Bei uns wird Geschichte lebendig

Bei uns wird Geschichte lebendig

Er sei Dr. Ignaz Semmelweis und nur ihm sei die Entdeckung der Ursache des Kindbettfiebers zu verdanken. Joseph Listers und Louis Pasteur hätten nur seine Entdeckung wesentlich später berühmt gemacht, ärgert sich der Wiederauferstandene in einer Suada ersten Ranges. Und schon befindet sich die erschrockene Gästegruppe mittendrin im Geschehen.

DER.SEMMELWEIS.REFLEX (Foto: Barbara Pálffy)

DER.SEMMELWEIS.REFLEX vom ‚das.bernhard.ensemble‘ ist die neueste Inszenierung von Ernst Kurt Weigel, ausgestattet mit einer fulminanten Choreografie von Leonie Wahl. Zu Recht ist dem Stück die Kategorie ‚Ein Tanz.Schau.Spiel‘ vom Ensemble zugeordnet, denn von allem drei gibt es reichlich.

Vorweg jedoch ein Wikipedia-Auszug, der das Themenfeld der Inszenierung sehr anschaulich wiedergibt.

„Als Semmelweis-Reflex wird die Vorstellung beschrieben, dass das wissenschaftliche Establishment eine neue Entdeckung quasi „reflexhaft“ ohne ausreichende Überprüfung erst einmal ablehne und den Urheber eher bekämpfe als unterstütze, wenn sie weit verbreiteten Normen oder Überzeugungen widerspricht. Namensgebend für diesen Begriff ist die Entdeckung der Bedeutung der Hygiene durch den ungarischen Chirurgen und Geburtshelfer Ignaz Semmelweis.

In einigen Fällen hatten Innovationen in der Wissenschaft eher eine Bestrafung als eine entsprechende Honorierung zur Folge, weil jene Innovationen etablierten Paradigmen und Verhaltensmustern entgegenstanden. Die Begriffsbildung wurde vom amerikanischen Autor Robert Anton Wilson (1932–2007) geprägt und nach dem ungarischen Arzt Ignaz Semmelweis (1818–1865) benannt.

Semmelweis führte das gehäufte Auftreten des Kindbettfiebers, einer der Hauptursachen für die hohe Sterblichkeit von Müttern nach der Entbindung, auf mangelnde Hygiene bei Ärzten und Krankenhauspersonal zurück und bemühte sich, Hygienevorschriften einzuführen. Seine Studie von 1847/48 gilt heute als erster praktischer Fall von evidenzbasierter Medizin in Österreich. Zu seinen Lebzeiten wurden seine Erkenntnisse jedoch nicht anerkannt und von vielen Kollegen, besonders aber von Vorgesetzten als „spekulativer Unfug“ abgelehnt. Erst nach den Arbeiten Joseph Listers (1827–1912) im Bereich der Antiseptischen Medizin wurden die Zusammenhänge zwischen fehlenden Desinfektionsmaßnahmen, Bakterieninfektionen und Kindbettfieber klar.“

Nach einer Kurzeinführung in besagter „Leichenhalle“ siedelt Weigel das Geschehen im Allgemeinen Krankenhaus Wien an, genauer an der geburtshilflichen Abteilung, an der Semmelweis nach seinem Studium zu arbeiten begann. Gerald Walsberger verkörpert den aus Ungarn stammenden Arzt, der Abertausende Frauen schon in seiner Generation retten hätte können. Hätte – wäre seine Entdeckung, die Übertragung von Viren auf die Gebärenden durch die Hände der Ärzte, von der Kollegenschaft ernst genommen worden.

Kajetan Dick gib seinen ersten – aber bei Weitem nicht einzigen Widersacher – Prof. Klein, der seinem jungen Assistenzarzt bezüglich seiner Hygiene-Erkenntnisse kein Wort glauben will. Die beiden Charaktere könnten besser nicht besetzt sein. Das unglaubliche Komödiantentum von Dick, das einen Höhepunkt in einem Dauerlauf rund um die Bühne erfährt, während er dabei beständig jubiliert, dass er nun auf den Semmering auf Urlaub fahre, reibt sich wunderbar an der Zwanghaftigkeit, mit welcher Walsberger den unaufhörlichen Wissensdrang von Semmelweis verdeutlicht.

Es sind psychologisch gut nachvollziehbare Momente, wie jener, in dem Semmelweis sich sein Hirn zermartert, als er über die Entstehung des Kindbettfiebers nachdenkt, die das Stück so lebhaft machen. „Denk nach Semmelweis, denk nach!“ – wiederholt Walsberger immer wieder, schon fast manisch, und schlägt sich dabei auf seinen Kopf. Wer hat nicht schon die Lösung eines Problems aus seinem eigenen Gehirn herauspressen wollen? Immer wieder werden aber auch Szenen voller Spannung bis hin zum Horror so mit Humor gewürzt, dass sie verdaulich bleiben. Wenn Dick als Anatomielehrer von einem Studenten mehrfach mit dessen verunreinigtem Skalpell geschnitten wird, bleibt einem jedes Mal kurz die Luft weg, weil man das tragische Ende vorausahnt.

Leonie Wahl, Yvonne Brandstetter und Sophie Resch spielen berauschend intensiv zum einen Studienkollegen von Semmelweis von der Med. Uni Wien, zum anderen verkörpern sie Gebärende, aber auch Krankenhauspersonal. Die Szenerie wechselt dabei meist nur lichttechnisch. Aus den anfänglichen Seziertischen werden später Krankenbetten, die auch für eine sehr außergewöhnliche Choreografie Verwendung finden. Dafür verbleibt das Ensemble auf den Tischen und bewegt sich ausschließlich auf ihnen. B.fleischmann steuert live den Soundtrack bei, der, begonnen vom Brahms´schen Gute-Nachtlied, bei dem einem Böses schwant, bis hin zu jazzigen Klängen ein riesiges musikalisches Spektrum aufweist. Pia Stross ist ein Kostümsetting gelungen, das trotz oder vielleicht gerade wegen seiner Trashigkeit beeindruckt. Dass man Charaktere mit kleinen Frisurenattributen kennzeichnen kann, ist ein fulminanter Einfall!

Obwohl höchst artifiziell dargestellt, wird die Tragik der Frauen, die am Kindbettfieber starben, so intensiv nachspürbar, dass es einem die Kehle zuschnürt. Es ist nicht nur diese kreative Glanzleistung, sondern darüber hinaus auch der Umstand, dass es Weigel tatsächlich gelungen ist, ein Stück über einen Mann als feministische Glanznummer hinzustellen, der fasziniert. Er zeigt sowohl die Abhängigkeit der Gebärenden von den sie betreuenden Ärzten, zugleich aber auch die Stärke der Frauen und ihren unbändigen Lebenswillen. Er macht klar, wer zu Semmelweis‘ Zeiten – und wie wir wissen, nicht nur damals – die Hauptlast der familiären Aufgaben zu tragen hatte. Antipodisch setzt er die Götter in Weiß dagegen, die zwar tagtäglich mit dem Leid der Frauen konfrontiert sind, sich aber emotional davon völlig unbeeindruckt zeigen. Spürbar wird aber auch jenes Dilemma, in dem sich Semmelweis befindet, nachdem er entdeckt hat, dass er selbst und seine Kollegen bei vielen Gebärenden an deren Tod beteiligt war. Erkenntnis, gekoppelt mit Grauen und einer vermeintlichen Ausweglosigkeit wird im Folgenden zu einem schlüssigen Movens, das Walsberger eine breite Palette an Gefühlsmomenten an die Hand gibt, um Semmelweis in seiner ausweglosen Verzweiflung darzustellen. Zugleich liefert der Umstand aber auch die psychologische Begründung, alles in seinem Leben der Vermittlung seiner Erkenntnis unterzuordnen. Allen voran das eigene, persönliche Wohlergehen.

Die Lebensgeschichte von Semmelweis wird in dieser Inszenierung bis zu ihrem bitteren Ende durchexerziert. Einem gewaltsamen Ende, von dem man nicht genau weiß, wie es dazu kam. „Geschichte wird lebendig“, dieses Eingangsstatement bleibt in dieser Aufführung Programm. Dass Weigel mit diesem Stück einen Zeitgeist getroffen hat, der sich angesichts der Pandemie tatsächlich auf breiter Front wieder mit dem großen Fragenkomplex von naturwissenschaftlichem Wissen und Nichtwissen beschäftigt, mag eine Seite des Erfolges sein. Bislang waren alle Aufführungen ausverkauft. Die Art und Weise der theatralischen Umsetzung ist der weitere Erfolgspfeiler. Intensives Theaterspiel, ganz nah am Publikum, unerwartete Handlungsvolten, spritzig-witzige Dialoge und meisterhaft aufgebaute, hoch emotionale Augenblicke – all das sind weitere Zutaten zu diesem geglückten Theaterabend.

Es ist zu hoffen, dass DER.SEMMELWEIS.REFLEX nach seinem ersten Spieldurchgang eine Wiederaufnahme erfährt und noch wesentlich mehr Personen mit dem Theater-Virus der Subvariante bernhard.ensemble infiziert.

 

Der menschliche Körper steht immer im Mittelpunkt

Der menschliche Körper steht immer im Mittelpunkt

Günter Brus • „Wie mit dem Skalpell – Die Aktionszeichnungen von Günter Brus“ (Foto: ECN)

Das Bruseum am Landesmuseum Joanneum in Graz zeigt im Reigen der Ausstellungen anlässlich zum 80. Geburtstag von Günter Brus eine Schau mit vielen bisher noch nie ausgestellten Werken.

Der Titel „Wie mit dem Skalpell – Die Aktionszeichnungen von Günter Brus“ macht klar, worum es geht: Um Zeichnungen, die rund um die Aktionen des Künstlers in den 60er-Jahren entstanden sind. Entweder als vorbereitende oder auch nachbearbeitete Reflexionsmomente, nicht jedoch als Skizzen im klassischen Sinne, welchen danach eine größere Ausführung folgt

Es finden sich auch einige Arbeiten darunter, zu deren Aktions-Ausführung es nicht gekommen war, da diese letztlich gar nicht stattgefunden haben. Bisher hielt sich die Meinung, Brus hätte erst nach Beendigung der Aktionen zu zeichnen begonnen. Die Ausstellung zeigt jedoch, dass für ihn dieses Medium immer schon ein adäquates Ausdrucksmittel war, das er über die Jahrzehnte hin, vom Beginn seines Schaffens an, verwendete. Vieles aus der Anfangszeit ist jedoch heute nicht mehr vorhanden. Das liegt auch daran, dass die Blätter nicht dafür gedacht waren, jemals in einer Ausstellung zu landen. Vielmehr waren es oft nur Gedankenstützen, in welchen die Themenfelder abgesteckt und verarbeitet wurden, die letztlich in den Aktionen ihren Ausdruck fanden.

Die Verletzlichkeit des Körpers als zentrales Motiv

Dass der Körper dabei im Mittelpunkt steht, wird auf den ersten Blick klar. Die Fragilität, das Ausgesetztsein, die Verletzlichkeit – dies zentrale Aussagen vieler Arbeiten. Stilistisch ist ein großer Bogen von realistischen Selbstportraits über michelangeleske Gesten, von Einflüssen der Wiener Giganten wie Klimt und Schiele, aber auch Kokoschka zu entdecken. Je fragmentarischer die Zeichnungen jedoch werden, je radikaler ihre Aussage, umso stärker wird die persönliche Handschrift von Brus erkennbar. Die Auseinandersetzung mit dem Individuum und mit der Macht, aber auch mit der Weiterentwicklung des Körpers ist und bleibt bei ihm zentral.

Was auch sichtbar wird: Brus verwendete Materialien, wie sie auch in der Arte povera zum Einsatz kamen, nur mit einem gänzlich anderen Output. Seine silbrigen und goldglänzenden Papiere, mit denen er einige gezeichnete Figuren ausstattete, sind nichts anderes als Suppenwürfelverpackungen, wie sie heute noch verwendet werden. Aber auch das Papier, auf dem er zeichnete, zum Teil vom Altwarenhändler gekauft, war von minderer Qualität, wie ein Ringordner mit Kriegspapier, den Brus mehrere Jahre lang verwendete.

Über 200 zum Teil noch nie gezeigte Werke

Die große Auswahl – die Schau vereint über 200 Werke – gibt nicht nur einen Einblick in die grafisch-formale Umsetzung geplanter Aktionen, sondern vielmehr in das Denken des Künstlers an sich. Tabulos und scheinbar schmerzbefreit seziert er darin nicht nur Körper- sondern vor allem auch menschliche Befindlichkeitsschichten. Das Penetrieren von Leibern, die Verstümmelung von Gliedmaßen werden solitär gezeigt, ohne Verursacher. Der Kontext erschließt sich nur aus den Aktionen selbst, die Brus fotografisch festhalten ließ. Und aus den Ereignissen, die ihn dazu nötigten, Österreich zu verlassen. Die Beschimpfungen und Bedrohungen, die auf ihn und seine Familie einprasselten, erfahren in seinen Zeichnungen eine grafische Transformation. Seelischer Schmerz wird so zu körperlich nachvollziehbarem, das Empfinden von innen nach außen gestülpt. Nie stehen die Gesichter im Mittelpunkt, nie werden von Schmerz verzerrte Antlitze gezeigt. Brus ist nicht mit einer lustvollen Dekadenz ausgestattet, die er triebhaft kanalisieren muss. Vielmehr sind es tiefgreifende Erkundungen des Fleischlichen und das Nachdenken über Möglichkeiten von körperlichen Veränderungen, die er zu Papier bringt. Sein inneres Auge nimmt darin Posen und Rituale vorweg, die in der Umsetzung dann tatsächlich eins zu eins, oder aber gänzlich anders zur Ausführung gelangten. Denn als Regieanweisungen, denen unbedingt Folge zu leisten ist, sind die Zeichnungen nicht zu verstehen.

Besonders berührend ist ein Zyklus, den Brus nach der Geburt seiner Tochter schuf. Mit Gouache weiß gehöht, setzt er den kleinen Körper ebenso in einen kahlen Raum, wie zuvor schon viele andere und bedroht ihn durch spitze Gegenstände wie Scheren oder Reißnägel. Jedoch ist es gerade die Verwendung der weißen Farbe, die sich wie ein Schutzmantel um das kleine Wesen legt und als Geste des Beschützens empfunden werden kann.

Der Direktor des Bruseums, Roman Grabner, verbindet in seinen Führungen die großen Namen der Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts eloquent mit jenen Ideen, welche Brus in seinen Blättern visualisierte. Die gefühlte und visuell umgesetzte Vorwegnahme so manch später ausformulierter, philosophischer Theorie um Macht, Kontrolle, Machtmissbrauch, Körperveränderung und Körperveinnahmung, die er bei Brus sieht, lässt sich im Nachhinein sehr schön konstruieren. Und obwohl in der Realität der Künstler einen anderen, wesentlich pragmatischeren Zugang verfolgt haben dürfte, der ihn dazu motivierte, seine geschundenen und körperlich veränderten Figuren in mannigfacher Gestalt auf Papier zu bannen, sind diese Gedankenspiele nicht von der Hand zu weisen. Gilles Deleuze wies auf die Parallelität von Kunst und Philosophie ausdrücklich hin und bemerkte, dass beide einem kreativen Schaffensprozess unterliegen, wenngleich die Kunst neue Affekte und die Philosophie neue Begrifflichkeiten produziert.

Ganz abseits jeglicher philosophischer Herangehensweisen berührt die Ausstellung zutiefst. Sie gibt Einblick in ein künstlerisches Gedankengebäude, das sich dem Kern des Menschseins anzunähern versucht. Das sich offenkundig ebenso einer ungeschönten Wahrheit verpflichtet fühlte, die wir nur allzu gerne ausblenden. Sei es Folter und Krieg, sei es ein Dahinvegetieren in Armut und Krankheit oder sei es auch der nahende Tod. In all diesen Seinszuständen ist der Körper weder fotogen noch begehrenswert, noch strahlt er Sexappeal aus. Aber er berührt, berührt zutiefst.

Unsere Empfehlung: Nehmen Sie sich Zeit für die Ausstellung und gönnen Sie sich eine Führung. Gerade die vielen Verbindung zu den Aktionen, die dabei angesprochen werden, sind erkenntnishaft, wenn man die Blätter in diesem Zusammenhang betrachtet.

Die Schau ist im Bruseum der Neuen Galerie Graz noch bis 27.1.2019 zu sehen.

Naziterror und die Gerechten unter den Völkern

Naziterror und die Gerechten unter den Völkern

Naziterror und die Gerechten unter den Völkern

Von Michaela Preiner

„Die Gerechten – Courage ist eine Frage der Entscheidung.“ (Foto: European Cultural News)
17.
März 2018
Lucia war bei dem Einmarsch der Hitler-Truppen in Österreich 9 Jahre alt. Ihre jüdische Abstammung hätte ihr und ihrer Mutter beinahe das Leben gekostet. Nur mithilfe des besten Freundes ihres Vaters überlebte sie die Zeit der Judenverfolgung in Wien. Reinhold Duschka versteckte die beiden zuerst in seiner Werkstatt und die letzten Monate vor Kriegsende in einem Kohlenkeller-Verschlag eines Wohnhauses, in dem sie nicht einmal miteinander sprechen durften, um nicht entdeckt zu werden.

Angelica war 12, als sie die Gestapo aus dem Gymnasium abholte, weil sie als Jüdin nicht weiter zur Schule gehen durfte. Nach einer Odyssee über Salzburg, das sie mit ihrer Familie Hals über Kopf verlassen musste, nahm sie der beherzte Pfarrer Johann Linsinger in Großarl mit ihren beiden jüngeren Geschwistern und ihren Eltern auf. Er versorgte die Familie Bäumer mit neuen Papieren und beherbergte sie als „ausgebombte Wiener“ bis Kriegsende.

Reinhold Duschka und Johann Linsinger sind zwei Personen von insgesamt 112, die in Österreich den Titel „Gerechte der Erde“ tragen. Einen Titel, der vom israelischen Komitee der internationalen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem an nicht jüdische Personen vergeben wird, wenn diese nachgewiesenermaßen jüdischstämmige Menschen während des 2. Weltkrieges vor dem Tod uneigennützig und unter Einsatz ihres eigenen Lebens retteten. Im Volkskundemuseum ist nur bis Ende März dieser Thematik eine Ausstellung mit dem Titel „Die Gerechten. Courage ist eine Frage der Entscheidung“ gewidmet.

In ihr werden nicht nur die Gerechten Österreichs aufgezeigt. Auch die übelsten Mörder, die dieses Land in der Nazidiktatur schalten und walten ließ, bekommen Gesicht und Namen. Bis man zu den Biographien der Gerechten gelangt, muss man erst ein Spalier dieser Nazischergen durchschreiten, kann dabei ihre Namen und ihre Funktionen lesen und erfährt, welche Verbrechen sie begingen.

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„Die Gerechten – Courage ist eine Frage der Entscheidung.“ (Foto: European Cultural News)

Die Ausstellung beinhaltet auch kleine Objekte, Fotos und persönliche Andenken an jene, die sich mit ihrer Zivilcourage selbst in Lebensgefahr brachten. Sie fordert die Besuchenden aber auch auf, sich unter eine überdimensionale Polizeikappe zu stellen, in der schlagwortartig Gedanken und Wortfetzen aneinandergereiht wurden, die das „Innere eines Kopfes“ wiedergeben, in dem Recht gegen Unrecht imaginär einen Kampf austragen. Ein Propagandafilm, eine Aufnahme von Hitlers Fahrt durch Wien am 14. März 1938 und Plakate, an Litfaßsäulen montiert, geben die Stimmung wieder, die in jenen Jahren, politisch betrieben, das Volk vergiftete und die Menschen zu Mittätern werden ließ. Eine Reihe von Videofilmen lassen Zeitzeugen zu Wort kommen.

Eine besondere, gelungene Ausstellungsarchitektur zeigt von innen heraus hell erleuchtete Würfel in einem abgedunkelten Raum. Auf ihnen sind Fotos und Texte über jene Gerechten angebracht, die sich gegen das Gesetz stellten und ihre Überzeugung von Nächstenliebe tatsächlich lebten. Auf diese Weise treten diese Personen wie Lichtgestalten auf, die im wahrsten Sinne des Wortes hellstes, menschliches Licht in das Dunkel einer Zeit brachten, das durch seine grausamen Taten humanistisch unermesslich finster geworden war.

Um in den Kreis der Gerechten aufgenommen zu werden, müssen mehrere Zeugen eidesstattlich Auskunft über das Verhalten dieser Menschen ablegen, was bis heute schwierig ist. „Von über 20 Mitschülerinnen habe ich nur zwei animieren können, diese eidesstattlichen Erklärungen abzugeben“, erzählte die heute 86-jährige Angelica Bäumer bei einem Podiumsgespräch anlässlich der Ausstellungseröffnung . Das Zögern der anderen oder ihre glatte Ablehnung zeigen, wie tief auch heute noch die Ressentiments gegen die jüdische Bevölkerung angesiedelt ist oder wie sehr ein Sich-Bekennen mit der Angst vor einem sozialen Druck von Andersdenkenden abgelehnt wird.

„Wir brauchen auf unser Land nicht stolz sein“, O-Ton von Michael John, Kurator der Ausstellung. „112 Gerechte in ganz Österreich ist wirklich nicht viel. Die Mehrzahl davon kam aus Wien. Aus Linz und Graz ist überhaupt niemand dabei. Einige stammten aus kleineren Städten, manche auch vom Land.“ So unterschiedlich wie die geographische Verteilung ist, so unterschiedlich ist auch die soziale Struktur der Lebensretter und Lebensretterinnen. Von Intellektuellen bis hin zu Bauersfamilien, von Handwerkern bis hin zu Polizisten, von Schauspielerinnen bis hin zu Fabrikbesitzern spannt sich der Bogen.

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„Die Gerechten – Courage ist eine Frage der Entscheidung.“ (Fotos: European Cultural News)

Die Biografien der Gerechten aus Österreich sind darüber hinaus in einem überdimensional großen Folianten, der in der Ausstellung aufliegt, angeführt. Ein Teil dieser Personen wurde für ihre Hilfe verurteilt und noch während der Naziherrschaft ermordet. Wie tief die Trauer auch heute noch in ihren Familien verankert ist, zeigte eine kleine Geste eines Besuchers am Eröffnungsabend. Er legte seine Hand sanft auf das Foto eines Gerechten, der im Buch der Österreicherinnen und Österreicher verewigt wurde und hielt für einige Augenblicke in einem verinnerlichten Gedenken inne.

„Wer einem Menschen das Leben rettet, rettet die ganze Welt“ ist im Eingangstext zur Ausstellung zu lesen. Es ist jener Talmudspruch, der im Ring eingraviert wurde, den Oskar Schindler von den Juden erhalten hatte, die den Nazihorror überlebt hatten.

Um Leben zu retten, braucht es aber Courage. Eine Courage, von der wir Nachgeborenen nicht wissen, ob wir sie zu jener Zeit tatsächlich aufgebracht hätten. Was wir aber machen können, ist, heute gegen jene Ungerechtigkeiten anzukämpfen, die seitens der Gesellschaft und der Politik rund um uns tagtäglich geschehen. Auf die Frage, was denn die heute 86-jährige Angelica Bäumer an ihre Mitmenschen  von ihrer Erfahrung weitergeben möchte, antwortete sie ohne zu zögern: „Helfen Sie den  jungen, männlichen Flüchtlingen, die ihr Land ohne ihre Familien verlassen mussten. Unterstützen sie jene Familien, die alles zurücklassen mussten und nun, ihrer Sprache beraubt, in einem fremden Land wohnen, in dem sie auf die Hilfe der Bevölkerung angewiesen sind.“

Es ist eine Mahnung, die beschämt. Denn eine Gesellschaft wie unsere, die in einem Land lebt, welches 2017 im Ranking der reichsten Länder der Welt Platz 16 einnahm und dessen politische Führung vehement darauf drängt, die Integration in den Schulen zurückzufahren, Flüchtlinge „konzentriert“ zusammenzufassen und ihnen die Mindestsicherung zu kürzen, ist auf dem besten Weg, sich in eine Richtung zu entwickeln, in der Widerstand gegen die Mächtigen und das Eintreten für die Schwächsten der Schwachen wieder zur Courage mutiert.

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„Die Gerechten – Courage ist eine Frage der Entscheidung.“ (Foto: European Cultural News)

Die Ausstellung „Die Gerechten. Courage ist eine Frage der Entscheidung“ läuft nur bis inklusive 31.3. Das Volkskundemuseum hat in dieser Zeit seine Öffnungszeiten verlängert und bietet allen Besuchenden zu dieser Ausstellung einen Gratis-Eintritt an. Ein umfangreiches Vermittlungsprogramm für Schulklassen und Gruppen, sowie öffentliche Führungen ergänzen die Ausstellung.

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Kraft und Vergänglichkeit

Kraft und Vergänglichkeit

Das Untere Belvedere zeigt die Ausstellung „Die Kraft des Alters“. Wörtlich nehmen sollte man den Titel jedoch nicht, denn neben einer ganzen Anzahl von Kunstwerken, die alte Menschen noch in höchster Virilität zeigen, gibt es auch viele, die sich mit der Vergänglichkeit und dem Tod auseinandersetzen.

Eigentlich könnte man die Ausstellung in zwei ganz voneinander getrennten Teilen zeigen. Einen, in welchem Zeichnungen und Gemälde präsentiert werden, die kurz vor und nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entstanden. In ihnen werden alte Männer meist in Portraits mit würdevollen Bärten dargestellt, alte Frauen sind, so sie sozial höher gestellt waren, eingehüllt in feinem Tuch, stoisch sitzend und lesend wiedergegeben. Aber einige Bilder, wie die eindrucksvollen, gezeichneten Selbstportraits von Paula Modersohn-Becker, die sie im vorgerückten Alter schuf, zeigen, dass Alter auch beschwerlich sein kann und oft mit Einsamkeit verbunden ist. Viel von der Kraft des Alters ist in diesem Ausstellungskonvolut, das von der Kuratorin Sabine Fellner, ausgesucht wurde, nicht spürbar.

Erst die Gegenüberstellung von zeitgenössischer Kunst eröffnet jenen Blickwinkel, welcher der Ausstellung ihren Titel gab. Von den 174 Werken von 105 Künstlerinnen und Künstlern stammt der größere Teil von zeitgenössischen Kunstschaffenden. Das Medium Fotografie sticht hier quantitativ besonders hervor, neben Installationen, Zeichnungen und Gemälden gibt es aber auch einige Videos.

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„Die Kraft des Alters“ (Foto: Johannes Stoll, © Belvedere, Wien)

Eines der berührendsten ist eine Kurzfassung des Filmes „Omsch“ von Edgar Honetschläger, das dieser 2013 seiner 101 Jahre alten Nachbarin Pauline Schürz widmete. Darin fing er nicht nur die Lebensumstände in ihrer Wiener Wohnung ein, sondern ließ ihr – bemerkbar in einer ruhigen Kameraführung mit lang andauernden Einstellungen – genügend Raum, ihre Gedanken zu formulieren. Einsamkeit aber auch das Thema Hektik und Zeit werden dabei genauso thematisiert wie die Freude der alten Dame an der Anteilnahme des jungen Künstlers an ihrem Leben. Einziger Wermutstropfen dabei ist die Präsentation im Marmorsaal, der aufgrund seiner hallenden Akustik denkbar ungeeignet für diese intimen, filmischen Momente ist.

Das Thema Alter wird in der Ausstellung in sechs unterschiedlichen Komplexen betrachtet, die sich jedoch nur durch das Lesen der Saaltexte wirklich erschließen. „Ewige Jugend / stolzes Alter“, „Vergänglichkeit“, „Einsamkeit / Verbundenheit“, „neue Freiheit“, „Muße und Erinnerung“.
Wohltuend fällt auf, dass nicht nur die Anzahl der weiblichen Künstlerinnen und der männlichen Künstler sehr ausgewogen ist. Auch in den Darstellungen werden beide Geschlechter behandelt.

Gleich zu Beginn nimmt Alfred Hrdlicka den geschlechtsbedingten Männerwahn ins Visier. In seiner Zeichnung „Der goldene Winkel“ steht das männliche Glied – ganz nach dem stilistischen Vorbild des Vitruvianischen Menschen von Leonardo da Vinci – im Mittelpunkt der Komposition. An der Wand gegenüber beeindrucken Fotos der 1947 geborenen Martha Wilson, in welchen sie mithilfe von Fotos ihr eigenes Altern nicht nur humoristisch, sondern auch extrem gesellschaftskritisch aufzeigt.

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Joyce Tenneson, Christine Lee, 2002 (© Joyce Tenneson)

Wenige Schritte davon entfernt, entdeckt man das Plakatsujet der Ausstellung. Es zeigt Christine Lee im Alter von 67 Jahren, fotografiert von Joyce Tenneson. Das Foto war zugleich Titelbild des Buches „Wise Women“ der Künstlerin, in welchem sie Frauen zwischen 65 und 100 Jahren portraitierte. Die Sepia-Färbung, in welche die Bilder getaucht sind, verknüpft die Wahrnehmung automatisch mit dem Beginn des vorigen Jahrhunderts und gibt somit einen ganz subtilen, zusätzlichen Hinweis, auf das höhere Alter der Fotografierten.

Neben Selbstbildnissen von Max Liebermann und Oskar Kokoschka findet sich auch ein imposantes Foto in Übergröße von Shirin Neshat. Es trägt den Titel „Bahram (Villains) „und stammt aus der Serie The Book of Kings. Neshat, Persona non grata im Iran, bezog sich in dieser Serie auf den Arabischen Frühling und portraitierte darin Männer und Frauen, zum Teil mit Bemalungen, die wie Tattoos wirken.

Die Vielzahl der ausgestellten Objekte erlaubt auch völlig subjektive Ausstellungserlebnisse, wie anhand der hier besprochenen Arbeiten aufgezeigt wird.

Drei Bilder und fünf Fotos des 2011 verstorbenen Roman Opalka zeigen in einem kleinen Nebenraum den höchst persönlichen Zugang des französisch-polnischen Künstlers zum Thema Zeit und Vergänglichkeit. Opalka schuf ein in sich geschlossenes Werk, in dem er über Jahrzehnte Leinwände mit fortlaufenden Zahlenreichen in weißer Farbe beschrieb, die Zahlen beim Malen aussprach, seine Stimme dabei auf Tonband aufnahm und den Hintergrund des neuen Bildes kontinuierlich aufhellte, sodass die Bilder an seinem Lebensende fast ganz weiß sind und die Zahlen darauf nur mehr schwer lesbar erscheinen. Jeden Tag fotografierte sich der Künstler zusätzlich in derselben Position und hielt auch damit sein eigenes Altern fest.

Einem so komplex durchdachten Zugang stehen andere gegenüber, die vor allem mit ihrer handwerklichen Präzision auffallen. Ron Mueck, englischer Bildhauer mit deutsch-australischen Wurzeln, arbeitete in den 80er-Jahren als Marionettist für die Sesamstraße und die Muppet Show. Berühmt wurde er durch seine hyperrealistischen, gigantischen Menschenskulpturen. In der Ausstellung ist er mit der Arbeit „Man in a Sheet“ aus dem Jahr 1997 vertreten. Einer kleinen, auf einem hohen Podest sitzenden Männerfigur, die gebeugt, ganz in weißes Tuch gehüllt ist. Nur das Gesicht mit feinen Bartstoppeln vermittelt den Eindruck eines alten Mannes, der sich offenbar in Meditation ganz aus dem Weltgeschehen ausgeklinkt hat. In diesem Werk verkehrt sich völlig jene Intention, die der Künstler mit seinen übergroßen, figürlichen Skulpturen erreicht, denn der kleine, beinahe zerbrechlich wirkende Mensch strahlt auch eine gehörige Portion Hilfsbedürftigkeit aus.

Die deutsche Collagekünstlerin der Body Art, Annegret Soltau (geb. 1946) hat auf beeindruckende Weise in ihrer Arbeit „generativ – Selbst mit Tochter, Mutter und Großmutter“ vier Generationen der weiblichen Linie ihrer Familie festgehalten. Angefangen von ihrer Tochter bis hin zu deren Urgroßmutter, vereinte sie alle nebeneinander, nackt, in stehender Position. Die Oberkörper tauschte sie jedoch in Collagetechnik aus, sodass die älteste Frau den Busen des Urenkelin trägt und umgekehrt. Mit zusätzlichen, grafischen Überarbeitungen, die wie grobe Narben wirken, verstärkt die Künstlerin das Moment des ohnehin sichtbaren, körperlichen Verfalles.

Vom österreichischen Fotografen Harry Weber (1921 – 2007) wird ein kleines, aber umso beeindruckenderes Foto gezeigt. Das „Paar im Altersheim“, in Lainz 1960 aufgenommen, zeigt ein Ehepaar in bodenlangen, gestreiften Morgenmänteln. Die Frau, neben ihrem Mann sitzend, knöpft diesem fürsorglich seinen Mantel zu. Nicht nur, dass die liebevolle Geste in Zusammenhang mit dem Alter der Personen sehr berührt. Es ist auch der Umstand, dass beide offensichtlich „Anstaltskleidung“ tragen. Weiß man um die Geschichte des Fotografen selbst, der als Jude unter den Nazis nach Palästina fliehen musste, 1946 nach Österreich zurückkehrte und für den Spiegel, Stern und den Gruner & Jahr-Verlag arbeitete, erhält dieses Foto eine zusätzliche Bedeutungsebene.

Das große Plus der Ausstellung „Die Kraft des Alters“ besteht nicht darin, ein einziges, bestimmtes Narrativ über den letzten, menschlichen Lebensabschnitt vermitteln zu wollen. Vielmehr beeindrucken die vielen künstlerischen Zugänge und Positionen, die das Altersphänomen von so unterschiedlichen Seiten beleuchten.

„Die Kraft des Alters“ läuft noch bis 4. März im Unteren Belvedere. Weitere Infos auf der Homepage.

Gefangen in der Endlosschleife

Gefangen in der Endlosschleife

Gefangen in der Endlosschleife

Von Michaela Preiner

„L´aringa – Der Hering“ (Foto: Alfredo Barsuglia)
06.
November 2017
Ein kleiner, heller Raum im Dachgeschoß eines Hauses in der Spiegelgasse war Austragungsort einer mit dem Publikum interaktiven „performativen Installation“. Ursula Blickle stellt das kleine Apartment seit einiger Zeit für kuratierte Performances und Ausstellungen zur Verfügung.
Alfredo Barsuglia, in Wien längst kein Unbekannter mehr und durch seinen „Social Pool“ auch bereits international einem großen Publikum im Kunstbetrieb aufgefallen, nutzte die Einladung, seine neueste Arbeit „L´aringa – Der Hering“ dort zu zeigen. Vier Performende – zwei Frauen und zwei Männer – vier Lampen, ausgestattet mit Ein-Aus-Schaltern, ein Rollator und der Nachbau einer Wohnungstüre samt angrenzender Wand, eine Bodenmatte mit einer kleinen Tafel und Kreidestiften, eine Badewanne, halb mit Wasser gefüllt und ein Revolver – das waren die Komponenten mit denen Barsuglia sein Szenario aufbaute.

Zwei Frauen und zwei Männer

Jeder Person waren festgelegte Handlungen und Texte zugedacht, die durch das Publikum mit dem Betätigen der verschiedenen Lichtschalter in Gang gesetzt wurden. Im Laufe der Performance wurden die einzelnen Charaktere erkennbar. Eine junge Frau, die sich an die Kinder- und Jugendzeit in einem schönen Haus erinnert, ihr Vater, ein Sänger, der gelähmt seine Wohnung nicht mehr verlassen kann, eine zweite Frau, die zwei Schüsse aus einer Pistole abgibt und ein Mann, der, obwohl er nicht in Schussrichtung steht – offenbar von den Kugeln getroffen – immer und immer wieder zu Boden sinkt.

Die Versuchsanordnung, auch so könnte man das Geschehen bezeichnen, lebt von der Interaktion des Publikums. Wenn von diesem ein Lichtschalter bedient wird, beginnt auch die Szenerie zu leben, die sich unter diesem Lichtschalter befindet. Wenn alle Lichter ausgeschaltet wurden, bleibt der gesamte Raum einfach dunkel und still. Wären alle Lichtschalter gleichzeitig angeschaltet, dann würde jede Person, die ihr zugedachte Rolle parallel zu den anderen spielen.

Die Grundidee dahinter ist, einen Spiegel unserer Gesellschaft aufzuzeigen, die sich oft nicht bewusst ist, dass eine kleine Handlung eines Einzelnen ungeahnte bis weitreichende Folgen haben kann. Diese Idee wird durch mehrere andere Bedeutungsebenen zusätzlich ergänzt.

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„L´aringa – Der Hering“ (Foto: Alfredo Barsuglia)

Ist das Theater oder Performance oder was?

Barsuglia spielt zugleich auch mit der bewussten, künstlerischen Grenzüberschreitung. Die Performenden agieren als ‚tableaux vivants‘, wenn sie mit ihrer Geschichte am Zug sind, verharren aber in regloser Position, wenn sie unbeleuchtet bleiben. Durch die Zuseherinnen und Zuseher werden sie wie Roboter aus- und eingeschaltet. Schon bald wird deutlich, die ständigen Wiederholungen der Szenen, in kleinen Details dennoch jeweils abgewandelt, erzeugen das Gefühl, sich in einer Endlosschleife zu befinden, beziehungsweise in die psychischen Endlosschleifen von Menschen hineinzublicken, die in ihren Traumata gefangen, sich ständig wiederholen müssen.

Tino Sehgal, der derzeit wohl international bekannteste Performance-Erneuerer, verfolgt in seinen – nur mündlich tradierten Arbeiten – ein ähnliches Konzept. Auch bei ihm wird das Publikum aktiv einbezogen, auch bei ihm gibt es vorweg eine durchdachte Regie, auch bei ihm findet sich das Element der Endlosschleifen.

Was unterscheidet Barsuglias Arbeit „L´aringa – Der Hering“, um ein Beispiel von seinen Werken zu nennen – von Sehgals? Es ist zum einen eine offensichtliche, handwerkliche Komponente, die Barsuglia ins Spiel bringt. Ob die mit Holz verbrämte Badewanne oder eine aufgestellte Wand mit Türe – Barsuglia geizt nicht mit Anschauungsmaterial. Auch in seinen temporären Arbeiten in Kunsthallen und Galerien zeigt er jeweils ein höchst professionell gestaltetes „Bühnenbild“, auch wenn sich darin kein Leben mehr abspielt. Der Künstler legt bei vielen seiner Rauminszenierungen selbst Hand an, aber wo er Hilfe benötigt, arbeitet er mit spezialisierten Handwerkern zusammen. Er lerne dabei nicht nur ständig etwas dazu, wie er in einem Interview einmal festhielt, sondern er genieße es auch, dabei aus der Kunstwelt auszutreten und mit Menschen zusammenzuarbeiten, die nicht aus diesem Genre kommen.

Tanz, Performance, Musik und bildende Kunst

Zum anderen hat er gezeigt, dass er gerne auch im öffentlichen Raum arbeitet und damit auch ein Publikum erreicht, das zeitgenössische Kunst im musealen Umfeld scheut. Diese niederschwellig „konsumierbaren“ Arbeiten wie das „Hotel Publik“ in Innsbruck aus dem Jahr 1913 fungieren wie ein Türöffner zu den kritischen Inhalten seiner Werke, die sich erst nach und nach erschließen.

Zu welcher Kunstgattung sollte man nun eine performative Installation wie „L´aringa – Der Hering“ zählen? Die szenische, durchkomponierte Aufführung liegt nahe beim theatralen Bereich. Mit dem Bariton Stefan Zenkl, der einen Teil der Leidensgeschichte des Vaters singend wiedergibt, wird die Grenze zum Musiktheater überschritten. Mit Alex Deutinger, der in vielerlei Arten, von Kugeln getroffen, zusammensacken darf und Sara Lanner, die den Revolver bedient, weist der Weg in die Tanz- und Performanceszene. Barbara Grahsl wiederum ist Schauspielerin. Allein schon diese Besetzung zeigt, dass es Barsuglia darum geht, viele unterschiedliche Kunstfelder einzubeziehen. Eine Vorgehensweise, die sich vor allem im zeitgenössischen Tanz sehr gut beobachten lässt, in der bildenden Kunst jedoch noch weit weniger anzutreffen ist.

Weit entfernt ist der Künstler auch von jeder Art von Geheimniskrämerei, die den Markt anheizen soll. Sehgal verbietet Foto- und Videoaufnahmen, gibt selten Interviews und will seine Performances in den Institutionen, in welchen sie aufgeführt werden, nicht verschriftlicht wissen. Barsuglia liebt den Kontakt mit dem Publikum. „Am besten funktioniert dieses Stück, wenn die Menschen, gleich wenn sie den Raum betreten, in dem es stattfindet, ein Glas Wein in die Hand bekommen und sich dann ganz frei zwischen den einzelnen Szenen bewegen können“ – O-Ton Barsuglia. Auch, dass gerade das Publikum ein bestimmendes Element ist, von dem der Ausgang der Performance maßgeblich abhängt und sich diese deshalb nicht wirklich vorhersehen lässt, ist bewusst angelegt.

Momente, wie jener, in welchem in der Spiegelgasse während der Performance eine plötzliche Finsternis herrschte und niemand einen Lichtschalter für viele Sekunden bedienen wollte, sind die spannendsten überhaupt. Ad hoc stellen sich dabei wieder neue Fragen: Wie lange ist es einer Gruppe von Menschen möglich, inaktiv zu bleiben? Wird die Stille und Dunkelheit als beklemmend oder inspirierend empfunden? Was bedeutet der Akt des erneuten Licht-Einschaltens in so einer Situation? Ist es die Erlösung, die ein einzelner einer Gemeinschaft angedeihen lassen kann oder vielmehr ein Gewaltakt, den manche, wie in diesem Fall, als zu früh empfinden? „L´aringa – Der Hering“ erwies sich in Wien als offenes Kunstwerk, das trotz aller vorgegebener Regieanweisungen so wandelbar ist, dass es bei jeder neuen Aufführung zu neuen Gedankenkonstellationen anregen kann. Grund genug, sich die Performance bei einer der nächsten Gelegenheiten noch einmal anzusehen und an den Lichtschaltern wieder aktiv zu werden.

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„L´aringa – Der Hering“ (Fotos: Alfredo Barsuglia)

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