Tiefe Liebeslabyrinthe

Tiefe Liebeslabyrinthe

Tiefe, dunkle Liebeslabyrinthe

Von Aurelia Gruber

Petra Gstrein als Maslans Frau (Foto: Martin Schwanda)

05.

August 2018

Eine Bäuerin und eine Psychotherapeutin. Vermeintlich gegensätzlicher können die Figuren nicht sein, die ihren Auftritt in der Thalhof-Wortwiege haben. Und denoch eint sie jenes Schlachtfeld, das salopp Liebe genannt wird.

U nter der Regie und Theater-Hausherrin Anna Maria Krassnigg werden in diesem August gleich fünf neue Inszenierungen präsentiert. Vier davon werden zu je einem Doppel zusammengespannt und als zwei Einakter pro Abend hintereinander gespielt.

Der erste ist davon ist eine Dramatisierung eines Textes von Marie von Ebner-Eschenbach – einer unterschätzten Autorin und zugleich radikalen Vorkämpferin des Feminismus. Der zweite ist als Antwort auf dieses Stück zu verstehen oder – wie die Theatermacherin es eleganter ausgedrückt – als „Echo“ zu jenem.

In den ersten beiden Premieren kamen „Maslans Frau“ und „Tiefer als der Tag“ von Anna Poloni zur Aufführung und stellten das vierköpfige Ensemble, das in beiden Stücken agierte, vor eine ziemliche Herausforderung. Nicht nur der Sprachduktus der beiden Texte ist völlig unterschiedlich. Auch die Figuren agieren einmal aus ihrem historischen Kontext, sind im Poloni-Stück aber einem zeitgenössischen Habitus angepasst, weit entfernt von Ebner-Eschenbachs Protagonisten und Protagonistinnen. Am Rande sei bemerkt, dass alle Ensemblemitglieder ausnahmslos ihre Ausbildung am Max-Reinhardt-Seminar genossen. Sicherlich ein Umstand, der hilfreich ist, wenn man bedenkt, dass die Produktionen mit extrem wenig Probenzeiten auskommen müssen. Geschuldet ist dies einerseits dem Budget, andererseits dem Umstand, dass der Thalhof nicht jahresdurchgänig bespielt wird.

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„Maslans Frau“ v.l.n.r Jens Ole Schmieder, Daniel F. Kamen, Martin Schwanda (Foto: Christian Mair)

Maslans Frau

In „Maslans Frau“ wird die Geschichte einer reichen Bäuerin erzählt, die gegen den Willen ihres Vaters eine Liebesheirat mit dem Sohn des Müllers begeht. Nach anfänglichen, harmonischen Eheeinstimmungen driften die beiden jedoch immer weiter auseinander, bis Evi letztlich ihrem Mann das Betreten des gemeinsamen Hauses verbietet. So drastisch der Schritt auch erscheinen mag, für sie ist es ein Befreiungsschlag, allerdings zu einem hohen Preis. Die bis dahin sichtbar ausgelebte Liebe wird radikal kalt gestellt und in den Bereich des Hoffens verbannt.

Die Regie verzahnt geschickt die Erzählung dieser Ehegeschichte mit kurzen Rückblenden. Darin kommen die Liebenden mit Kernsätzen selbst zu Wort, währenddessen der Doktor dem jungen, kürzlich zugereisten Pfarrer versucht, die Verwicklungen der Seelenstränge der beiden im Parlierton klarzumachen. Unterlegt mit einem fein ziselierten, hoch atmosphärischen Sound (Christian Mair) beginnt das Spiel choreographisch präzise. Jeder Schritt, jede Geste von Maslan und Evi sind anfänglich synchron. Je weiter jedoch ihr Auseinanderleben voranschreitet, umso weniger beziehen sich beide in ihrer Körpersprache aufeinander.

Petra Gstrein macht in der Rolle der Evi unmissverständlich klar, dass Liebe etwas ist, das sich nicht schwarz oder weiß gesehen werden kann. Ihr Stolz und ihr Leid liegen ganz knapp nebeneinander, überschneiden sich zum Teil, belassen ihr aber in jeder Lebensminute ihre Würde. Jens Ole Schmieder als ihr Mann verwandelt sich vom virilen, jungen Herzensbrecher in einen sterbenden Mann, der bis zum Schluss qua seines Geschlechtes auf sein Hausrecht beharrt. „Ich bin der Herr!“, ertönt unerwidert mehrfach in den Saal. Sein Gottesschwur, seine Frau auch in größter Not nicht zu rufen, lässt ihn letztlich alleine und ohne Trost und Hilfe sterben.

Daniel F. Kamen als Pfarrer und Martin Schwanda als Doktor geben ein starkes, antipodisches Paar. Das Duo, der eine der Idee der Verzeihung und Barmherzigkeit verpflichtet, der andere Realist und Pessimist zugleich, lotet das Geschehen zwischen den Beziehungspolen der Maslans in seiner ganzen Tragweite aus. Toll, wie Kamen schwitzend und emotional erregt von Maslan zu Evi, vom Doktor zum Kranken hetzt und mit feinem, böhmischem Dialekteinschlag letztlich sogar gegen seine eigenen Glaubenssätze auftritt. Souverän Martin Schwanda, der gleich zu Beginn den Frieden der Hühner auf seinem Hof der Kampflesust der Menschen gegenüberstellt und sich in keiner Sekunde des turbulenten Geschehens aus der Ruhe bringen lässt. Mit einem Bauernkasten, zwei Bauernstühlen und einem auf einem modernen Metallgestell montierten Trog ist das Bühnenbild (Lydia Hofmann) ausreichend ausgestattet. Der Blick, den man auf den Sitzen wahrnimmt, darf dabei immer wieder durch die großen Fenster in das weite Land vor dem Thalhof gleiten und die ländliche Umgebung ins Geschehen holen. Die wunderschönen Kostüme von Antoaneta Stereva, obwohl nicht authentisch-historisch, holen die Vergangenheit der Figuren in die Gegenwart und charakterisieren diese auf den Punkt gebracht.

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Maslans Frau (Fotos: Christian Mair)

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Tiefer als der Tag (Fotos: Christian Mair)

Tiefer als der Tag

Anna Poloni antwortete in ihrem Stück „Tiefer als der Tag“ auf die Liebesabgründe von Maslan und seiner Frau auf eine spezielle Art. Ihre Figuren – die Psychotherapeutin Dr. Alba (Petra Gstrein) und der Anwalt Spor (Daniel F. Kamen) stecken jeder für sich in einer tiefen Liebeskriese, was sich erst im Verlauf des Stückes offenbart. Spor möchte für einen seiner Kunden, einen Politiker, ein Attest besorgen, das aussagt, dass dessen Frau krankhaft promiskuitiv sei. Tatsächlich jedoch will er sich an der Frau des Politikers rächen. Ihre verschmähte Liebe treibt ihn in die Praxis von Dr. Alba, die diese höchst unkonventionell führt.

Praktiziert wird nur nachts und das unter Alkoholzuspruch. Sokol (Martin Schwanda), „bärtige Vorzimmerdame“ und ehemaliger Brandmeister, bietet reichlich Gin an, „damit es leichter geht“ und erweist sich am Ende des Stückes als mehr als nur Beschützer und Aufpasser der jungen Therapeutin. Jens Ole Schmieder hat als Milo wenig Text, dominiert Alba dennoch emotional sichtbar auf lange Strecken. Die Beziehungs-Verstrickungen, in welchen sich die Figuren befinden, lösen sich nur zum Teil auf.

Die unkonventionelle Gesprächstherapie mag vielleicht vielen aus der Therapeutenzunft sauer aufstoßen, auf der Bühne zeigt sie prompt Wirkung. Das Ablegen von therapeutischen Konventionen unter leichtem Alkoholeinfluss geht einher mit einer schonungslosen Konfrontation Spors mit seinem wahren Beweggrund, Alba aufgesucht zu haben.

Wie schon in ‚Maslans Frau‘ kommt den Kostümen eine zentrale Bedeutung zu. Wer den Farbcode von Antoaneta Stereva entziffert, weiß schon von Beginn an, dass Alba und Sokol mehr miteinander verbindet als auf den ersten Blick sichtbar ist. Das Rot, das ihre Outfits dezent verknüpft und sich auch in den prallen Ribiselrispen der mit Gin befüllten Gläser wiederfindet, lässt auf ein Liebesbrennen schließen, das im letzten Bild auch sichtbar wird.

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„Tiefer als der Tag“ – Martin Schwanda (Foto: ECN)

‚Maslans Frau‘ und ‚Tiefer als der Tag‘ gehen an diesem Theaterabend eine geistige Liaison ein, die dem Publikum viel Diskussionsstoff bietet. Ob die Überwindung von unverbrüchlichen Treuegedanken letztlich tatsächlich zum Glück führt, darf – zumindest in der Konstellation von Polonis Figuren – stark angezweifelt werden. „Die Liebe ist ein blindes, taubes Tier. Ein Grottenolm.“, visualisiert Alba jene zwischenmenschlichen Gefühle, denen der Mensch schutzlos ausgeliefert ist, wenn er Gefallen an einem anderen findet. Patentrezept, nicht in diese Falle zu tappen, wird aber wohlweislich keines geliefert.

Ein intensiver Theaterabend mit Witz und Tiefgang in einem berauschend schönen Ambiente. Auf die beiden kommenden Inszenierungen, die am 9. August Premiere haben, darf man gespannt sein.

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Das Leben spielt das verrückteste Theater

Das Leben spielt das verrückteste Theater

Die Kinobühnenschau „La pasada – die Überfahrt“ des Salon5 lädt im Metro Kinokulturhaus auf eine Achterbahnfahrt zwischen verschiedenen Realitätsebenen ein.

Sie heißen Caliban oder Antonio. Sie zitieren Verse aus Shakespeares „unaufführbarem Werk der Sturm“, O-Ton Regisseurin Anna Maria Krassnigg. Die übermächtige Leinwand versucht, sich das lebendige Theater, das davor über die Bühne geht, zu krallen. Allein, das Ensemble und der Text sind zu stark. David gegen Goliath könnte man die neue Inszenierung von Anna Maria Krassnigg zusammenfassen, mit dem Ergebnis, dass der ungleiche Kampf in diesem Match unentschieden endet.

Dafür sorgen die brillanten Schauspielerinnen und Schauspieler. Allen voran Erni Mangold. Sie tritt in dem Stück „La Pasada“ von Anna Poloni als Familienoberhaupt der vierten Generation auf, was aber nicht von Anfang an wirklich klar ist. Die höchst kunstvoll verschachtelte Geschichte rund um ein Familiengeheimnis, löst sich erst Stück für Stück im Laufe des Abends auf. Aus einer Geliebten zu Anfang wird eine Urgroßmutter am Ende. Das, was in diesem Leben dazwischenlag, gilt es, step-by-step mit Voranschreiten der Handlung zu enträtseln.

Eine der größten Stärken des Abends liegt in seiner permanenten Verschränkung zwischen dem Geschehen auf der Kinoleinwand und jenem direkt davor auf der Bühne. Wer meint, in der Kunst gäbe es nichts Neues, Entdeckenswertes mehr, der irrt und hat gleichzeitig doch recht. Denn das Genre, in dem sich „La Pasada“ bewegt, ist eigentlich ein historisches. Die Kinobühnenschau ist ein vergessenes Kapitel Kulturgeschichte, in dem Kino und Live-Spiel kombiniert wurde. Allerdings: Die große Leinwand, der Ton, der Farbfilm, all das gab es zu Beginn der bewegten Bilder noch nicht.

Die zweite Stärke aber liegt im Text selbst. Poloni geizt dabei nicht mit Lebensweisheiten, Bonmots und einem subtilen Witz. „Er ist ein kluger Mann. Versteht aus dem Leiden Leben zu machen, nicht umgekehrt“, sagt an einer Stelle die weise Flora über den von ihr aufgenommenen Cal. Eine wunderbare Metapher, die nicht nur das Schicksal des Flüchtlings umreißt, sondern für all jene Menschen steht, die das Leben verstanden haben. Sätze wie diese, und davon gibt es viele, geben dem Stück etwas sehr Kostbares. Man bekommt große Lust, es noch einmal nachzulesen. Besonders auch die Verquickung, die Poloni zu Shakespeares Sturm gelingt, beeindruckt. Gerade die multiplen Layer, die sich in diesem Werk auffinden lassen, machen es so hoch spannend. Dabei kann man sich über weite Strecken seiner eigenen Erkenntnis, die man bis dahin gewonnen hat, nie sicher sein. Denn im Handumdrehen muss man seine Anschauung dann auch wieder revidieren.

Familiengeheimnisse beeinflussen direkt das Leben der Nachkommen. Geheimnisse, die auf Lebensentscheidungen basieren, die sich im Fortgang der Generationen wiederholen. Schuld wird nur bei den anderen gesehen, die Auswirkungen des eigenen Verfehlens nicht in die kommenden Generationen weitergedacht. Eingedenk der Familienaufstellungen, die rund um den Globus beinahe schon zum guten Ton gehören, ist „La Pasada“ ein extrem zeitgeistiges Stück und doch zeitlos zugleich.

Die unterschiedlichen Ebenen zwischen Theater und Film werden gegen Ende noch durch die der Einbindung des Publikums erweitert. Eine logische, dramaturgische Konsequenz, die damit die unterschiedlichen Realitäten miteinander in Einklang bringt und eine zusätzliche Prise Humor ins Geschehen einstreut.

Die Kostüme von Antoaneta Stereva wiederholen die Verschränkung nicht nur zwischen Leinwand und Bühne, sondern auch über die Generationen hinweg und geben mit subtilen Farbcodes Hinweise auf familiäre Zusammenhänge.

Erni Mangold als weise Urgroßmutter, die sich, ausgelöst durch den Besuch ihres Urenkels, daranmacht, ihr Lebensgeheimnis zu lüften, ist ausschließlich im Film präsent. Gioia Osthoff hingegen, die Reinkarnation von Flora und der Beginn einer neuen Familiensaga, hat eine extrem anstrengende stumme Rolle auszuliegen. Flavio Schily, derzeit noch im Gymnasium tätig, schafft das Kunststück, mit jugendlicher Unbekümmertheit Erni Mangold einen wunderbaren Gegenpart entgegenzusetzen. Doina Weber in der Rolle der Extremverdrängerin und zugleich lamentierenden Anklägerin erkennt Martin Schwanda nicht als ihren Sohn. Dieser stottert sich als Altphilologe (die Sprache ist ein Dialekt, der Glück gehabt hat) durchs Leben, brilliert aber auch als Verführer der jugendlichen Flora und als späterer Familienvater. Antionis Mutter (Doina Weber) ist es lieber, weiter in Albträumen zu verweilen, die ihr die Schuld der Weglegung ihres eigenen Kindes verschleiern, als den leibhaftig vor ihr Stehenden als eigenes Fleisch und Blut anzuerkennen. David Wurawa als Vermittler zwischen allen Welten und Wirklichkeiten schwankt permanent zwischen Konjunktiv und Vergangenheit, die ja „auch nichts anderes ist als ein Konjunktiv“.

Das Stück wurde bereits im Sommer im Thalhof uraufgeführt. Die Inszenierung in Wien, in der kleine Änderungen vorgenommen wurden, besticht durch ihre Intimität und Konzentration und nicht zuletzt durch den Aufführungsort selbst.

Nur noch bis 28. November!!!
Informationen auf der Homepage von Salon5

Das kalte Land

Das kalte Land

Der Thalhof in Reichenau erlebte nach seiner Neueröffnung vor rund einer Woche nun bereits die zweite große Theaterpremiere. Anna Maria Krassnigg inszenierte „La Pasada – Die Überfahrt“ von Anna Poloni. Die Uraufführung eines spannenden Textes, in welcher der Thalhof selbst eine Hauptrolle spielt, setzt in der Inszenierung neue Maßstäbe.

Beim Betreten des großen Saales im Thalhof riecht es stark nach Weihrauch. Es ist eine wirksame Einstimmung auf Kommendes. Ein überdimensionaler, weiß betuchter Tisch erhöht sich an einer seiner Schmalseiten merklich. David Wurawa betritt den Raum mit einer schlanken Gestalt im Arm, die er auf das erhöhte Tischteil ablegt. Er schlägt das weiße Spitzentuch vom Gesicht, doch zu erkennen ist eine schwarze Maske. Ein Memento mori von dem man nicht weiß, ob es ein Artefakt ist oder ob sich darunter etwas Menschliches verbirgt. Ein von einer Banda gespielte Trauermarsch setzt ein und bald ist es klar: Hier werden Vorkehrungen für eine Totenfeier getroffen.

„La Pasada – Die Überfahrt“ ist das dritte Bühnenstück nach „Camera Clara“ und „Carambolage“ von Anna Poloni. Seine Premiere erlebte es am Thalhof, jener Wortwiege an der Rax, die in diesem Frühsommer neu eröffnet wurde. Anna Maria Krassnigg, die neue Intendantin des renovierten Hauses, hat das Stück inszeniert. Es hat weder etwas sommerlich Leichtes an sich, noch ist es ein Kammerspiel, das man mit zwei, drei Requisiten zur Aufführung bringen kann. Denn „La Pasada“ spielt in unterschiedlichen Ländern zu unterschiedlichen Zeiten und hat doch einen Fixpunkt, von dem aus erzählt wird: Der Thalhof selbst.

Ein altes Mädchen und ein junger Mann schreiben Familiengeschichte

Erni Mangold verkörpert die Hauptrolle, Flora Stern – ein Mädchen von 86 Jahren, wie sie in einem Oxymoron beschrieben wird – und ist dennoch an diesem Abend nicht körperlich anwesend. Denn das Spiel um die Geschichte einer ganzen Familie besteht aus zwei Ebenen. Zum einen ist es das live erlebbare Schauspiel im Thalhof selbst, zum anderen sind es Filmszenen, die auf einen großen Bildschirm eingespielt werden. In ihnen erzählt Flora nach und nach ihre Geschichte Ariel Stern, „einem Jungen im Aufbruch“, wie es im Programm heißt. Er ist von seinen Eltern geflohen und sucht bei Flora, die den Thalhof bewohnt und die er anfänglich für seine Großmutter hält, Asyl. Auf der Suche nach seinem eigenen Lebensweg hinterfragt er die Wurzeln seiner Vorfahren. Flavio Schily beeindruckt in der Rolle des suchenden, vermeintlichen Enkels enorm. Derzeit besucht er noch die Oberstufe in einem Wiener Gymnasium, aber er agiert vor der Kamera bereits höchst professionell, ohne dass sein Spiel in einer Sekunde aufgesetzt wirkt. Als Ari bringt er Flora dazu, ihm mithilfe eines Memory-Spieles die großen Stationen ihres Lebens zu erzählen.

David Wurawa mimt Cal, einen Afrikaflüchtling, der Flora an einem spanischen Strand kennenlernte. Wider jede Konvention nimmt sie ihn, selbst schon in den 80ern, bei sich auf. Er wird zum Katalysator der Veröffentlichung jener Ereignisse aus der Vergangenheit, die fest verschüttet jede Menge Unheil in das Leben der Familie von Flora brachten. „Die Wahrheit ist ein pathetischer Schwachsinn“ verkündet Dolores an einer Stelle zynisch. Die adäquate Übersetzung für sie lautet, lieber Lügen verinnerlichen, als der Wahrheit ins Gesicht sehen müssen. Sie wähnt sich als betrogene Tochter, deren Vater seine Geliebte, Flora, sein Leben lang nicht vergessen konnte. Doina Weber gibt der verbitterten Frau, die sich als Künstlerin lieber mit „Steinköpfen“ als mit lebenden Menschen umgibt, scharfe Konturen.

Ein Familiengeheimnis, das Seelen zerstört

Anna Poloni arbeitet in ihrem Text nicht nur mit drei Sprachen, Deutsch, Englisch und Spanisch. Sie verwendet darin auch das arrivierte Stilmittel der Montagetechnik. Damit legt sie, wie im visualisierten Memory-Spiel, die Karten des gelebten Lebens von Flora nacheinander auf. Zugleich eröffnet sich dabei so manche Fährte, die sich jedoch bald als falsch herausstellt. Die Autorin zitiert auch Passagen aus Shakespeares „Sturm“, jenem „unspielbaren Stück“, wie es Krassnigg einmal bezeichnete, in dem die Liebe als Naturgewalt über ein junges Mädchen hereinbricht und Verheimlichungen ihres Vaters ein Weltbild in ihr kreieren, für das es keinen Vergleich gibt. Nahe an der Dramaturgie eines Krimis nimmt die Regisseurin das Publikum auf Entdeckungsreise in ein Leben mit, das von Widersprüchen nur so strotzt. Flora verlässt nach der Geburt ihrer Tochter Dolores ihren Geliebten, lässt ihr Neugeborenes jedoch bei ihm. Sowohl der Vater als auch seine Frau – die in der Erinnerung von Dolores dunkel glänzte – klären das Mädchen nicht auf, dass Flora ihre eigentliche Mutter ist. Diese Lüge beeinflusst jegliches weiteres Selbstbild aller nachgeborenen Familienmitglieder und wird erst durch die Fragen des Allerjüngsten, Ariel, aufgelöst.

Die vermeintlich kalte Flora zieht schließlich Anton, den Sohn von Dolores auf, den diese mit 14 Jahren zur Welt brachte. Nach der Geburt entzieht Dolores Vater ihr das Kind, um es zu seiner ehemaligen Geliebten zu bringen. Hier ist es keine Lüge, sondern Unausgesprochenes, Verborgenes, das die noch jugendliche Dolores immer tiefer in Familiengeheimnisse verstrickt. „Heidelbeergroß“, so erinnert sie sich, war ihr Kind, als sie von ihrer Schwangerschaft erfuhr. Aber nachdem sie es weggeben musste, hat sie sich nie mehr darum gekümmert. Als Anton erwachsen ist, verlässt Flora die Stadt und zieht auf den Thalhof, einen Ort zwischen mar y montana. Zwar gibt es im Text selbst keine genaue Definition dafür.  In den Videoeinspielungen, vor allem wenn man noch dazu vor Ort ist, wird der Thalhof jedoch sofort erkennbar. Noch einmal entzieht sie sich mit dem Wegzug aus der Stadt ihrer Familie und wählt eine Freiheit, die sie selbst als „das kalte Land“ bezeichnet. Die sprachliche, aber auch inhaltliche Verschränkung mit Schnitzler, der am Thalhof „Das weite Land“ schrieb – fühlt man an diesem literaturdurchtränkten Platz sofort.

Macht und Ohnmacht von Sprache

Martin Schwanda spielt in einer Doppelrolle sowohl Anton, „el doctor“ als auch den Liebhaber von Flora. Vor einer Woche war er noch als Hochstapler in einer Novelle von Robert Neumann zu sehen. Vor allem seine Verwandlung in einen schrulligen, bärtigen Linguisten, der auf ausgestorbene Sprachen spezialisiert ist, verblüfft unglaublich. Er übt denselben Beruf aus wie der Vater von Dolores und bleibt dabei, trotz all der sprachlichen Fülle mit der er sich umgibt, kommunikationsschwach. Mit der Aussage „die Sprache ist ein Dialekt, der Glück gehabt hat“, verweist er auf die Tatsache, dass historisch betrachtet bisher weltweit mehr Sprachen verschwunden sind als derzeit noch gesprochen werden. Aber zugleich auch darauf, dass Sprache ein menschliches Hilfskonstrukt ist, das sich ständig im Wandel befindet und so fragil und bedroht wie der Mensch an sich ist.

„Die Kamera ist mein bester Freund“ hört man einmal sowohl Cal als an anderer Stelle auch Flora sagen. Tatsächlich werden die Filmeinspielungen nicht als reine Kunstprodukte in die Handlung mit einbezogen, sondern vielmehr als dokumentarische Aufnahmen verwendet. Sie wurden von Cal gedreht, um das Leben von Flora und seine Auswirkungen in einer scheinbar objektivierbaren Form festhalten zu können. Was der einen Wahrheit, bleibt für die andere dennoch Lüge. Da kann das Kameraobjektiv noch so nah an die Personen heranrücken. Erni Mangold spielt völlig unprätentiös eine abgeklärte, aber noch immer liebende alte Frau. Ihr Herz hat Platz für Liebe und für Verdrängung gleichzeitig. Cal ist der einzige, der sein Schicksal akzeptiert hat und mithilfe von Flora tatsächlich ein neues Leben beginnen konnte. Die Nähe zu den abertausend Flüchtlingen, die derzeit nach Europa drängen, wird in diesem Stück weder als bedrohlich empfunden, noch als konstruiert. Er, dessen Familie im Mittelmeer ertrunken ist, schafft es trotz aller Bemühungen dennoch nicht, Floras Kinder und Enkel dazu zu bringen, sich auszusöhnen. „Du blinde Frau hast alles“ sagt er zu Dolores am Ende des Stückes. Ihr wäre es nur Recht, wenn niemand ihrer Nachkommen mit ihr Kontakt aufgenommen hätte.

Das Gestern beeinflusst das Morgen

Ein Schreckmoment in der letzten Szene und das Bild von Ariel, der mit seiner Freundin einen Strand entlang marschiert, spannen noch einmal den Bogen zu Flora, von der man zu diesem Zeitpunkt nur weiß, dass sie am Sterben ist. Mit exakt denselben Worten über Nähe und Freiheit wie sie den Beginn ihrer Erzählung einleitete, geht Ariel weg von seiner Familie in seine eigene Zukunft. Aber zumindest mit dem Wissen, dass Lügen und Unausgesprochenes zur Last kommender Generationen werden. Die sehr subtil eingesetzte Musik (Christian Mair), die sich brillant ins Ohr schmeichelt, unterstütz ganz unterschiedliche emotionale Räume. Das Bühnenbild von Lydia Hofmann und die Kostüme von Antoaneta Stereva vermitteln Mittelmeerflair ohne Kitschambiente.

„La Pasada – Die Überfahrt“ ähnelt vom Sprachmuster und vom psychologischen Aufbau der Charaktere von „Camera clara“. In beiden Arbeiten sind es die Untiefen der menschlichen Seele und die Geheimnisse der Figuren, die zu unerwarteten Wendungen führen, aber zum Teil irreparable psychische Schäden hinterlassen. Die höchst kunstvolle szenische Anordnung im neuen Stück mag vielleicht einige aus dem Publikum verwirrt haben. Sie ist aber ein intelligent ausgesuchtes und adäquates Mittel, die tatsächlich verschlungenen Wege von Menschenleben zu veranschaulichen.

Julya Rabinowich zu Gast im spiel.ball

Julya Rabinowich und Anna Maria Krassnigg  beim spiel.ball im Thalhof (c) European Cultural News

Julya Rabinowich und Anna Maria Krassnigg beim spiel.ball im Thalhof (c) European Cultural News

Als Einstimmung dieses Abends bat Anna Maria Krassnigg die Autorin Julya Rabinowich in den Thalhof. Spiel.ball nennt sich das Format, in welchem jeweils vor einer Theatervorführung zeitgenössische Literatur in den Mittelpunkt gestellt wird. Mit einer kurzen Lesung aus ihren beiden Novellen „Die Erdfresserin“ und „Herznovelle“ gab sie einen Einblick in ihr Werk und ließ dabei das Publikum auch in die spannende Entstehungsgeschichte der Herznovelle eintauchen. Ein Buch, das direkt von Schnitzlers Traumnovelle inspiriert wurde und somit auch die Möglichkeit bot, die Sicht von Rabinowich auf diesen Literaten zu verdeutlichen.

Rabinowich beeindruckt darin mit überaus starken Bildern wie einer Herzuntersuchung, in der sie den eingeführten Schlauch mit einer züngelnden Schlange vergleicht oder einer unglaublich komischen, dennoch prosaischen Schilderung eines WC-Besuches. Sie beschrieb im Gespräch emotional nachvollziehbar jenen lähmenden Gefühlszustand, der einen befällt, wenn man in Kulturen eintaucht, deren Schrift man nicht lesen kann. Sie erlebte dies als 7jähriges Mädchen, als ihre Eltern von Russland nach Österreich emigrierten, zu einem Zeitpunkt, da sie längst lesen konnte. Reisen in den asiatischen Raum sind für die Autorin aufgrund dieser einprägsamen Erfahrung ein No-go.

Der Thalhof entwickelt sich mit seiner dichten künstlerischen Programmatik zu einem Ort, an dem Literatur in mannigfaltiger Variation erlebbar wird. Die Quantität aber auch die Qualität der unterschiedlichen Gespräche und Aufführungen verführen förmlich dazu, mehrmals im Jahr dieses Haus zu besuchen und zugleich den Ort Reichenau inmitten seiner ihn umgebenden grünen Überfülle öfter zu genießen.

Sätze so scharf wie Skalpellschnitte

Sätze so scharf wie Skalpellschnitte

Dornstrauch ist auf dem Gipfel seiner Macht. Oder sollte man besser sagen ihrer Macht? Isabella Wolf spielt in dem neuen Stück von Anna Poloni „Carambolage oder der Schwarze Punkt“ jenen androgynen Charakter, der sich erst im Laufe des Abends als weiblich und sogar als Mutter zu erkennen gibt. Als Chefin eines großen Medienkonzernes verschanzt sie sich gerne hinter ihrem riesigen, gerundeten Schreibtisch, auf dem die gemalten Ausläufer von Michelangelos Erschaffung Adams zu erahnen sind, die großflächig den Boden der Bühne zieren. „Ich bin Gott“ oder zumindest „Gott ähnlich“ assoziiert dieser clevere Teil des Bühnenbildes, für das Lydia Hofmann kräftig die Pinsel schwang. Das erste Mal auch in der Geschichte des Hauses wandert das Bühnenbild im Hamakom/Nestroyhof auch hinaus in das Foyer. In einer Renaissance-Replik hat Hofmann dort Fensterstürze und Wände mit ornamentalen Musterbordüren eingefasst – ein mühsam mit Grafitstift erzeugtes Kunstwerk, das diesen Raum mit einer noblen Attitüde ausstattet und mit einem Anflug einer zur Schau gestellten Machtäußerung versieht. Und tatsächlich sind es auch Macht und Ohnmacht, die auf der Bühne verhandelt werden. Positionen, die instabil sind, sich beständig verändern, obwohl es zu Beginn des Anstoßes den Anschein hat, dass die schwarzen und weißen Kugeln im Lebensspiel klar verteilt seien. Auch der Bühnenraum selbst bleibt an diesem Abend nicht statisch, unterliegt einer permanenten Wandlung, wenngleich einer sehr subtilen, die mit wunderbaren Schattenspielen aufwartet und mit einer feinen Lichtregie (Lukas Kaltenbäck) die Wandlung des Dramas spiegelt und unterstützt.

Ein Stück von Musik durchdrungen

Anna Maria Krassnigg, die einen Großteil der Aktivitäten ihres Salon5 ins Hamakom verlegen konnte, um dort gemeinsam mit dem Hausherrn Frederic Lion dem Publikum ein intensiver bespieltes Haus bieten zu können, zeichnet für die Regie verantwortlich. Dabei greift sie auf ein bewährtes Team zurück und setzt starke Akzente mit der Musik von Christian Mair, der an diesem Abend auch auf der Bühne – oder zumindest einem Nebenschauplatz derselben – permanent präsent ist. An der E-Gitarre, hinter einer schwarzen Pilotenbrille die Augen wohl geschützt, agiert er als spiritus musicae, als einer, der das Geschehen musikalisch rhythmisiert, akzentuiert, mit einem zusätzlichen Drive versieht oder zeitweise auch nur akustisch punktuell untermalt.

Das war eine sehr kluge Entscheidung. Denn der Text selbst ist ein musikalisch Geprägter. Und er bietet den Spielenden zusätzlich Raum, Emotionen, die nicht in Sprache ausgedrückt werden wollen, anschaulich zu machen. Krassnigg selbst bezeichnet das Poloni-Werk als ein modernes Königsdrama – Sohn rebelliert gegen seine Eltern und ermordet schließlich seine Mutter, um an die Macht zu kommen. Und doch ist es viel, viel mehr als das – nämlich eine tiefsinnige Systemkritik. Nach dem Erfolg von „Camera Klara oder Wie man leben muss“ ist es das zweite Theaterstück der Autorin, die sich medial völlig bedeckt hält. Vielleicht ist das auch gut so, denn dadurch muss sich die Rezension völlig auf ihre Arbeit konzentrieren, ohne von Privatem abgelenkt zu werden. Poloni hat mit „Carambolage“ einen weiteren Meilenstein in ihrer dramatischen Kunst gesetzt. Mit Sätzen, deren Aussagekraft so scharf wie ein Skalpell in die zeitgenössische Befindlichkeit der westlichen Welt schneidet, dürfte sie zumindest einen Teil ihres Publikums beunruhigen. Jenen, der gewachsene Machtverhältnisse als unumstößlich ansieht auf alle Fälle. „Was tun“ ist das Motto dieser Saison im ehemaligen jüdischen Theater am Nestroyplatz und genau diese Frage stellen sich in Polonis Stück alle Figuren.

Fünf unterschiedliche Charaktere

Dornstrauch, die Konzernchefin und Rabenmutter, die sich nicht um ihren mittlerweile erwachsenen Sohn kümmern wollte. Isabella Wolf brilliert darin als alternde Medienmogulin, die trotz all ihrer Machtfülle am Ende ihres Lebens von Zweifeln und Ängsten aufgefressen wird – und das „fünf Minuten vor Tod. Unpassend“, so eine ihrer letzten lapidaren Äußerungen. Der Vater ihres Sohnes Enrique ist der mit Goldketten behangene Nachtclubbesitzer Don Gian. Schmierig, bedrohlich aber dennoch mit Herz wird er von Martin Schwanda gespielt, der in der Rolle aufgrund der Maske kaum wiederzuerkennen ist. Enrique, der missratene Sohn, Anarchist und Dauerrevoluzzer, scheint Raphael von Bargen wie auf den Leib geschrieben. Seine Verweigerung funktioniert aber nur solange, solange er in seinen Eltern auch tatsächlich eine Reibungsfläche findet. Erst als sein Vater ihm durch einen nicht jugendfreien Song die ständige Gegenoffensive aus der Hand nimmt, muss sich Enrique eine andere, neue Lebensstrategie erfinden. Brand wiederum, jener junge Jurist und Journalist, der es wagt, den Familienskandal seiner Arbeitgeberin aufzudecken, hat in diesem Spiel am meisten zu verlieren. Murali Perumal verleiht dem Charakter trotz der Jugend eine beinahe abgeklärte Identität. Er wird nicht laut, er begehrt nicht auf, aber er weiß ganz genau, dass er das moralische Recht zwar auf seiner Seite hat, das Spiel für ihn aber beendet ist. Und schließlich gibt es noch ein sehr spezielles Wesen. Engel oder auch Angie genannt. Petra Staduan changiert permanent zwischen Schwarz und Weiß, zwischen Himmel und Hölle. Zwar trägt sie die Liebe in sich, aber die ihr zugefügten seelischen Verletzungen – von allen Mitwirkenden – treiben ihr ihre anfängliche Empathie komplett aus.

Jede einzelne Figur in Polonis Werk steuert unaufhörlich jener Katastrophe zu, die am Ende nicht nur einen Verlierer, sondern überhaupt keine Gewinner kennt. Und doch gelingt der multilingual agierenden Autorin mit diesem Stück längst nicht nur ein Familiendrama der zeitgemäßen Art. Vielmehr fängt sie jene Stimmung ein, die sich seit spätestens 2008 landauf, landab als hoffnungslos beschreiben lässt. Das Gefühl, verschiedenen ökonomischen Mächten völlig ausgeliefert zu sein, in ein strikt vorgegebenes Schema passen zu müssen, effizient sein zu müssen und zugleich nichts an Eloquenz zu verlieren, das Gefühl durch die großen Medienkonzerne ununterbrochen manipuliert zu werden, schwingt vom Beginn bis zum Ende mit. Es echot damit nichts anderes als jenen Zukunftspessimismus, der zumindest die westliche Hemisphäre voll und ganz ergriffen hat und dem bislang noch keine wirksamen Gegenstrategien entgegengesetzt werden können. Da bilden alle Protagonistinnen und Protagonisten auf der Bühne neben ihren familiär besetzten Rollen zugleich die Möglichkeit, in ihren Menschenmetaphern jene Zu- und Umstände zu erkennen, die uns unser heutiges Leben so schwer, für viele beinahe unerträglich machen. Dornstrauch steht dabei für jene persönliche Verdrängungsstrategie, die vermeintlich angewendet werden muss, um im beruflichen Umfeld zu bestehen. Don Gian – ihr Gegenspieler – ist mittels seiner sexuellen Virilität und genügend Drohpotenzial in der Lage, sich sein eigenes Triebreich aufzubauen. Außerhalb dieser Mauern jedoch fühlt er sich völlig unsicher. Der aufdeckende Journalist Brand ist eine Art neuer Michael Kohlhaas. Gerechtigkeit ist ihm mehr Wert als das eigene Wohlergehen, weshalb er in der Logik dieser „Jeder-gegen-Jeden-Gesellschaft“ als Aussätziger gebrandmarkt werden muss. Bleibt noch der Engel – eine nicht wirklich fassbare Figur, die sich je nach Windrichtung auch schon einmal gerne mitdreht, die vorgibt zu lieben, aber sich bei der ersten großen Erschütterung in ihr Seelengehäuse zurückzieht und ihre Heilung von anderen Partnern erhofft. Ihre wesentlich komplexere Gefühlslage als die der anderen Mitspielerinnen und Mitspieler darf Petra Staduan in mehreren barockgleichen Arien ausbreiten. Ihr klarer und zugleich zarter Alt ziehen das Publikum magisch in eine andere, nur ihr zugeschriebene und nicht wirklich fassbare Welt. Enrique, der polternde Sozialautist, ist einer von vielen, die das System nur durch Rebellion zu überwinden versuchen. Solange er sich jedoch in diesem Zustand befindet, kann er in die Machtzentrale seiner Mutter nie eindringen. Seine peu à peu vorgenommene Kostümverwandlung vom Punk zum Big Boss macht klar, dass auch ihm kein anderer Weg als jener der Anpassung, ja sogar Assimilierung bleibt, um ein bestimmender Teil des Spieles werden zu können.

Kraft und Verstörung

„Carambolage oder der schwarze Punkt“ ist ein bitterböses, tiefes, berührendes und zeitabbildendes Drama. Ein Stück, und das hat Krassnigg völlig richtig gedeutet, das durch seine Familienkonstellation einen direkten Bogen von uns in die Antike zurückschlägt und dabei noch dazu ohne Miserere auskommt. Wer mit diesem Text nicht kann, und das dürften vielleicht gar nicht so wenige sein, dürfte mit sich selbst nicht können. Hinzu kommt, dass er Bildung und Sprachgefühl voraussetzt, um ihn in seiner Tiefe ausloten zu können. Sätze wie Messerschnitte, Charaktere so verletzt, hart, grausam und unbeholfen wie im richtigen Leben und ein enigmatisches Wesen, eine permanent zum Showdown führende Handlung, ohne die Möglichkeit einmal Luft holen zu können – darin liegt Kraft aber auch Verstörungspotenzial. Das ist harter Tobak. Krassnigg verabreicht ihn – beinahe möchte man sagen – perfide in einer überaus lyrischen Bildsprache. In einem Wechselbad zwischen High-Speed und ruhigen, langsamen Momenten. Für sie ist – und das spürt man an diesem Abend stark – das Theater ein magischer Ort. Ein Ort, an dem Emotionen empfunden werden dürfen, aber auch ein Ort, an dem vor allem gedacht werden darf. Die Frage „Was tun“ beantwortet Carambolage letztendlich nicht. Aber das Stück zeigt überdeutlich auf, dass die Zeit überreif ist, irgend etwas zu tun. Darin liegt seine große Stärke.

Wie man leben muss

Wie man leben muss

Ein Stück, geschaffen wie für ein Kammertheater mit kleinem Ensemble, wird derzeit im Salon 5 in Wien gezeigt. „Camera clara oder Wie man leben muss“ ist eine Koproduktion mit „Les Théâtres de la Ville de Luxembourg und Drama Shop und entstammt der Feder von Anna Poloni.

Jens Ole Schmieder und Luc Feit als Karl und Franz in dem Stück Camera Clara von Anna Poloni

Karl (Jens Ole Schmieder) und Franz (Luc Feit) im Stück Camera Clara - Foto: (c) Bohumil Kosthohryz

Viel hat man von der Autorin bisher noch nicht gehört, umso erstaunlicher ist der in sich geschlossene, kunstvolle und reife Text. Die Handlung ist rasch erzählt: Ein Geschwisterpaar, Marek (Martin Schwanda) und Karen (Petra Gstrein) verbringen aufgrund der Weigerung des Bruders die Wohnung zu verlassen, ihr Leben abgeschottet von der Umwelt. Wäre da nicht Karens Beruf sowie das große Fenster, von welchem aus ihr Bruder beginnt, das Treiben im gegenüberliegenden Gastgarten zu fotografieren. Dort agiert seine Schwester als Lockvogel und versucht so, durch die Kamera ihres Bruders von der Ferne immer beobachtet, sich ein kleines Stück Freiheit zu erobern. Dieser ist jedoch nicht gänzlich unbeteiligter Zuseher, der Momentaufnahmen macht, sondern beginnt, anfangs unmerklich, dann immer stärker Regie im geschwisterlichen Zusammenleben zu führen. Dabei berät er Karen auch bei der „Kostümwahl“ und bittet sie, um besser auf den Fotos erkannt zu werden, immer etwas „Türkises“ zu tragen. Karen, im Gegensatz zu Marek extrovertiert, leidet unter der Enge der häuslichen Gegebenheiten und kommt schließlich auf die Idee, die Fotos ihres Bruders Galeristen zu zeigen. Diese, Franz (Jens Ole Schmieder) und Karl (Luc Feit) scheuen sich nicht, mit ihr ein Verhältnis anzufangen. Beide verheiratet, versuchen so, an die Bilder von Marek heranzukommen, der sich dem „Kunstbetrieb“ völlig verweigert. Auf dramatische Art und Weise beginnt sich das Geschehen plötzlich gegen die vermeintliche Familienidylle des Geschwisterpaares zu wenden, und am Schluss des Abends bleibt kein Stein mehr auf dem anderen. Psychologische Abgründe eröffnen sich, als Karen plötzlich dahinter kommt, dass ihr Bruder ein Doppelleben geführt hat und der Liebhaber mehrerer Frauen war. Das bis dahin traute inzestuöse Geschehen ist nicht mehr reparabel und der Schluss – zumindest in der Bühnenfassung unter der Regie von Anna Maria Krassnigg – tiefschwarz.

Die Autorin vermeidet in ihrem Text allzu rasche Festlegungen, welche die einzelnen Charaktere als gut oder böse kennzeichnen würden. Vielmehr agiert jeder von ihnen wie aus einem inneren Zwang heraus, getrieben von Motivationen, die multiple Ursachen zu haben scheinen, aber nur beiläufig blitzlichtartig zu erkennen sind. Durch die Konstruktionen ihres eigenen Seins verstricken sie sich in Handlungen, die sie selbst im Grunde ihres Herzens nicht gut heißen. Dennoch funktioniert der Mechanismus der Verdrängung bei den meisten von ihnen bestens. Wie sehr der Zugang zur eigenen Urteilsfähigkeit, zur Radikalität mit sich und den anderen bei den Protagonisten außerhalb der Geschwistergemeinschaft fehlt, zeigt eine Aussage von Franz, der Karen und ihren Bruder als jemand beschreibt, bei dem etwas nicht stimmt. „Es ist skandalös – sie lügen einfach nicht!“ stellt er ungläubig fest und charakterisiert dadurch auch jene unsanktionierte, ja auf weite Strecken erwünschte soziale Handlung, welche die Menschen förmlich dazu auffordert, Unwahrheiten ganz im Sinne eines breiten gesellschaftlichen Konsenses zu verbreiten.

Feststellungen wie diese sind das Salz in der Suppe dieses Abends. Pointiert und messerscharf schneiden sie in die wabernde und schlatzige Kommunikationsübereinkunft, die darauf ausgerichtet ist zu verstecken, was keiner sehen will und zu polieren, was im Grunde niemals Wert ist, poliert zu werden. Als Karl dem Künstler wider Willen den zu erzielenden Preis für seine Fotos nennt, fügt er im selben Atemzug hinzu: „Das hat nichts mit Ihnen zu tun – der Markt ist irrational“. Der Markt als Legitimation für Ausbeutung, dem nicht zu entkommen ist.

Die Inszenierung selbst verortet das Geschehen eher in die Zeit der Filme der „nouvelle vague“, ohne jedoch das Jahrzehnt konkret zu bestimmen. Existentialistisches Schwarz trugen Intellektuelle und Künstler damals wie heute. Der Vergleich zur Filmströmung, die von Frankreich aus ging, ist dennoch statthaft. Zwischenmenschliche Beziehungen mit bizarren Strömungswechseln sind, das wird an diesem Abend deutlich, ein Dauerbrenner.
Die Besetzung der Galeristen mit Luc Feit und Jens Ole Schmieder ist ein Volltreffer. Sie liegen in ihrer Interpretation absolut deckungsgleich auf den ihnen zugeschriebenen Figuren. Martin Schwanda als Marek oszilliert zwischen seiner Introvertiertheit und verdeckten Machtausübung. Die zarte Petra Gstrein als Karen ist ein bewusstes Gegenstück zu Kirstin Schwab, die – Lebenslust und Unbekümmertheit pur – als Einzige ihren Emotionen ihren Lauf lässt.

Man darf auf weitere Arbeiten von Anna Poloni gespannt sein!

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