Mann oder Frau – geht es nicht einfacher?

Mann oder Frau – geht es nicht einfacher?

Theresia hat genug. Genug von ihrem Mann, aber vor allem genug von ihrer Rolle als Frau. Das Kabinetttheater zeigt Guillaume Apollinaires Stück „Die Brüste des Tiresias“ in einer Vertonung von Gerald Resch.

Ein Text, der über hundert Jahre als ist, trifft auf eine Musik von heute. Ein Text, der ganz heutig ist, trifft auf eine Musik von gestern. Beide Behauptungen darf man für diese Inszenierung stehenlassen. Die surreale Geschichte von Theresia, die sich in einen Teresias verwandelt, weil sie sich weder einem Mann unterordnen, noch Kinder bekommen möchte, ist von ihrem Kern her nach wie vor zeitgeistig. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts keimten die ersten Pflänzchen der Emanzipation. In manchen Ländern wurde die Gleichberechtigung im Keim erstickt, in anderen, wie in Russland, zumindest nach der Revolution für ungefähr 20 Jahre auch tatsächlich gelebt. Die Banken in Frankreich, in dem das Stück entstand, haben erst in den 70er-Jahren des vorigen Jahrhunderts den Frauen das Recht auf eigene Bankkonten zugestanden. Nicht verwunderlich also, dass Apollinaire 60 Jahre vorher seine Handlung einfach nach Sansibar verlegte. Einen Ort, der 1917 noch nicht gegoogelt werden konnte und der schon allein aufgrund seines hübschen Klanges Fernweh hervorrief.

Im Kabinetttheater, bekannt für sein Puppenspiel vor und hinter der schwarzen Wand mit den vielen Guckfenstern, agieren dieses Mal jedoch auch Menschen in Fleisch und Blut – sichtbar vor der Bühne. Ulla Pilz gleich in vier Rollen: Sie spielt bzw. singt die Therese, den Tiresias, den Sohn und die Wahrsagerin. Bartolo Musil reicht aufgrund der wahnwitzigen Kinderschar von 40.050, die er alleine zeugt und gebiert, eine einzige Rolle. Neben seinen Erziehungsaufgaben hat er noch alle Hände voll zu tun, um sich selbst und Ulla Pilz am Klavier zu begleiten. Einfach zauberhaft, wie sich eine ganze Kinderwagen-Armada aus dem Klavier und auf der kleinen Bühne dahinter formiert. (Bühnenbild und Kostüme Julia Reichert und Christian Schlechter). Köstlich auch der Einfall, Theresia, respektive die Wahrsagerin als „Frau ohne Unterleib“ erscheinen zu lassen. Maria Frodl spielt am Cello und betätigt auch eine singende Säge. Eine wunderbare und sehr kluge Idee, wurde dieses Instrument doch gerade um die Zeit der Uraufführung des Stückes, 1917, in Europa richtig modern.

Apollinaire, der nur ein Jahr später an der Spanischen Grippe verstarb, gilt als surrealistischer Literaturgroßmeister. Die Werke dennoch so zu inszenieren, dass sie mehr als nur Gedankenfetzen bieten, ist eine Herausforderung. Thomas Reichert gelang dies eindeutig. Zugleich setzte er mit seiner Inszenierung den Abschluss des Schwerpunkts „Musiktheater zu Beginn des 20. Jahrhunderts“ im Kabinetttheater.

Ulla Pilz als Wahrsagerin in "Die Brüste des Tiresias" (c) Armn Bardel

Ulla Pilz als Wahrsagerin in „Die Brüste des Tiresias“ (c) Armn Bardel

Neben dem Ehepaar tritt auch noch ein Schutzmann in Erscheinung, der sich unsterblich in Theresias Gatten verliebt. Sich duellierende Herren und ein Berittener beleben als Puppen die Szenerie. Auf einer Art Schachbrett sind von Beginn an kleine Figürchen angeordnet. Sie sind ganz im Stil des „Triadischen Balletts“ von Oskar Schlemmer gekleidet, das 1916 eine erste Teil-Aufführung erlebte. Zum Schluss dürfen sie, losgelöst vom strengen, geometrischen Konzept, fröhlich in der Luft rund um den Hauptguckkasten baumeln. Zugleich auch ein gelungener Hinweis auf die Lockerung der Geschlechterrollen, die Therese respektive Teresias anstrebte.

Bis es jedoch so weit ist, muss  die emanzipierte Frau erst in die Machtposition eines Generals aufsteigen und ihr Mann derweilen die Aufzucht der Kinder übernehmen. Ulla Pilz gibt eine zornige Theresia, die sich eher ihre Brüste zerstört, als weiter in Ehefesseln gefangen zu bleiben. Zwei Luftballone reagieren mit lautem Knall auf den Zerstörungsakt und dürfen im Schlussbild, wiederum als Symbole der weiblichen Geschlechtszierde, erneut erscheinen. Bartolo Musil muss nach dem Auszug seiner Frau in deren Kleider schlüpfen, um dann am eigenen Leib zu erfahren, wie das denn so ist mit dem Haushaltführen und Kindererziehen.

Ein Text, der ganz heutig ist, trifft eine Musik von gestern. Gut, dies stimmt nicht hundertprozentig, aber zumindest teilweise. Gerald Resch schuf für das rasante Geschehen eine Art Schnelldurchlauf der Musikgeschichte von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Dafür verwendete er eine ganze Menge Originalzitate, aber auch originäre Nachempfindungen. Zum Einsatz kommen Duette und Solostücke ganz im Stil von Franz Schubert aber auch von Richard Strauss. Die Rezitative präsentieren sich hingegen im Klangkonstrukt der 2. Wiener Schule. Operettenhafte Walzerseligkeiten, Unterhaltungsmusik der 20er Jahre, aber auch jede Menge Verdizitate, ein paar Takte Bizet und sogar ein kleines Wagner-Einsprengsel illustrieren darüber hinaus musikalisch schillernd das Geschehen. Geht es in einer Liedzeile zu Beginn noch ziemlich atonal-spröde zur Sache, jubiliert das Klavier bei dem Wort „Himmel“ in allen Registern in einer breiten Durzerlegung. Ein musikalischer Einfall jagt den nächsten. Es hat den Anschein, als ob Resch den literarischen Ideen Apollinaires in nichts nachstehen wollte. Dennoch hat man nicht den Eindruck eines Stückwerks, dafür sorgen intelligente und saubere Übergänge. Ein großes Kompliment an Pilz und Musil, die diesem musikalischen Feuerwerk die Stimme bieten können. Egal in welchem Stil Gerald Resch ihre Auftritte anlegte, ob Schönklang oder nicht, sie beherrschen jedes von ihnen verlangte Fach. Auch für Maria Frodl hat Resch eine expressive Solodarbietung eingebaut, die sie mit großer Verve und hoher Musikalität interpretiert.

Bartolo Musil in die Brüste des Tiresias (c) Armin Bardel

Bartolo Musil in die Brüste des Tiresias (c) Armin Bardel

Das expressive Spiel vor und hinter der Wand hält sich mit der Musik uneingeschränkt die Waage. Eine  Leistung, die im Musiktheater nicht alltäglich ist. „Die Brüste des Tiresias“ endet mit einem zarten Vergleich, so würden es Juristen vielleicht formulieren. Ob dieser von Theresias Ehemann auch tatsächlich angenommen wird, soll hier nicht verraten werden.

Ein Theaterabend, in dem sich Vergangenes mit Gegenwärtigem auf höchst zauberhafte aber zugleich auch pralle Art und Weise verbindet.

Weitere Informationen finden sich auf der Internetseite des Kabinetttheaters.

Ein Störenfried im sozialen Ungefüge

Ein Störenfried im sozialen Ungefüge

„Das Gemeindekind“, frei nach Ebner-Eschenbach, neu interpretiert von Anne Habermehl, entpuppt sich als Hybrid zwischen Theater, Oper, konzertanter Aufführung und dem historischen Genre des Singspiels im Schauspielhaus Wien.

Er ist 15. Seine Mutter sitzt im Gefängnis. Warum, weiß man nicht so genau. Gerüchte kursieren. Sein sprachlicher Ausdruck ist beschränkt. Alleine wohnen kann er noch nicht. Er ist kein Kind mehr, aber auch nicht erwachsen. Wer soll sich nun um ihn kümmern?

In Marie von Ebner-Eschenbachs Roman „Das Gemeindekind“ erleidet Pavel ein Schicksal, das sich von einer Fremdbestimmheit und Ausgrenzung hin zu einer autonomen und selbst gewählten Lebensführung entwickelt. Eingebunden in dörfliche Strukturen des 19. Jahrhunderts, erscheint  uns der Text heute rein historisch. Die Hausautorin des Schauspielhauses in der Saison 2014/15, Anne Habermehl, hat sich dieses Stoffes angenommen und ein Libretto verfasst, das von Gerald Resch vertont wurde. Uraufgeführt wurde das Stück im Schauspielhaus als letztes einer Reihe, welche das zeitgenössische Musiktheater in dieser Saison in den Mittelpunkt des Interesses stellte. Im Untertitel trägt es die musikalische Ergänzung Singspiel.

Genau genommen hätte es auch ins Konzerthaus gepasst oder ins Theater an der Wien. Denn die einfühlsame, intelligente und oft ins Ohr gehende Musik des Wiener Komponisten steht gleichrangig neben Habermehls Text. Ein hybrides Stück, das zwischen den einzelnen Gattungen permanent oszilliert. Und gerade deswegen so spannend ist.

Habermehl belässt das Geschehen in der kleinen tschechischen Gemeinde, in die auch Marie von Ebner-Eschenbach es einband, versetzt es ins Heute und streicht einige Figuren. So fehlt zum Beispiel die Schwester Pavels, die von der Gutsherrin auf ihre Kosten ins Kloster gebracht wird und dort letztendlich an Auszehrung stirbt. Aber auch der Vater, Urheber allen Übels und viele weitere Nebenfiguren, kommen bei Habermehl nicht vor. Dennoch ein kluger Schachzug, denn die Handlung muss sich im Musiktheater auf ein Minimum verknappen, wollte man nicht dem Publikum mehrere Stunden zumuten. Der Lehrer, der in der Romanvorlage ein kauziger, alter Mann und selbst nicht ins Gemeindeleben integriert ist, ist bei der Autorin weiblich. Katja Jung schlüpft in die Rolle von Frau Habrecht, die sich rückwärtsgewandt an die gute alte Zeit im Kommunismus erinnert. Als alles besser war, die Gemeinschaft noch eine Gemeinschaft und das Leben ganz klar im Jahresablauf getaktet erschien. Barbara Horvath gibt ihre Gegenspielerin Virgilova, die mit ihr um die Beherbergung von Pavel rittert. Nicht, weil sie, wie ihre Kontrahentin, einen sozialen Auftrag dazu fühlt, sondern weil sie das von der Gemeinde dafür zur Verfügung gestellte Pflegegeld gut brauchen kann. Klar arbeitet Habermehl die unterschiedlichen Charaktere und Motivationen der beiden Frauen heraus. Vinska, die Tochter von Virgilova, wird von Franziska Hackl dargestellt. Eine junge Göre, aufmüpfig gegen alle, aber auch gegen Peter, den sie in Ebner-Eschenbachs Version eigentlich abgöttisch liebt. Der Text macht klar, dass Pavel nur ein Kind von vielen ist, das auf der Straße lebt. „In Tschechien kommst du auf Platz 43!“ wird ihm drohend gesagt, als ihm der Einzug bei einer der beiden Frauen schmackhaft gemacht werden soll.

Peter (Florian von Manteuffel) und Pavel (Thiemo Strutzenberger) bleiben hingegen jene Kontrahenten, die sie auch in der Originalfassung sind. Strutzenberger spielt den jungen Fremdkörper in der Gemeinde als naiven Außenseiter, der sich in den gesellschaftlichen Normen überhaupt nicht zurechtfindet. Aber er ist nicht laut aufmüpfig. Vielmehr hinterfragt er mit einer gewissen Bauernschläue so manche Entscheidung der Erwachsenen und legt dabei seinen Finger immer die Wunde. Er folgt dabei in einer kleinen Szene zu Beginn einem zauberhaften Regieeinfall von Rudolf Frey, in der er seine krakelige Handschrift, die er der Lehrerin vorführen soll, mit kleinen Fußbewegungen im braunen Erdreich imitiert. Und als Ausflucht aus seinen trostlosen Lebensumständen wünscht er sich, ins Universum wegzufliegen und erst wieder zurückzukommen, wenn alle tot sind. Der Regisseur reduziert den Handlungsradius der Beteiligten auf ein Minimum und rückt die Musik dadurch verstärkt in den Vordergrund. Dennoch haben einige der Szenen eine enorme Kraft, wie jene, in der Peter von der Dorfgemeinschaft gepeinigt und drangsaliert wird. Resch schuf dazu eine Musik, die gemäßigt beginnt und sich zu einer furiosen, gewaltdurchtränkten Klangattacke hin entwickelt, in welcher alle Beteiligten außer sich geraten. Ein hörbar gewordener Blutrausch, den das Ensemble Phace und die Schauspielerinnen und Schauspieler mit Verve interpretieren. Von Manteuffel verleiht Peter jene psychologische Komponente, die ihn gegen Pavel nicht nur als Rivalen, sondern als eiskalten und gewalttätigen Charakter erscheinen lässt. Habermehl schafft es in ihrer Interpretation, die sozialen Zusammenhänge und das Gefüge der Gemeinde stark in den Vordergrund zu stellen. Dabei wird das Gemeindekind zu einer Art Katalysator vorhandener negativer Befindlichkeiten, die schließlich brutal ausbrechen.

Historische Musikgattungen in einem frischen Outfit

Die hervorragenden Musikerinnen und Musiker des Ensemble Phace sind die ganze Zeit über auf der Bühne sichtbar und fungieren dadurch als Teil der Gemeinde, zumindest jedoch als Mitwisser. Resch schreibt zwar jedem Charakter ein gewisses Instrument zu, gibt sich aber auch die Freiheit, hier keine absolute Stringenz durchzuziehen. Mit seinen eingebauten Landlern, Walzern und einem einprägsamen Kanon verwendet er historisch-musikalische Gattungen, die hervorragend in die rurale Umgebung passen. Auch Duette und Terzette baut er so geschickt um Habermehls Text, dass nicht mehr klar ist, wer hier wem die Vorlage lieferte. Dennoch klingt nichts Altbacken, aber auch nichts nach quälender Atonalität. In kunstvoller Weise verschränkt er den Beginn mit einem kleinen dissonanten Akkord mit dem Schluss, in welchem dieser wieder auftaucht. Im letzten Lied trauert der Chor über das Land, das ihm abhanden gekommen ist. Ein musikalisches Gustostückerl, das sich beim Nachhausegehen als Ohrwurm erweist. Die clevere Stimmführung von Resch ermöglicht es den Beteiligten, ihre eigenen Stimmlagen optimal zu nutzen und ohne Klimmzüge die Stimmbänder zu überdehnen oder anders auszureizen zu müssen. Dennoch eine große Herausforderung für Schauspielerinnen und Schauspieler, aber bravourös umgesetzt und in hohem Maße gelungen.

Das Bühnenbild von Vincent Mesnaritsch reduziert sich auf einen einzigen, offenen Raum, der durch Neonröhren nach oben begrenzt ist und auf dessen Boden eine dicke Schicht dunkle, braune Erde aufgeschüttet ist. Es entspricht in seiner Zurücknahme der Regieführung. Anne Habermehls Gemeindekind ist ein Zustandsbericht einer Dorfgemeinschaft, die keine Gemeinschaft mehr ist. Die Alten träumen von der Vergangenheit, die Jüngeren möchten endlich mehr Geld verdienen und die jüngste Generation sucht ihr Heil in der Disco und im Konsum elektronischer Geräte. Die Ausgeschlossenen sind selber schuld und werden nur als Störfaktoren begriffen. Pavels Flucht ist nur konsequent, wenngleich für ihn selbst verstörend. „Mein Herz das glüht, schmilzt nicht raus aus mir. In mir bin nur ich.“ Seine Einsamkeit trägt er mit sich, egal wo er auch hinläuft.

Eine gelungene Inszenierung, die aufzeigt, wie gut komponierte, zeitgenössische Musik in der Verschränkung mit einem aktuellen und intelligent geschriebenen Stoff zu einem sehens- und hörenswerten Ganzen verschmilzt.

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Schauspielhaus
Anne Habermehl
Gerald Resch

Ich habe den Eindruck, dass ich ein musikalischer Tafelbildmaler bin

Ich habe den Eindruck, dass ich ein musikalischer Tafelbildmaler bin

Gerald Resch (c) Wien Modern Lavinie Haala

Gerald Resch (c) Wien Modern Lavinie Haala

Interview mit dem österreichischen Komponisten Gerald Resch anlässlich des Festivals Wien Modern 2011.

Wie ist das für Sie, wenn Sie ein Werk von sich bei der Uraufführung das erste Mal hören?

Meine Vorstellung ist doch ziemlich genau, daher ist es nicht sehr überraschend; ich weiß ja, was ich geschrieben habe. Bei manchen Sachen, die ich mir anders vorgestellt habe – da geht es vor allem um Balance – wenn ich zum Beispiel höre, was die Hörner spielen, weiß ich, dass ich anstelle von Mezzopiano doch besser Mezzoforte notieren hätte sollen. Das sehe ich dann als meinen Fehler an, den man aber leicht ausbessern kann.

Kann man diese Ausbesserungsarbeiten mit jenen am Theater vergleichen, bei welchen man ja auch noch bemüht ist auf die Reaktionen des Publikums einzugehen?

Nein, eigentlich nicht, denn ich arbeite ja nicht auf die Reaktionen des Publikums hin, sondern in Bezug auf meine eigene Vorstellung. Was ich aber schon mache, ist der Versuch, mit dem, was ich schreibe, spannend zu bleiben. In gewisser Weise bin ich mein erster Hörer. Aufgrund meiner Erfahrungen kann ich mir dann auch sagen, wenn mir jetzt fad ist, ist dem Publikum vielleicht auch schon fad. Aber vielleicht stimmt das auch nicht, denn Komponisten tendieren immer dazu, zu schnelle Tempi zu wählen. Man sitzt ja wochenlang über einer bestimmten Stelle, die man dann ja irgendwann genau kennt und dann denkt man sich „weiter, weiter, weiter“. Für jemanden, der das aber zum ersten Mal hört, ist es vielleicht zu rasch, wenn man mit ungewohnten Inhalten konfrontiert wird.

Eines Ihrer Hauptcharakteristika ist für mich das Überraschungsmoment, das so gut wie in jedem Ihrer Stücke vorkommt.

Es gibt viel zeitgenössische Musik, die sehr diskontinuierlich ist, in der sehr viele Brüche aufeinanderfolgen, sehr starke Kontraste in sehr kurzer Zeit eingesetzt werden. Das ist in meiner Musik nicht so. Bei mir geht es fast immer um recht logische, deutliche Prozesse die sich entwickeln. Wie das z.B. in meinem Violinkonzert Schlieren der Fall ist. Die Geige beginnt alleine, dann kommen die Schlagzeuger dazu, dann die Solobratsche und der Orchesterapparat schwingt sich wirklich erst peu à peu ein – bis er irgendwann stärker ist als der Solist, der dann fast in diesem Orchester-Klangbad ertrinkt. Aber das braucht alles seine Zeit, eine gewisse Trägheit, eben einen gewissen zeitlichen Verlauf. Diese Neigung zur Kontinuität ist für mich schon ein sehr großer Unterschied zu Komponisten wie dem frühen Wolfgang Rihm zum Beispiel, bei dem oft sehr stark kontrastierende Elemente unmittelbar aufeinanderfolgen.

Ist das ein Generationenunterschied, eine Anti-Haltung die bedeutet, ich gehe das anders an?

Nein, das glaube ich eigentlich nicht. Die Persönlichkeiten sind einfach unterschiedlich gestrickt. Mir erscheint es interessanter, die Hörer in gewisser Weise an der Hand zu nehmen und in die Musik hineinzuziehen als Unterschiedliches einigermaßen wirr vorzuzeigen.

Sie erzählen mit ihrer Musik eigentlich gerne, oder?

Ja, ich vermute schon. Mir kommt auch vor, dass in den letzten Jahren das dramaturgische Denken wichtiger wird. Am Beginn einer Komposition habe ich meist eine Menge loser Ideen und denke mir dabei auch, dass ich als Schluss dieses oder jenes einsetzen könnte, aber ich weiß noch nicht genau, wohin es mich im Verlauf der Komposition tragen wird. Die Möglichkeiten konkretisieren sich im Laufe der Arbeit und dann bin ich plötzlich an einer Stelle, an der sich das Stück soweit klar entwickelt hat, dass ich es als spannend empfinde, genau jetzt einen Bruch einzuführen. Also ist dieses Überraschungsmoment von dem Sie sprechen, das es so gut wie in jedem Stück gibt, doch mit ziemlichem Bedacht eingesetzt. Das ist so wie bei einer Pointe, bei der müssen Sie sich gut überlegen, wo Sie sie setzen. Im Englischen heißt Pointe ja timing, was es genau trifft.

Sie haben in den letzten 10 Jahren kontinuierlich 1-3 Kompositionsaufträge pro Jahr erhalten. Komponieren Sie eigentlich immer und sagen Sie dann „das kann ich jetzt für diesen Auftrag verwenden“ oder läuft das bei Ihnen anders ab?

Nein, eigentlich ist es so, dass ich die Einschränkungen, die mit einem Auftrag oft verbunden sind, gerne habe. Das ist eine Charakterfrage. Es gibt den berühmten Roman von Georges Perec „La disparition“ in dem er alle Buchstaben verwendet, bis auf den einen, der im Französischen am Häufigsten vorkommt, nämlich das E. Dieser Roman ohne E ist eine Unglaublichkeit. Ein Roman von 300 Seiten der ohne diesen Buchstaben auskommt. Versuchen Sie nur einen Satz zu formulieren ohne E! Sie werden automatisch auf völlig andere Dinge kommen, die Sie ausdrücken, wie wenn Sie ohne Einschränkung sagen könnten, was immer Sie wollen. Dieser Georges Perec bzw. das Oulipo, wie diese französische Richtung aus den 70er Jahren genannt wird, also ouvroir de litterature potentielle, hat mich immer sehr begeistert. Also dieses „was mache ich aus einer Einschränkung“. Bei mir beginnen sofort die Augen zu glühen und das Hirn zu rattern, wenn ich weiß, ich hab eine inspirierende Einschränkung. Bei Cantus firmus, dem Stück, das ich vergangenes Jahr für das Festspielhaus St. Pölten geschrieben habe, wusste ich, dass bei der Aufführung danach die 2. Symphonie von Mendelssohn, Lobgesang, aufgeführt werden würde. Ein großes Stück für Chor und Orchester und Texten aus der Heiligen Schrift, eine richtig affirmative Gotteslobmusik. Und ich sollte das Stück für die erste Konzerthälfte schreiben. Das war eigentlich eine unglaubliche Bürde, etwas zu finden, was von dem Mendelssohn nicht erdrückt wird, ihn auf eine sinnvolle Art und Weise kommentiert und trotzdem meine Musik ist. So etwas mag ich sehr und finde ich hochspannend. Deswegen habe ich mich über diesen Auftrag auch sehr gefreut.

War es für Sie immer schon klar, dass Sie mit der Musik etwas zu tun haben werden oder hätten Sie genauso gut in andere Künste abgleiten können?

Ich selber hatte als Jugendlicher den Eindruck ich könnte alles Mögliche werden, aber meine damaligen Lehrer meinen rückblickend, dass es für sie klar gewesen sei, dass ich Musiker werden würde. Ich hatte damals wohl eine sehr verklärende Selbstsicht.

Sind Sie diesbezüglich erblich vorbelastet?

Nicht wirklich. Meine Eltern sind beide Lehrer, mein Großvater war ein tschechischer Kellner und da gehörte es natürlich auch dazu, dass man Geige spielte, damit die Leute im Gasthaus mehr Schnaps tranken. Wobei schon irgendein Gen ausgebrochen sein dürfte, das ein paar Generationen übersprungen hat, da mein Bruder auch Musiker ist und an einem Gymnasium Musik unterrichtet.

Gibt es für Sie Parallelen in anderen Künsten, wie der bildenden Kunst, der Literatur, im Theater die das widerspiegeln, was Sie in Ihren Kompositionen machen?

Ich empfinde persönlich in der bildenden Kunst speziell der letzten 30 Jahre eine ganz starke Zweigleisigkeit. Einerseits das Aufbrechen in die Intermedialität, reziprok dazu aber das Festhalten am Tafelbild. Bei Künstlern wie Gerhard Richter zum Beispiel, der sowohl konkret als auch abstrakt arbeitet, ist diese ganze Bandbreite vorhanden und das ist mir vielleicht ein wenig verwandt. Ich habe den Eindruck, dass ich ein musikalischer Tafelbildmaler bin, dass ich gerne diesen viereckigen Rahmen habe, der bei mir in erster Linie instrumentale Konstellationen bedeutet und dass ich aber innerhalb dieses Rahmens auch zwischen konkret und abstrakt wechseln kann. Das mach ich dann situationsbedingt. Manchmal ist es wichtig, sehr konkret zu sein, manchmal ist es viel spannender, zu abstrahieren. Ich habe vor einigen Tagen mit einer befreundeten Komponistin, Leah Muir, gesprochen. Ihr Freund beschäftigt sich mit Gehirnforschung und wir unterhielten uns darüber, dass ein Gehirn bei Kippbildern, wenn das Gehirn permanent überlegen muss „ist das jetzt nur ein Muster, oder sehe ich da eine konkrete Form drinnen?“ wohl am alleraktivsten ist. Viel aktiver, als wenn Sie einfach nur konkret Figuren sehen und auch viel aktiver als würden Sie erkennen, dass das eine abstrakte Figuration ist. Genau dieser Zwischenbereich, in dem man nicht weiß, ob das schon konkret ist oder nicht, ist auch so etwas wie eine ästhetische Erfahrung.
Bei meinem Stück Grounds beispielsweise gehe ich von einer Gambenfantasie von Henry Purcell aus, die 1680 komponiert wurde. In diesem Stück leite ich das ganze musikalische Material aus einem Cantus firmus ab, der der Purcell-Fantasie zugrunde liegt. Das ist ein kompliziertes Verfahren, in welchem ich mit genetischen Generationen arbeite, sodass beispielsweise die Akkorde, die ich verwende, in irgendeiner entfernten Art und Weise auch aus dieser Purcell-Grundlage herauskommen. Die Dramaturgie dieses Stückes, das 5 Sätze hat, ist die, dass ich sozusagen mit einem normalen Resch-Stück beginne und immer mehr in die Purcell-Region gehe, bis ich dann im 4. Satz diese originale Fantasie von Purcell tatsächlich zitiere und mich schließlich im 5. Satz davon wieder in meine eigene Musik hinein entferne. Das bedeutet ein Spiel zwischen Nähe und Distanz, bei der auch etwas von der Abstraktion ins Konkrete übergeht und sich dann auch wieder ins Abstrakte zurückzieht.

Haben Sie je auch mit Elektronik in Ihren Stücken eingesetzt?

Ich habe ja Komposition einerseits und Musikwissenschaft andererseits studiert und hatte dann den Eindruck, dass mir etwas ziemlich Essentielles fehlt. Etwas Spontaneres, Unakademischeres, was ich in einem Lehrgang für Elektroakustik nachholen wollte. Ich begann das zu studieren, konnte dies aber nur ein Jahr lang tun. Dann kam meine Tochter auf die Welt und damit war klar, dass ich Geld verdienen musste. Bis heute habe ich großes Interesse an der Elektroakustik, aber ich fühle mich darin als Dilettant. Ich glaube, dass da ganz maßgebliche Dinge passieren, die ich auch versuche zu erleben, aber ich weiß noch nicht, ob ich das selbst jemals lernen und für mein eigenes Komponieren verwenden werde.

Feiert bei Ihnen die Postmoderne fröhliche Urstände, weil Sie einen historischen Klangapparat bemühen?

Darin bin ich noch nicht postmodern. Das machen viele andere Kollegen ja auch. Das Orchester ist einfach auch ein Apparat, der in seiner Standardkonfiguration gewissermaßen ein Maximum an Möglichkeiten birgt. Ich nenne da nur das Stück von Clemens Gadenstätter „Fluchten/Agorasonie, das auch für Standardorchester geschrieben ist, mit Integration ganz weniger Zusatzinstrumente. Aber im Grunde ist das ein Orchesterstück für dreifaches Holz und Blech, weil man da einfach so gut wie alles machen kann. Ich glaube nicht, dass die Verwendung eines Orchesters in seiner Standardaufstellung, wie bei einer Tschaikowsky-Symphonie, bereits so etwas ist wie „Sich-verbunden-fühlen“ mit einer Tradition. Trotz seiner langen Geschichte bietet dieser „Apparat“ – das Orchester – einfach ein Füllhorn an akustischen Möglichkeiten. Stellen Sie sich vor, Sie lassen alle Geigen auf dem tiefsten Ton spielen und alle Celli auf dem allerhöchsten. So etwas werden Sie in einem Orchester noch nie gehört haben. Das ist nur ein ganz banales Beispiel. Es gibt einfach Millionen von Möglichkeiten. Insofern sehe ich persönlich auch keine Notwendigkeit, ein Orchester durch Verwendung einer Tonbandschicht zu sprengen. Ich kann mir gut vorstellen, dass man das, was in der Tonbandspur geschieht, auch einfach ins Orchester hineininstrumentiert.

Man hat gerade während des Festivals Wien Modern die Möglichkeit, viele zeitgenössische Positionen hintereinander zu hören. Inwieweit bildet das für Sie eine Beeinflussung?

Das ist schon sehr wichtig. Ich finde es am Beruf des Komponisten auch sehr schön, dass man über die Kollegen gut Bescheid weiß. Komponist sein ist ja etwas recht Ungewöhnliches, es gibt in Österreich nur ein paar Hundert davon und irgendwann kennt man die ja auch. Jetzt hatte ich die Freude, Kollegen aus England kennenzulernen, wie Emily Howard, mit der ich mich auch ein bisschen befreundet habe und es ist einfach spannend, Werkstattgespräche zu führen. Zu fragen „wie machst Du das?“ oder „wie ist die Situation der Ensembles in Deinem Land?“ oder was auch immer.

Sind Sie selbst einem Ensemble besonders verbunden?

Von Studentenzeiten her dem Ensemble „Phace“, das meine Stücke aufgeführt hat und mich begleitete. Ansonsten mit dem Ensemble Kontrapunkte, bei dem ich mich freue, dass sich sein Dirigent Peter Keuschnig seit vielen Jahren für meine Kompositionen interessiert. Das ist besonders schön, weil sich in einer kontinuierlichen Zusammenarbeit viel reifere Früchte ernten lassen. Dann hatte ich dieses Jahr Premiere, da mich der erste große Klangforum-Auftrag ereilt hat. Das Klangforum ist ja ein absolutes Spitzenensemble für zeitgenössische Musik. Das Stück, das ich da geschrieben habe, war aufgrund der räumlichen Gegebenheiten ohne Dirigent zu realisieren. Es war für das Foyer des Konzerthauses komponiert worden und das hätte für Ensembles, die weniger eingespielt sind, schon große Schwierigkeiten mit sich bringen können. Es war toll zu sehen, wie das Klangforum damit überhaupt kein Problem hatte. Mir fiel auch bei den Proben ein Stein von Herzen, als absehbar war, dass die Akustik funktionierte, was ja bei diesem großen Raum nicht sicher war.

Wie lange brauchen Sie im Durchschnitt für eine Komposition?

Ich schreibe im Durchschnitt 2-3 Stücke im Jahr. Es ist immer die Frage, ab wann ich zu rechnen beginne. Bei jeder Komposition gibt es ziemlich umfangreiche Vorarbeiten: Materialsammlungen, Referenzstücke kennenlernen und analysieren, Klangverläufe ausprobieren usw. Bei Collection Serti, dem Stück für das Klangforum wusste ich 2009, dass ich einen Auftrag bekommen würde. Ds begann ich einmal ganz vage Ideen zu sammeln. Im Laufe des Jahres 2010 ist Sven Hartberger (Anm: jetziger Intendant des Klangforums) mit dem Oskar Serti-Projekt an mich herangetreten. Seine Frage war, ob ich mir vorstellen könnte, für die sehr spezifische Situation im Foyer, eben räumlich verteilt, ohne Dirigent, das „Erste Bank“ Preisstück zu widmen. Und so habe ich ein Stück für einen speziellen Anlass und für einen speziellen Raum komponiert. Man wagt schon etwas Besonderes, wenn man sich für ein halbes Jahr hinsetzt, um eine Viertel Stunde Musik zu schreiben, die dann auch für eine ganz bestimmte Idealsituation maßgeschneidert sein soll.

Lothar Knessl sagte in seiner Eröffnungsrede dieses Jahr bei Wien Modern, dass Komponisten komponieren müssten, egal, ob sie dafür etwas bekämen oder nicht. Stimmen Sie dem zu?

Im Prinzip schon. Aber es ist die große Frage, von welchem Standpunkt man das sieht. Natürlich will man als Komponist in erster Linie Stücke schreiben, und mitunter schreibt man auch gern etwas für diesen oder jenen Freund – ohne Geld. Aber diese grundsätzliche Bereitschaft nehmen Veranstalter auch ganz gerne als Vorwand, sich aus der Pflicht zu stehlen, die Entstehung einer neuen Komposition mitzufinanzieren. Ein Veranstalter käme zwar niemals auf die Idee einen Musiker zu engagieren, ohne etwas zu bezahlen. Bei Komponisten ist das aber etwas anderes. Da geht man mitunter leider davon aus, dass es eine Ehre sei, ein Stück erstmals z.B. im Musikverein zu Gehör bringen zu dürfen und man als Komponist doch dafür dankbar sein müsse. Dieser Meinung bin ich aber definitiv nicht. Das sehe ich auch als Verpflichtung meiner Berufsgruppe gegenüber. Wenn jeder Komponist sagen würde, „gerne, ich schreibe etwas gratis wegen der Ehre“, dann hätten wir ein unglaubliches Preisdumping und die Szene würde ausgehungert und innerhalb kurzer Zeit könnte dann niemand mehr in irgendeiner Art und Weise vom und für das Komponieren leben.

Empfinden Sie, dass es in Österreich eine Ballung an Musikinteresse gibt, welches sich außerhalb des Landes, speziell außerhalb Europas sehr schnell verdünnt?

Ich kann sagen, dass ich in Österreich mittlerweile zu jenen Komponisten gehöre, die sehr gut wahrgenommen werden, aber außerhalb von Österreich so gut wie gar nicht. Ich habe während des Festivals Wien Modern mit einem Kölner Journalisten gesprochen, der mir sagte, dass die dortige Szene viel stärker auf Stockhausen und andere regionale Künstler konzentriert ist, als hier bei uns. Und dass eine breite Internationalität, wie sie heuer Wien Modern gezeigt hat, oder auch das Klangforum vertritt, dort gar nicht möglich sei.

Wenn man sich nun aber die Kunstlandschaft ansieht, so ist es doch speziell die Musik, die derart „national“ unter sich bleibt. „National“ nicht im Sinne von Gesinnung, sondern nur im Sinne von räumlichem Zusammenleben und Arbeiten in einer bestimmten Nation. Die bildende Kunst hingegen überspringt die Grenzen doch viel schneller.

Ich denke, das liegt daran, dass bildende Kunst immer auch einen Marktwert hat. Sie können heute das Bild eines aufstrebenden chinesischen Künstlers kaufen. Wenn Sie ein gutes Gespür haben, ist dieses Bild in 10 Jahren das 5-fache wert. Das ist bei Musik nicht der Fall. Das ist einerseits ein Dilemma. Andererseits ist es aber etwas unglaublich Poetisches zu sagen, dass Musik eigentlich ja nichts wert ist. Wenn Sie sich heute eine Partitur von mir kaufen ist die gar nichts wert, sie klingt ja nicht. Selbst in dem Augenblick, in dem sie klingt, ist sie noch immer nichts wert, weil sie ja einfach nur Luft ist, die sich bewegt und Ihr Ohr erreicht. Sie können sich das nicht an die Wand hängen oder sich damit schmücken, dass Sie reich sind, weil Sie meine Partitur besitzen. Sie sind es nicht.

Sie befinden sich damit ja komplett außerhalb des kapitalistischen Wertesystems.

So empfinde ich das tatsächlich.

Macht Ihnen das Freude oder tut Ihnen das leid?

Ich sehe es als einen legitimen, anderen Blick auf dieses Dilemma. Man jammert im Allgemeinen darüber, dass es für die zeitgenössische Musik so wenig Publikum gäbe, dass man sich in einer Nische befände. Man fragt sich nach der gesellschaftlichen Relevanz des eigenen kompositorischen Tuns. Ich denke aber, dass es auf der anderen Seite auch ein großer Freiraum ist zu sagen, dass es – gerade weil die zeitgenössische Musik außerhalb des kapitalistischen Wertesystems steht – ja doch ein Publikum gibt. Bei Oskart Serti waren an zwei Abenden jeweils 600 Leute, die als eine große Gemeinschaft inmitten „meiner“ Musiker teilweise mit geschlossenen Augen standen und dieses Stück intensiv erlebten. Das ist ja nicht Nichts!

Ist es nicht so, dass sich die Demokratie an ihren Minderheiten beweist? Und nur dann, wenn Minderheiten frei das ausleben können, was sie möchten, leben wir in einem freien demokratischen Land? Der andere Gesichtspunkt ist, dass sich eine Gesellschaft – egal ob Demokratie oder nicht – ja vor allem auch durch ihren Rand definiert. Wenn man nun das Zentrum als Ballung von Menschen sieht, dann hat man natürlich nach außen hin diese Ausdünnung zu den Minderheiten. Man fragt sich immer was bringt das, was kostet das, wer hat was davon, dieser viele Aufwand für die wenigen Leute! Aber es fragt sich eigentlich niemand: Was würden alle diese Menschen machen, denen das gefällt, die gerade dafür ein Auge, ein Ohr, ein Sensorium haben, wenn wir diese Projekte nicht am Leben erhalten würden.

Oder wollten wir in einer Gesellschaft leben, die so etwas nicht mehr ermöglicht? Ich würde mich unweigerlich fragen, ob Wien dann noch die Stadt wäre, in der ich gerne und freiwillig lebe. Ich bin auch davon überzeugt, dass der Umgang mit den Interessen von Minderheiten ein unmittelbarer Indikator für die Reife und die Toleranz einer Gesellschaft ist.

Minderheit bedeutet in Ihrem Fall ja auch Verteidigung der zeitgenössischen Kunstpositionen.

Ja, obwohl das jetzt doch ein bisschen zu kämpferisch klingt. Es gibt auch viel sichtbarere Minderheiten, zum Beispiel die Minderheit der Bettler. Wie geht eine Gesellschaft damit um, dass vor jedem Billa jemand steht, der eine Zeitung verkaufen möchte? Schafft es eine Gesellschaft zu akzeptieren, dass es diese Menschen auch gibt, oder dreht man sich empört weg und findet das unmöglich, weil es diese Menschen früher nicht so sichtbar gab? Das ist tatsächlich eine Frage von Reife. Ich erinnere an dieser Stelle nur daran, dass im Islam der Bettler eine Bereicherung für die Gesellschaft ist, weil er Ihren Mitgliedern die Möglichkeit gibt, Gutes zu tun.

Weil Sie es selbst angesprochen haben: Könnten Sie auch in einer anderen Stadt als Wien leben?

Ich kenne durch mein Studium natürlich einige europäische Städte, aber ich glaube, dass gerade für meinen eigenen musikalischen Ton Wien die richtige Stadt für mich ist. Ich habe gestern bei einem Konzert von Francis Burt und Friedrich Cerha eine ganz schöne Formulierung gefunden. Burt sprach in dem Programmheft von dem „latenten espressivo“ dass es in Wien gäbe, was ihn auch in den 50er Jahren dazu gebracht hätte, bewusst von London nach Wien zu ziehen. Diese Einschätzung teile ich. Dieses „latente espressivo“ als Hintergrundrauschen dieser Stadt ist etwas, womit ich gut kann.

Beziehen Sie sich damit auf die Gruppe jener Menschen, die Musik machen bzw. sich in diesem Umfeld bewegen?

Nicht unbedingt. Zweifelsohne ist die musikalische Infrastruktur in Wien eine hervorragende im Vergleich zu vielen anderen Städten dieser Größe. Aber ich mag vor allem auch die Art, in der in Wien im Alltag Dinge möglich sind. Es ist dem Straßenbahnfahrer streng untersagt, dass er Ihnen mit einem Kinderwagen in die Straßenbahn hilft und er tut es aber trotzdem. Es ist dieses slawische Temperament, das Wien so bereichert. Dieses „es geht doch irgendwie“. Ich bin ja auch ein Zugereister, nicht hier geboren, obwohl ich schon seit 20 Jahren in Wien lebe. Ich lebe sehr gerne in der Brigittenau. Schätze es immer, wenn ich über den Fluss, den Donaukanal muss. Ich mag das sehr, dass man da etwas hinter sich lässt, die Seite wechselt und wie auf einer kleinen Insel lebt.

Jede Stadt hat ja auch ihr eigenes Tempo. Schlägt sich das bei Ihnen auch beim Komponieren nieder?

Das Komponieren ist per se eine unfassbar langsame Tätigkeit. Um hier die Relationen deutlich zu machen: Um 15 Minuten Musik zu schreiben, brauche ich zumindest 400 Stunden. Das ist eine unglaublich luxuriöse Situation. Total unökonomisch. Aber Sie brauchen auch lang um im besten Fall etwas zu machen, was dann auch wirklich schön ist. Man hat auch nicht weniger lang an Heiligenstatuen geschnitzt oder an einem Wasserspeier, der vom Stephansdom herunter guckt. Das ist alles Überfluss an Zeit und Lebensenergie, die da hineingesteckt wurde. Für einen Menschen, der komponiert, dehnt sich die Zeit extrem. Die 15 Minuten Stückdauer werden gedehnt auf 400 Stunden Arbeit. Eine Stadt wie Wien, die sicherlich ein langsameres Tempo hat als z.B. London, wo ich in den letzten Jahren regelmäßig war, ist so einer langsamen Tätigkeit wie dem Komponieren möglicherweise tatsächlich förderlich. In Wien kann ich 4 Stunden am Vormittag sitzen und komponieren und habe das Gefühl, währenddessen nichts Wesentliches versäumt zu haben. Auf diese Weise kommt man kompositorisch gut voran.

Haben Sie mittelfristige Pläne?

Ich habe viele Pläne, aber ich warte auf Angebote. Ich hatte bei Wien Moderne schöne Aufführungen und durfte damit wunderbare Erfolge feiern, aber ich verfolge im Augenblick keinen größeren konkreten Auftrag.

Wenn man jetzt an Sie herankäme, hätten Sie dann Ideen oder würden Sie sich eher freuen, wie Sie eingangs sagten, Begrenzungen zu erfahren?

Ich denke, das würde ich dann in einem reziproken Diskurs sicher klären!

Michaela Preiner führte das Interview mit Gerald Resch im Café Vindobona am 24.11. 2011

Gerald Resch (c) Wien Modern Lavinie Haala

Gerald Resch (c) Wien Modern Lavinie Haala

Interview mit dem österreichischen Komponisten Gerald Resch anlässlich des Festivals Wien Modern 2011.

Wie ist das für Sie, wenn Sie ein Werk von sich bei der Uraufführung das erste Mal hören?

Meine Vorstellung ist doch ziemlich genau, daher ist es nicht sehr überraschend; ich weiß ja, was ich geschrieben habe. Bei manchen Sachen, die ich mir anders vorgestellt habe – da geht es vor allem um Balance – wenn ich zum Beispiel höre, was die Hörner spielen, weiß ich, dass ich anstelle von Mezzopiano doch besser Mezzoforte notieren hätte sollen. Das sehe ich dann als meinen Fehler an, den man aber leicht ausbessern kann.

Kann man diese Ausbesserungsarbeiten mit jenen am Theater vergleichen, bei welchen man ja auch noch bemüht ist auf die Reaktionen des Publikums einzugehen?

Nein, eigentlich nicht, denn ich arbeite ja nicht auf die Reaktionen des Publikums hin, sondern in Bezug auf meine eigene Vorstellung. Was ich aber schon mache, ist der Versuch, mit dem, was ich schreibe, spannend zu bleiben. In gewisser Weise bin ich mein erster Hörer. Aufgrund meiner Erfahrungen kann ich mir dann auch sagen, wenn mir jetzt fad ist, ist dem Publikum vielleicht auch schon fad. Aber vielleicht stimmt das auch nicht, denn Komponisten tendieren immer dazu, zu schnelle Tempi zu wählen. Man sitzt ja wochenlang über einer bestimmten Stelle, die man dann ja irgendwann genau kennt und dann denkt man sich „weiter, weiter, weiter“. Für jemanden, der das aber zum ersten Mal hört, ist es vielleicht zu rasch, wenn man mit ungewohnten Inhalten konfrontiert wird.

Eines Ihrer Hauptcharakteristika ist für mich das Überraschungsmoment, das so gut wie in jedem Ihrer Stücke vorkommt.

Es gibt viel zeitgenössische Musik, die sehr diskontinuierlich ist, in der sehr viele Brüche aufeinanderfolgen, sehr starke Kontraste in sehr kurzer Zeit eingesetzt werden. Das ist in meiner Musik nicht so. Bei mir geht es fast immer um recht logische, deutliche Prozesse die sich entwickeln. Wie das z.B. in meinem Violinkonzert Schlieren der Fall ist. Die Geige beginnt alleine, dann kommen die Schlagzeuger dazu, dann die Solobratsche und der Orchesterapparat schwingt sich wirklich erst peu à peu ein – bis er irgendwann stärker ist als der Solist, der dann fast in diesem Orchester-Klangbad ertrinkt. Aber das braucht alles seine Zeit, eine gewisse Trägheit, eben einen gewissen zeitlichen Verlauf. Diese Neigung zur Kontinuität ist für mich schon ein sehr großer Unterschied zu Komponisten wie dem frühen Wolfgang Rihm zum Beispiel, bei dem oft sehr stark kontrastierende Elemente unmittelbar aufeinanderfolgen.

Ist das ein Generationenunterschied, eine Anti-Haltung die bedeutet, ich gehe das anders an?

Nein, das glaube ich eigentlich nicht. Die Persönlichkeiten sind einfach unterschiedlich gestrickt. Mir erscheint es interessanter, die Hörer in gewisser Weise an der Hand zu nehmen und in die Musik hineinzuziehen als Unterschiedliches einigermaßen wirr vorzuzeigen.

Sie erzählen mit ihrer Musik eigentlich gerne, oder?

Ja, ich vermute schon. Mir kommt auch vor, dass in den letzten Jahren das dramaturgische Denken wichtiger wird. Am Beginn einer Komposition habe ich meist eine Menge loser Ideen und denke mir dabei auch, dass ich als Schluss dieses oder jenes einsetzen könnte, aber ich weiß noch nicht genau, wohin es mich im Verlauf der Komposition tragen wird. Die Möglichkeiten konkretisieren sich im Laufe der Arbeit und dann bin ich plötzlich an einer Stelle, an der sich das Stück soweit klar entwickelt hat, dass ich es als spannend empfinde, genau jetzt einen Bruch einzuführen. Also ist dieses Überraschungsmoment von dem Sie sprechen, das es so gut wie in jedem Stück gibt, doch mit ziemlichem Bedacht eingesetzt. Das ist so wie bei einer Pointe, bei der müssen Sie sich gut überlegen, wo Sie sie setzen. Im Englischen heißt Pointe ja timing, was es genau trifft.

Sie haben in den letzten 10 Jahren kontinuierlich 1-3 Kompositionsaufträge pro Jahr erhalten. Komponieren Sie eigentlich immer und sagen Sie dann „das kann ich jetzt für diesen Auftrag verwenden“ oder läuft das bei Ihnen anders ab?

Nein, eigentlich ist es so, dass ich die Einschränkungen, die mit einem Auftrag oft verbunden sind, gerne habe. Das ist eine Charakterfrage. Es gibt den berühmten Roman von Georges Perec „La disparition“ in dem er alle Buchstaben verwendet, bis auf den einen, der im Französischen am Häufigsten vorkommt, nämlich das E. Dieser Roman ohne E ist eine Unglaublichkeit. Ein Roman von 300 Seiten der ohne diesen Buchstaben auskommt. Versuchen Sie nur einen Satz zu formulieren ohne E! Sie werden automatisch auf völlig andere Dinge kommen, die Sie ausdrücken, wie wenn Sie ohne Einschränkung sagen könnten, was immer Sie wollen. Dieser Georges Perec bzw. das Oulipo, wie diese französische Richtung aus den 70er Jahren genannt wird, also ouvroir de litterature potentielle, hat mich immer sehr begeistert. Also dieses „was mache ich aus einer Einschränkung“. Bei mir beginnen sofort die Augen zu glühen und das Hirn zu rattern, wenn ich weiß, ich hab eine inspirierende Einschränkung. Bei Cantus firmus, dem Stück, das ich vergangenes Jahr für das Festspielhaus St. Pölten geschrieben habe, wusste ich, dass bei der Aufführung danach die 2. Symphonie von Mendelssohn, Lobgesang, aufgeführt werden würde. Ein großes Stück für Chor und Orchester und Texten aus der Heiligen Schrift, eine richtig affirmative Gotteslobmusik. Und ich sollte das Stück für die erste Konzerthälfte schreiben. Das war eigentlich eine unglaubliche Bürde, etwas zu finden, was von dem Mendelssohn nicht erdrückt wird, ihn auf eine sinnvolle Art und Weise kommentiert und trotzdem meine Musik ist. So etwas mag ich sehr und finde ich hochspannend. Deswegen habe ich mich über diesen Auftrag auch sehr gefreut.

War es für Sie immer schon klar, dass Sie mit der Musik etwas zu tun haben werden oder hätten Sie genauso gut in andere Künste abgleiten können?

Ich selber hatte als Jugendlicher den Eindruck ich könnte alles Mögliche werden, aber meine damaligen Lehrer meinen rückblickend, dass es für sie klar gewesen sei, dass ich Musiker werden würde. Ich hatte damals wohl eine sehr verklärende Selbstsicht.

Sind Sie diesbezüglich erblich vorbelastet?

Nicht wirklich. Meine Eltern sind beide Lehrer, mein Großvater war ein tschechischer Kellner und da gehörte es natürlich auch dazu, dass man Geige spielte, damit die Leute im Gasthaus mehr Schnaps tranken. Wobei schon irgendein Gen ausgebrochen sein dürfte, das ein paar Generationen übersprungen hat, da mein Bruder auch Musiker ist und an einem Gymnasium Musik unterrichtet.

Gibt es für Sie Parallelen in anderen Künsten, wie der bildenden Kunst, der Literatur, im Theater die das widerspiegeln, was Sie in Ihren Kompositionen machen?

Ich empfinde persönlich in der bildenden Kunst speziell der letzten 30 Jahre eine ganz starke Zweigleisigkeit. Einerseits das Aufbrechen in die Intermedialität, reziprok dazu aber das Festhalten am Tafelbild. Bei Künstlern wie Gerhard Richter zum Beispiel, der sowohl konkret als auch abstrakt arbeitet, ist diese ganze Bandbreite vorhanden und das ist mir vielleicht ein wenig verwandt. Ich habe den Eindruck, dass ich ein musikalischer Tafelbildmaler bin, dass ich gerne diesen viereckigen Rahmen habe, der bei mir in erster Linie instrumentale Konstellationen bedeutet und dass ich aber innerhalb dieses Rahmens auch zwischen konkret und abstrakt wechseln kann. Das mach ich dann situationsbedingt. Manchmal ist es wichtig, sehr konkret zu sein, manchmal ist es viel spannender, zu abstrahieren. Ich habe vor einigen Tagen mit einer befreundeten Komponistin, Leah Muir, gesprochen. Ihr Freund beschäftigt sich mit Gehirnforschung und wir unterhielten uns darüber, dass ein Gehirn bei Kippbildern, wenn das Gehirn permanent überlegen muss „ist das jetzt nur ein Muster, oder sehe ich da eine konkrete Form drinnen?“ wohl am alleraktivsten ist. Viel aktiver, als wenn Sie einfach nur konkret Figuren sehen und auch viel aktiver als würden Sie erkennen, dass das eine abstrakte Figuration ist. Genau dieser Zwischenbereich, in dem man nicht weiß, ob das schon konkret ist oder nicht, ist auch so etwas wie eine ästhetische Erfahrung.
Bei meinem Stück Grounds beispielsweise gehe ich von einer Gambenfantasie von Henry Purcell aus, die 1680 komponiert wurde. In diesem Stück leite ich das ganze musikalische Material aus einem Cantus firmus ab, der der Purcell-Fantasie zugrunde liegt. Das ist ein kompliziertes Verfahren, in welchem ich mit genetischen Generationen arbeite, sodass beispielsweise die Akkorde, die ich verwende, in irgendeiner entfernten Art und Weise auch aus dieser Purcell-Grundlage herauskommen. Die Dramaturgie dieses Stückes, das 5 Sätze hat, ist die, dass ich sozusagen mit einem normalen Resch-Stück beginne und immer mehr in die Purcell-Region gehe, bis ich dann im 4. Satz diese originale Fantasie von Purcell tatsächlich zitiere und mich schließlich im 5. Satz davon wieder in meine eigene Musik hinein entferne. Das bedeutet ein Spiel zwischen Nähe und Distanz, bei der auch etwas von der Abstraktion ins Konkrete übergeht und sich dann auch wieder ins Abstrakte zurückzieht.

Haben Sie je auch mit Elektronik in Ihren Stücken eingesetzt?

Ich habe ja Komposition einerseits und Musikwissenschaft andererseits studiert und hatte dann den Eindruck, dass mir etwas ziemlich Essentielles fehlt. Etwas Spontaneres, Unakademischeres, was ich in einem Lehrgang für Elektroakustik nachholen wollte. Ich begann das zu studieren, konnte dies aber nur ein Jahr lang tun. Dann kam meine Tochter auf die Welt und damit war klar, dass ich Geld verdienen musste. Bis heute habe ich großes Interesse an der Elektroakustik, aber ich fühle mich darin als Dilettant. Ich glaube, dass da ganz maßgebliche Dinge passieren, die ich auch versuche zu erleben, aber ich weiß noch nicht, ob ich das selbst jemals lernen und für mein eigenes Komponieren verwenden werde.

Feiert bei Ihnen die Postmoderne fröhliche Urstände, weil Sie einen historischen Klangapparat bemühen?

Darin bin ich noch nicht postmodern. Das machen viele andere Kollegen ja auch. Das Orchester ist einfach auch ein Apparat, der in seiner Standardkonfiguration gewissermaßen ein Maximum an Möglichkeiten birgt. Ich nenne da nur das Stück von Clemens Gadenstätter „Fluchten/Agorasonie, das auch für Standardorchester geschrieben ist, mit Integration ganz weniger Zusatzinstrumente. Aber im Grunde ist das ein Orchesterstück für dreifaches Holz und Blech, weil man da einfach so gut wie alles machen kann. Ich glaube nicht, dass die Verwendung eines Orchesters in seiner Standardaufstellung, wie bei einer Tschaikowsky-Symphonie, bereits so etwas ist wie „Sich-verbunden-fühlen“ mit einer Tradition. Trotz seiner langen Geschichte bietet dieser „Apparat“ – das Orchester – einfach ein Füllhorn an akustischen Möglichkeiten. Stellen Sie sich vor, Sie lassen alle Geigen auf dem tiefsten Ton spielen und alle Celli auf dem allerhöchsten. So etwas werden Sie in einem Orchester noch nie gehört haben. Das ist nur ein ganz banales Beispiel. Es gibt einfach Millionen von Möglichkeiten. Insofern sehe ich persönlich auch keine Notwendigkeit, ein Orchester durch Verwendung einer Tonbandschicht zu sprengen. Ich kann mir gut vorstellen, dass man das, was in der Tonbandspur geschieht, auch einfach ins Orchester hineininstrumentiert.

Man hat gerade während des Festivals Wien Modern die Möglichkeit, viele zeitgenössische Positionen hintereinander zu hören. Inwieweit bildet das für Sie eine Beeinflussung?

Das ist schon sehr wichtig. Ich finde es am Beruf des Komponisten auch sehr schön, dass man über die Kollegen gut Bescheid weiß. Komponist sein ist ja etwas recht Ungewöhnliches, es gibt in Österreich nur ein paar Hundert davon und irgendwann kennt man die ja auch. Jetzt hatte ich die Freude, Kollegen aus England kennenzulernen, wie Emily Howard, mit der ich mich auch ein bisschen befreundet habe und es ist einfach spannend, Werkstattgespräche zu führen. Zu fragen „wie machst Du das?“ oder „wie ist die Situation der Ensembles in Deinem Land?“ oder was auch immer.

Sind Sie selbst einem Ensemble besonders verbunden?

Von Studentenzeiten her dem Ensemble „Phace“, das meine Stücke aufgeführt hat und mich begleitete. Ansonsten mit dem Ensemble Kontrapunkte, bei dem ich mich freue, dass sich sein Dirigent Peter Keuschnig seit vielen Jahren für meine Kompositionen interessiert. Das ist besonders schön, weil sich in einer kontinuierlichen Zusammenarbeit viel reifere Früchte ernten lassen. Dann hatte ich dieses Jahr Premiere, da mich der erste große Klangforum-Auftrag ereilt hat. Das Klangforum ist ja ein absolutes Spitzenensemble für zeitgenössische Musik. Das Stück, das ich da geschrieben habe, war aufgrund der räumlichen Gegebenheiten ohne Dirigent zu realisieren. Es war für das Foyer des Konzerthauses komponiert worden und das hätte für Ensembles, die weniger eingespielt sind, schon große Schwierigkeiten mit sich bringen können. Es war toll zu sehen, wie das Klangforum damit überhaupt kein Problem hatte. Mir fiel auch bei den Proben ein Stein von Herzen, als absehbar war, dass die Akustik funktionierte, was ja bei diesem großen Raum nicht sicher war.

Wie lange brauchen Sie im Durchschnitt für eine Komposition?

Ich schreibe im Durchschnitt 2-3 Stücke im Jahr. Es ist immer die Frage, ab wann ich zu rechnen beginne. Bei jeder Komposition gibt es ziemlich umfangreiche Vorarbeiten: Materialsammlungen, Referenzstücke kennenlernen und analysieren, Klangverläufe ausprobieren usw. Bei Collection Serti, dem Stück für das Klangforum wusste ich 2009, dass ich einen Auftrag bekommen würde. Ds begann ich einmal ganz vage Ideen zu sammeln. Im Laufe des Jahres 2010 ist Sven Hartberger (Anm: jetziger Intendant des Klangforums) mit dem Oskar Serti-Projekt an mich herangetreten. Seine Frage war, ob ich mir vorstellen könnte, für die sehr spezifische Situation im Foyer, eben räumlich verteilt, ohne Dirigent, das „Erste Bank“ Preisstück zu widmen. Und so habe ich ein Stück für einen speziellen Anlass und für einen speziellen Raum komponiert. Man wagt schon etwas Besonderes, wenn man sich für ein halbes Jahr hinsetzt, um eine Viertel Stunde Musik zu schreiben, die dann auch für eine ganz bestimmte Idealsituation maßgeschneidert sein soll.

Lothar Knessl sagte in seiner Eröffnungsrede dieses Jahr bei Wien Modern, dass Komponisten komponieren müssten, egal, ob sie dafür etwas bekämen oder nicht. Stimmen Sie dem zu?

Im Prinzip schon. Aber es ist die große Frage, von welchem Standpunkt man das sieht. Natürlich will man als Komponist in erster Linie Stücke schreiben, und mitunter schreibt man auch gern etwas für diesen oder jenen Freund – ohne Geld. Aber diese grundsätzliche Bereitschaft nehmen Veranstalter auch ganz gerne als Vorwand, sich aus der Pflicht zu stehlen, die Entstehung einer neuen Komposition mitzufinanzieren. Ein Veranstalter käme zwar niemals auf die Idee einen Musiker zu engagieren, ohne etwas zu bezahlen. Bei Komponisten ist das aber etwas anderes. Da geht man mitunter leider davon aus, dass es eine Ehre sei, ein Stück erstmals z.B. im Musikverein zu Gehör bringen zu dürfen und man als Komponist doch dafür dankbar sein müsse. Dieser Meinung bin ich aber definitiv nicht. Das sehe ich auch als Verpflichtung meiner Berufsgruppe gegenüber. Wenn jeder Komponist sagen würde, „gerne, ich schreibe etwas gratis wegen der Ehre“, dann hätten wir ein unglaubliches Preisdumping und die Szene würde ausgehungert und innerhalb kurzer Zeit könnte dann niemand mehr in irgendeiner Art und Weise vom und für das Komponieren leben.

Empfinden Sie, dass es in Österreich eine Ballung an Musikinteresse gibt, welches sich außerhalb des Landes, speziell außerhalb Europas sehr schnell verdünnt?

Ich kann sagen, dass ich in Österreich mittlerweile zu jenen Komponisten gehöre, die sehr gut wahrgenommen werden, aber außerhalb von Österreich so gut wie gar nicht. Ich habe während des Festivals Wien Modern mit einem Kölner Journalisten gesprochen, der mir sagte, dass die dortige Szene viel stärker auf Stockhausen und andere regionale Künstler konzentriert ist, als hier bei uns. Und dass eine breite Internationalität, wie sie heuer Wien Modern gezeigt hat, oder auch das Klangforum vertritt, dort gar nicht möglich sei.

Wenn man sich nun aber die Kunstlandschaft ansieht, so ist es doch speziell die Musik, die derart „national“ unter sich bleibt. „National“ nicht im Sinne von Gesinnung, sondern nur im Sinne von räumlichem Zusammenleben und Arbeiten in einer bestimmten Nation. Die bildende Kunst hingegen überspringt die Grenzen doch viel schneller.

Ich denke, das liegt daran, dass bildende Kunst immer auch einen Marktwert hat. Sie können heute das Bild eines aufstrebenden chinesischen Künstlers kaufen. Wenn Sie ein gutes Gespür haben, ist dieses Bild in 10 Jahren das 5-fache wert. Das ist bei Musik nicht der Fall. Das ist einerseits ein Dilemma. Andererseits ist es aber etwas unglaublich Poetisches zu sagen, dass Musik eigentlich ja nichts wert ist. Wenn Sie sich heute eine Partitur von mir kaufen ist die gar nichts wert, sie klingt ja nicht. Selbst in dem Augenblick, in dem sie klingt, ist sie noch immer nichts wert, weil sie ja einfach nur Luft ist, die sich bewegt und Ihr Ohr erreicht. Sie können sich das nicht an die Wand hängen oder sich damit schmücken, dass Sie reich sind, weil Sie meine Partitur besitzen. Sie sind es nicht.

Sie befinden sich damit ja komplett außerhalb des kapitalistischen Wertesystems.

So empfinde ich das tatsächlich.

Macht Ihnen das Freude oder tut Ihnen das leid?

Ich sehe es als einen legitimen, anderen Blick auf dieses Dilemma. Man jammert im Allgemeinen darüber, dass es für die zeitgenössische Musik so wenig Publikum gäbe, dass man sich in einer Nische befände. Man fragt sich nach der gesellschaftlichen Relevanz des eigenen kompositorischen Tuns. Ich denke aber, dass es auf der anderen Seite auch ein großer Freiraum ist zu sagen, dass es – gerade weil die zeitgenössische Musik außerhalb des kapitalistischen Wertesystems steht – ja doch ein Publikum gibt. Bei Oskart Serti waren an zwei Abenden jeweils 600 Leute, die als eine große Gemeinschaft inmitten „meiner“ Musiker teilweise mit geschlossenen Augen standen und dieses Stück intensiv erlebten. Das ist ja nicht Nichts!

Ist es nicht so, dass sich die Demokratie an ihren Minderheiten beweist? Und nur dann, wenn Minderheiten frei das ausleben können, was sie möchten, leben wir in einem freien demokratischen Land? Der andere Gesichtspunkt ist, dass sich eine Gesellschaft – egal ob Demokratie oder nicht – ja vor allem auch durch ihren Rand definiert. Wenn man nun das Zentrum als Ballung von Menschen sieht, dann hat man natürlich nach außen hin diese Ausdünnung zu den Minderheiten. Man fragt sich immer was bringt das, was kostet das, wer hat was davon, dieser viele Aufwand für die wenigen Leute! Aber es fragt sich eigentlich niemand: Was würden alle diese Menschen machen, denen das gefällt, die gerade dafür ein Auge, ein Ohr, ein Sensorium haben, wenn wir diese Projekte nicht am Leben erhalten würden.

Oder wollten wir in einer Gesellschaft leben, die so etwas nicht mehr ermöglicht? Ich würde mich unweigerlich fragen, ob Wien dann noch die Stadt wäre, in der ich gerne und freiwillig lebe. Ich bin auch davon überzeugt, dass der Umgang mit den Interessen von Minderheiten ein unmittelbarer Indikator für die Reife und die Toleranz einer Gesellschaft ist.

Minderheit bedeutet in Ihrem Fall ja auch Verteidigung der zeitgenössischen Kunstpositionen.

Ja, obwohl das jetzt doch ein bisschen zu kämpferisch klingt. Es gibt auch viel sichtbarere Minderheiten, zum Beispiel die Minderheit der Bettler. Wie geht eine Gesellschaft damit um, dass vor jedem Billa jemand steht, der eine Zeitung verkaufen möchte? Schafft es eine Gesellschaft zu akzeptieren, dass es diese Menschen auch gibt, oder dreht man sich empört weg und findet das unmöglich, weil es diese Menschen früher nicht so sichtbar gab? Das ist tatsächlich eine Frage von Reife. Ich erinnere an dieser Stelle nur daran, dass im Islam der Bettler eine Bereicherung für die Gesellschaft ist, weil er Ihren Mitgliedern die Möglichkeit gibt, Gutes zu tun.

Weil Sie es selbst angesprochen haben: Könnten Sie auch in einer anderen Stadt als Wien leben?

Ich kenne durch mein Studium natürlich einige europäische Städte, aber ich glaube, dass gerade für meinen eigenen musikalischen Ton Wien die richtige Stadt für mich ist. Ich habe gestern bei einem Konzert von Francis Burt und Friedrich Cerha eine ganz schöne Formulierung gefunden. Burt sprach in dem Programmheft von dem „latenten espressivo“ dass es in Wien gäbe, was ihn auch in den 50er Jahren dazu gebracht hätte, bewusst von London nach Wien zu ziehen. Diese Einschätzung teile ich. Dieses „latente espressivo“ als Hintergrundrauschen dieser Stadt ist etwas, womit ich gut kann.

Beziehen Sie sich damit auf die Gruppe jener Menschen, die Musik machen bzw. sich in diesem Umfeld bewegen?

Nicht unbedingt. Zweifelsohne ist die musikalische Infrastruktur in Wien eine hervorragende im Vergleich zu vielen anderen Städten dieser Größe. Aber ich mag vor allem auch die Art, in der in Wien im Alltag Dinge möglich sind. Es ist dem Straßenbahnfahrer streng untersagt, dass er Ihnen mit einem Kinderwagen in die Straßenbahn hilft und er tut es aber trotzdem. Es ist dieses slawische Temperament, das Wien so bereichert. Dieses „es geht doch irgendwie“. Ich bin ja auch ein Zugereister, nicht hier geboren, obwohl ich schon seit 20 Jahren in Wien lebe. Ich lebe sehr gerne in der Brigittenau. Schätze es immer, wenn ich über den Fluss, den Donaukanal muss. Ich mag das sehr, dass man da etwas hinter sich lässt, die Seite wechselt und wie auf einer kleinen Insel lebt.

Jede Stadt hat ja auch ihr eigenes Tempo. Schlägt sich das bei Ihnen auch beim Komponieren nieder?

Das Komponieren ist per se eine unfassbar langsame Tätigkeit. Um hier die Relationen deutlich zu machen: Um 15 Minuten Musik zu schreiben, brauche ich zumindest 400 Stunden. Das ist eine unglaublich luxuriöse Situation. Total unökonomisch. Aber Sie brauchen auch lang um im besten Fall etwas zu machen, was dann auch wirklich schön ist. Man hat auch nicht weniger lang an Heiligenstatuen geschnitzt oder an einem Wasserspeier, der vom Stephansdom herunter guckt. Das ist alles Überfluss an Zeit und Lebensenergie, die da hineingesteckt wurde. Für einen Menschen, der komponiert, dehnt sich die Zeit extrem. Die 15 Minuten Stückdauer werden gedehnt auf 400 Stunden Arbeit. Eine Stadt wie Wien, die sicherlich ein langsameres Tempo hat als z.B. London, wo ich in den letzten Jahren regelmäßig war, ist so einer langsamen Tätigkeit wie dem Komponieren möglicherweise tatsächlich förderlich. In Wien kann ich 4 Stunden am Vormittag sitzen und komponieren und habe das Gefühl, währenddessen nichts Wesentliches versäumt zu haben. Auf diese Weise kommt man kompositorisch gut voran.

Haben Sie mittelfristige Pläne?

Ich habe viele Pläne, aber ich warte auf Angebote. Ich hatte bei Wien Moderne schöne Aufführungen und durfte damit wunderbare Erfolge feiern, aber ich verfolge im Augenblick keinen größeren konkreten Auftrag.

Wenn man jetzt an Sie herankäme, hätten Sie dann Ideen oder würden Sie sich eher freuen, wie Sie eingangs sagten, Begrenzungen zu erfahren?

Ich denke, das würde ich dann in einem reziproken Diskurs sicher klären!

Michaela Preiner führte das Interview mit Gerald Resch im Café Vindobona am 7.11. 2011

Great Britain meets Austria

Great Britain meets Austria

Emiliy Howard (c) Mathew Seed

Emiliy Howard (c) Mathew Seed

Am Sonntag, dem 20.11., trafen im großen Saal des Konzerthauses britische und österreichische Kompositionen aufeinander. So standen den beiden Landesaltmeistern Harrison Birtwistle und Friedrich Cerha auch zwei junge Positionen gegenüber. Emily Howard und Gerald Resch waren ebenso mit Kompositionen vertreten, die das RSO unter James MacMillan zum Klingen brachte.

Erstaunlich war, wie beim Festival Wien Modern 2011 öfter schon festgestellt werden konnte, die Homogenität des gesamten Konzertes. Die Auswahl der Stücke, die zumindest in Teilen untereinander verwandt, oder zumindest befreundet schienen.

Spannend verlief der Abend deswegen, weil sich zeigte, dass Leises, Verhaltenes so atemberaubend wirken kann, sodass schon ein einziger Nieser aus dem Publikum an einer Stelle genügte, um diese konzentrierte Stimmung zumindest für einige Momente zu kippen.

Birtwistles „An imaginary landscape“, geschrieben für ein großes Blechbläseraufgebot, Kontrabässe und Percussion beeindruckte vor allem durch die Verhaltenheit in der Dynamik, die man bei dieser Besetzung überhaupt nicht erwartet hätte. Stück für Stück beschreibt der Komponist darin eine Landschaft, die sich verdichtet und wieder lockert. Man könnte die Komposition auch mit der Kartografierung einer weißen Landkarte vergleichen, in der Punkt für Punkt nacheinander eingezeichnet wird und so die Landschaft nach und nach zu einer Beschreibung gelangt. Die sphärische Auflösung am Schluss leitete wunderbar zu Emily Howards „Solar“ über. Eine Beschreibung unserer Sonne, die sie fast wie in einer Großaufnahme, in der man die Protuberanzen sehen kann, zeichnete. Einer farbigen Einleitung folgte der Aufbau einer großen Klangmasse, die sich schwer und fast träge weiterentwickelte, ohne jedoch je zu explodieren.

„Schlieren für Violine und Orchester“ von Gerald Resch, war das darauffolgende Stück betitelt, das nicht nur vom Publikum, sondern vor allem vom Solisten eine große Portion Aufmerksamkeit erforderte. Benjamin Schmid an der Violine zeigte mit unglaublicher Gelassenheit, dass man auch schwierige Passagen so spielen kann, als würden sie wie selbstverständlich über die Violinseiten wachsen. Wie symphonische Miniaturen hintereinander gereiht, setzt Resch diese wie auf eine Perlenschnur und übertitelt sie mit fließend, pochend und verspielt. Ganz wunderbar, wie er zu Beginn aus einem fast flirrenden Schwebezustand des gesamten Klangapparates die Geige sich langsam in den Vordergrund schieben lässt, bis sie solistisch stehen bleibt. Die verhaltene Spannung, die sich daraufhin bildete, ähnelte sehr jenem Zustand, mit dem zuvor Birtwistle schon beeindruckte – unter anderem jedoch mit dem Unterschied, dass Schmid mit einem Solo am Ende des 2. Satzes brillieren durfte, das zusätzlich durch Paukenschläge rhythmisiert worden war. Fast übergangslos ließ Resch die Musik in einen Tanzrhythmus gleiten, um schließlich eine kleine jazzige Geläufigkeitsübung im Soloinstrument anzuschließen. Bald schon stellte sich aber heraus, dass diese Sequenz nur die Aufwärmphase für die schwierige, abschließende Solopassage darstellte. Reschs Werk charakterisiert sich durch den Einsatz hoher musikalischer Intelligenz, die jedoch – wie bei ihm so oft – mit einer kompositorischen Augenzwinkerei versehen wird. Gerade diese Kombination macht die Arbeiten des jungen Komponisten so spannend, so sympathisch und herzerfrischend zugleich. Seine Musik ist eben nicht nur für den Kopf gemacht, aber weit davon entfernt, aus dem Bauch geboren worden zu sein.
Emily Howard, die an diesem Abend gleich mit zwei Arbeiten vertreten war, legte mit „Calculus oft he Nervous System“ ein Werk vor, in welchem sie sich von Ana Lovelace, der Tochter von Lord Byron, beeinflussen ließ, die als herausragende Mathematikerin galt. Auf eine überaus zarte Einführung – in der mehrere Generalpausen das Stück in die Schwebe erheben – kippt ihr Werk dramatisch, um kurz danach mit scharfen Einschnitten aufzuwarten. Diese für die Komposition so charakteristische duale Haltung endet nicht abrupt, wie man erwarten möchte, sondern in einer Art Endlosschleife von allerletzten Tönen und wiederum allerletzten Tönen und wiederum allerletzten Tönen… . Ein Werk, das man wegen seiner unglaublichen Einprägsamkeit beim zweiten Mal Hören sicher sofort wieder erkennen wird.

Der letzte Programmpunkt war Friedrich Cerhas „Wie eine Tragikomödie“ vorbehalten und wie immer bei seinen Kompositionen für großes Orchester, kommt das Publikum dabei klanglich voll auf seine Kosten. Durch dichte, hochdramatische Streicherklänge, die von Trommeln und Pauken unterstützt werden, schält sich eine aufsteigende Melodie heraus, die schließlich im Paukenwirbel kulminiert. Ihnen folgt die melodiöse Bratsche, die in Zwiesprache mit der gezupften Harfe tritt und alsbald von der Oboe abgelöst wird. Glockenschläge, wie von Ferne tauchen auf und begleiten das Stück, das sich schließlich in absteigenden Tonfolgen wieder in eine nervöse, dunkle Grundhaltung zurückmanövriert. Cerhas Kunst, ein Thema durch den gesamten Klangapparat laufen zu lassen, ohne dass auch nur einen Augenblick Langeweile aufkommt, ist aber noch von wesentlich stärkeren kompositorischen Elementen geprägt. So könnte man den Ablauf mit der Idee vergleichen, die Musik wie in eine große Reimform zu setzen. Was hier vielleicht abstrakt klingen mag, kann sinnlich – hörbar erfahren werden, wenngleich man für die tiefe Erkenntnis nicht ohne Partiturstudium auskommt.

Abschließend sei noch bemerkt, dass dieses Konzert, wie eingangs schon erwähnt, wie auch so manch andere während des Festivals Wien Modern, von einer ganz besonderen Sensibilität in der Zusammenstellung geprägt war. Diese kommt nur durch Kennerschaft der Werke zustande oder zumindest durch ein untrügliches Gefühl für Verwandtschaften und Gegensätze. Matthias Losek sei an dieser Stelle vor den Vorhang geholt!

Emiliy Howard (c) Mathew Seed

Emiliy Howard (c) Mathew Seed

Am Sonntag, dem 20.11., trafen im großen Saal des Konzerthauses britische und österreichische Kompositionen aufeinander. So standen den beiden Landesaltmeistern Harrison Birtwistle und Friedrich Cerha auch zwei junge Positionen gegenüber. Emily Howard und Gerald Resch waren ebenso mit Kompositionen vertreten, die das RSO unter James MacMillan zum Klingen brachte.

Erstaunlich war, wie beim Festival Wien Modern 2011 öfter schon festgestellt werden konnte, die Homogenität des gesamten Konzertes. Die Auswahl der Stücke, die zumindest in Teilen untereinander verwandt, oder zumindest befreundet schienen.

Spannend verlief der Abend deswegen, weil sich zeigte, dass Leises, Verhaltenes so atemberaubend wirken kann, sodass schon ein einziger Nieser aus dem Publikum an einer Stelle genügte, um diese konzentrierte Stimmung zumindest für einige Momente zu kippen.

Birtwistles „An imaginary landscape“, geschrieben für ein großes Blechbläseraufgebot, Kontrabässe und Percussion beeindruckte vor allem durch die Verhaltenheit in der Dynamik, die man bei dieser Besetzung überhaupt nicht erwartet hätte. Stück für Stück beschreibt der Komponist darin eine Landschaft, die sich verdichtet und wieder lockert. Man könnte die Komposition auch mit der Kartografierung einer weißen Landkarte vergleichen, in der Punkt für Punkt nacheinander eingezeichnet wird und so die Landschaft nach und nach zu einer Beschreibung gelangt. Die sphärische Auflösung am Schluss leitete wunderbar zu Emily Howards „Solar“ über. Eine Beschreibung unserer Sonne, die sie fast wie in einer Großaufnahme, in der man die Protuberanzen sehen kann, zeichnete. Einer farbigen Einleitung folgte der Aufbau einer großen Klangmasse, die sich schwer und fast träge weiterentwickelte, ohne jedoch je zu explodieren.

„Schlieren für Violine und Orchester“ von Gerald Resch, war das darauffolgende Stück betitelt, das nicht nur vom Publikum, sondern vor allem vom Solisten eine große Portion Aufmerksamkeit erforderte. Benjamin Schmid an der Violine zeigte mit unglaublicher Gelassenheit, dass man auch schwierige Passagen so spielen kann, als würden sie wie selbstverständlich über die Violinseiten wachsen. Wie symphonische Miniaturen hintereinander gereiht, setzt Resch diese wie auf eine Perlenschnur und übertitelt sie mit fließend, pochend und verspielt. Ganz wunderbar, wie er zu Beginn aus einem fast flirrenden Schwebezustand des gesamten Klangapparates die Geige sich langsam in den Vordergrund schieben lässt, bis sie solistisch stehen bleibt. Die verhaltene Spannung, die sich daraufhin bildete, ähnelte sehr jenem Zustand, mit dem zuvor Birtwistle schon beeindruckte – unter anderem jedoch mit dem Unterschied, dass Schmid mit einem Solo am Ende des 2. Satzes brillieren durfte, das zusätzlich durch Paukenschläge rhythmisiert worden war. Fast übergangslos ließ Resch die Musik in einen Tanzrhythmus gleiten, um schließlich eine kleine jazzige Geläufigkeitsübung im Soloinstrument anzuschließen. Bald schon stellte sich aber heraus, dass diese Sequenz nur die Aufwärmphase für die schwierige, abschließende Solopassage darstellte. Reschs Werk charakterisiert sich durch den Einsatz hoher musikalischer Intelligenz, die jedoch – wie bei ihm so oft – mit einer kompositorischen Augenzwinkerei versehen wird. Gerade diese Kombination macht die Arbeiten des jungen Komponisten so spannend, so sympathisch und herzerfrischend zugleich. Seine Musik ist eben nicht nur für den Kopf gemacht, aber weit davon entfernt, aus dem Bauch geboren worden zu sein.
Emily Howard, die an diesem Abend gleich mit zwei Arbeiten vertreten war, legte mit „Calculus oft he Nervous System“ ein Werk vor, in welchem sie sich von Ana Lovelace, der Tochter von Lord Byron, beeinflussen ließ, die als herausragende Mathematikerin galt. Auf eine überaus zarte Einführung – in der mehrere Generalpausen das Stück in die Schwebe erheben – kippt ihr Werk dramatisch, um kurz danach mit scharfen Einschnitten aufzuwarten. Diese für die Komposition so charakteristische duale Haltung endet nicht abrupt, wie man erwarten möchte, sondern in einer Art Endlosschleife von allerletzten Tönen und wiederum allerletzten Tönen und wiederum allerletzten Tönen… . Ein Werk, das man wegen seiner unglaublichen Einprägsamkeit beim zweiten Mal Hören sicher sofort wieder erkennen wird.

Der letzte Programmpunkt war Friedrich Cerhas „Wie eine Tragikomödie“ vorbehalten und wie immer bei seinen Kompositionen für großes Orchester, kommt das Publikum dabei klanglich voll auf seine Kosten. Durch dichte, hochdramatische Streicherklänge, die von Trommeln und Pauken unterstützt werden, schält sich eine aufsteigende Melodie heraus, die schließlich im Paukenwirbel kulminiert. Ihnen folgt die melodiöse Bratsche, die in Zwiesprache mit der gezupften Harfe tritt und alsbald von der Oboe abgelöst wird. Glockenschläge, wie von Ferne tauchen auf und begleiten das Stück, das sich schließlich in absteigenden Tonfolgen wieder in eine nervöse, dunkle Grundhaltung zurückmanövriert. Cerhas Kunst, ein Thema durch den gesamten Klangapparat laufen zu lassen, ohne dass auch nur einen Augenblick Langeweile aufkommt, ist aber noch von wesentlich stärkeren kompositorischen Elementen geprägt. So könnte man den Ablauf mit der Idee vergleichen, die Musik wie in eine große Reimform zu setzen. Was hier vielleicht abstrakt klingen mag, kann sinnlich – hörbar erfahren werden, wenngleich man für die tiefe Erkenntnis nicht ohne Partiturstudium auskommt.

Abschließend sei noch bemerkt, dass dieses Konzert, wie eingangs schon erwähnt, wie auch so manch andere während des Festivals Wien Modern, von einer ganz besonderen Sensibilität in der Zusammenstellung geprägt war. Diese kommt nur durch Kennerschaft der Werke zustande oder zumindest durch ein untrügliches Gefühl für Verwandtschaften und Gegensätze. Matthias Losek sei an dieser Stelle vor den Vorhang geholt!

Ein magischer Ort

Ein magischer Ort

Oskar Serti Wien Modern 2011 Wiener Konzerthaus  ©Nurith-Wagner-Strauss

Oskar Serti ©Nurith-Wagner-Strauss

In einer Großstadt gibt es Orte, die eine gewisse Magie ausstrahlen. Gebäude, die wegen ihrer ungewöhnlichen Architektur markant den Ort bestimmen. Plätze, die raumgreifend agieren und die Menschen anziehen, Straßen, die pulsieren, weil sie so viele Geschäfte beherbergen. Oder aber Orte, die deswegen ein eigenes Flair entwickeln, weil man in ihnen Dinge erleben kann, die außergewöhnlich sind. Opern- und Konzerthäuser gehören hier dazu. In Wien gibt es gleich mehrere davon, aber nur eines, von dem aus man im Winter auf den nebenliegenden Eislaufplatz blickt und in den Konzertpausen zusehen kann, wie sich die Menschen dort schlittschuhlaufend vergnügen – was alleine schon ein Vergnügen ist.

Die Rede ist vom Wiener Konzerthaus, das seit seinem Bestehen sowohl der musikalischen Tradition als auch der musikalischen Innovation verpflichtet ist. Tradiert wird, was eben schon Bestand hat. Dies ist im Übrigen auch die leichter zu erfüllende Aufgabe. Neues zu präsentieren ist schon alleine deswegen schwieriger, weil das Publikum dafür nicht so zahlreich gesät ist – die, die sich dafür aber interessieren, sind treue Dauergäste. Dann nämlich, wenn das Festival Wien Modern im Konzerthaus logiert und dieses – so geschehen am 5. und 6. November vom Keller bis zum Dach in Beschlag nimmt.

An diesen beiden Tagen präsentierte sich das Wiener Konzerthaus als ein Ort, der seinem Publikum vieles bot. Das Einzige, was es mitzubringen hatte, war Zeit – und auch ein wenig Neugier. Denn abgesehen von einem ganzen Reigen an Konzerten, die teilweise sogar parallel in zwei der Säle stattfanden, durfte man sich ganz nach Lust und Laune darin bewegen. Man versammelte sich im Foyer – wie üblich – aber nicht wie üblich stieß man dort schon auf Klänge. Geräusche eines einfahrenden Zuges waren zu vernehmen, das Foyer war urplötzlich kein Garderobenraum mehr, sondern eine Bahnhalle, in welcher man aus einem Lautsprecher eine Stimme vernahm, die erzählte, dass ein gewisser Oskar Serti in dieser imaginären Bahnhalle auf seine Angebetete wartete und schließlich enttäuscht und fluchtartig diese wieder verließ. Oskar Serti, laut einführender Erklärung einer der wichtigsten ungarischen Schriftsteller ist jedoch, sosehr man ihm an diesem Abend auch huldigte, nichts anderes als eine Kunstfigur. Erfunden von Patrick Corillon, der mit ihm quasi als Schattenmann nun schon seit einiger Zeit durch verschiedene Konzerthäuser dieser Welt tourt. Um doch immer wieder Neues hinzuzufügen, zu dieser imaginären Biografie, in der es von der Begegnung mit Bekannten aus der Musikgeschichte nur so wimmelt.

Die Hommage an Oskar Serti war an diesen Abenden eine allumfassende. In den Konzertpausen schlüpften die Musikerinnen und Musiker des Klangforum Wien in die Rolle von Erzählerinnen und Erzählern und erweckten so diese Kunstfigur zum Leben. An den unterschiedlichsten Plätzen des Hauses, wie den Buffets, den Gängen vor den Sälen oder auch in den Zwischengeschoßen der Treppen lauschte man seinen Erlebnissen. Ob man hörte, wie er sich über eine schlecht paraphierte Eintrittskarte ärgerte, wie er seiner Angebeteten ein Liebesgeständnis machen wollte und doch nichts anderes erreichte als eine Bartok-Büste ins Wanken zu bringen, oder ob man erfuhr, wie ihm eine Eintrittskarte aus der Brusttasche gerutscht war, die dann noch Schuld am fehlerhaften Spiel einer Pianistin war – immer schwankte das Erzählte zwischen Fiktion und Realität. Bis hin zu jener Ausstellung, die im großen Foyer die angebliche Instrumentensammlung des Schriftstellers zeigte. Stücke, die allesamt Geschichte in der Musik geschrieben hätten, wie z. B. eine Trompete, welche vom Trompeter während der Missfallensbekundungen anlässlich der Uraufführung des „Sacre de printemps“ aus Wut ins Publikum geschleudert wurde.

Und fast einschnitthaft schoben sich zwischen all diese literarischen Sensationen Konzerte. Längere und kürzere, bekannte und unbekannte. Ins Ohr schmeichelnde und solche, bei denen einige aus dem Publikum den Saal frühzeitig verließen. Sie alle hier zu benennen sprengt den Rahmen dieses Artikels. Eines jedoch soll besonders hervorgehoben werden.
Die „collection Serti“ oder „Erkundungen einer Musiksammlung“, wie die Komposition im Untertitel heißt, ist ein Auftragswerk der Erste-Bank, welches punktgenau für diese Veranstaltung von Gerald Resch komponiert worden war. Es bezog sich thematisch auf die in luftigen Vitrinen ausgestellten Instrumente und war für das Konzerthaus selbst eine ganz besondere Premiere. Denn Resch bezog sich mit diesem Werk auf das große Foyer, in dem es auch aufgeführt wurde. Er komponierte es für jenen Raum, der normalerweise als Durchgangsort wahrgenommen wird, an dem man nur kurz hält, um sich zu begrüßen und seine Garderobe dort abzugeben. Genau dort hatte man das Publikum versammelt, das stehend, dicht an dicht, dieser Uraufführung lauschte. Nacheinander stellte sich ein Instrument um das andere mit kleinen Sequenzen solistisch vor. Was bewirkte, dass man die wunderbaren Musikerinnen und Musiker des Klangforum Wien einmal aus der Nähe hören und sehen konnte, aber auch Gelegenheit bekam deren Können in dieser Vorstellungsphase ausgiebig zu bewundern. Bald wurden diese kurzen Sequenzen vom restlichen Ensemble aufgenommen und verdichtet, bis erneute eine Solostimme zu vernehmen war. Jedes Instrument kam dabei zu seinem – ich möchte sagen – „natürlichen“ Recht. Durfte sein ureigenes Klangspektrum voll zum Besten geben und dabei doch Neue klänge produzieren. Reschs Musik gestaltete sich, je länger man lauschte, harmonisch im Sinne von tatsächlich vertrauten Harmonien. Und genau diese Verschränkung zwischen Vertrautem und Neuem spiegelte den eingangs erwähnten Auftrag des Hauses auch sehr schön wieder. Resch erwies mit der Komposition dem Haus seine Reverenz und schrieb ihm örtlich neue Bedeutungen zu. Dass sich unter dem Publikum gleichberechtigt nun auch all jene befanden, die normalerweise außerhalb des Konzertsaales auf das Ende der Vorstellungen warten, also die Platzanweiser und die Damen und Herren bei den Garderoben, war fast äquivalent mit der Aufführungspraxis dieses Stückes zu sehen – das ohne Dirigat auskommt und in welchem sich die Musikerinnen und Musiker ganz auf sich selbst und die Gemeinschaft verlassen müssen bzw. dürfen. Ein Konzert, in dem sich die Unterschiede der Besucher und Dienstleister aufhoben und beide ein wenig in die Rolle der jeweils anderen schlüpfen konnten. Ein Stück, das Grenzen sprengte, ohne gewisse Grenzen jedoch nicht außer Acht zu lassen. Was noch zu sagen wäre: Gerald Resch wäre wohl nicht er selbst, hätte das Stück nicht auch noch mit einer großen Überraschung geendet. Oder haben Sie schon einmal eine Komposition gehört, an dessen Ende die Instrumente gestimmt werden?
Oskar Serti geht ins Konzert. Warum? – Diese „Nachdenklichkeit“ von Patrick Corillon brachte tatsächlich zum Nachdenken. Aber nicht warum Oskar Serti das vermeintlich so gerne tat, sondern vielmehr warum wir es tun. Experiment rundum gelungen!

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