 0,87 m Colmar, Musée d’Unterlinden, © D.R.

Paradiesgärtlein
Peintre actif à Strasbourg au début du XVe siècle, Jardin du Paradis (Paradiesgärtlein)
Strasbourg, vers 1410-1420, Peinture sur bois de chêne
H : 26,3 cm ; L : 33,4 cm, Francfort, Städelsches Kunstinstitut,
© Photo : Ursula Edelmann, Artothek

Maria in den Erdbeeren
Maïtre du Paradiesgärtlein, La Vierge aux fraisiers, Strasbourg, vers 1425
Peinture sur bois, H. 145 cm ; L. 87 cm, Soleure, Kunstmuseum,
© Kunstmuseum Solothurn

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1 Kommentar

  1. Bitte beachten! Der Strassburger Ammeister ist nicht identisch mit dem Bürgermeister (= Stettmeister)- bei dem Ammeister handelt es sich um den obersten Vertreter der Zünfte; der Stettmeister hingegen ist ein Adliger.

    Mit bestem Gruss

    Ute Le Quintrec-Obermeit
    Übersetzerin
    Strassburg

    Anlage:
    https://fr.wikipedia.org/wiki/Bourgmestre / https://archives.strasbourg.fr/Pdf/mariotte.pdf
    voir également:
    https://www.rzuser.uni-heidelberg.de/~cd2/drw/e/am/mann/meis/ammannmeister.htm#AMMANNMEISTER
    ou bien : https://www.rzuser.uni-heidelberg.de/~cd2/drw/e/am/meis/ammeister.htm : Zusammenziehung aus Ammannmeister.

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