Das Ich und das Du – wer ist wer?

Das Ich und das Du – wer ist wer?

Die Bühne ist noch ohne Licht, aber man vernimmt ein leises Geräusch. Irgendjemand wischt an irgendetwas und irgendjemand gibt ab und zu Klopfgeräusche von sich. „Alleyne Dance“, vor 5 Jahren von den Alleyne-Zwillingsschwestern in London gegründet, gastierte mit „A Night`s Game“ bei Impulstanz zwei Mal an einem Abend hintereinander im ausverkauften Odeon.

Der zu Beginn der Performance nur zart wahrgenommene Geräuschpegel wird nach und nach stärker. Nach einigen Momenten der Ungewissen, wird ein fahler Lichtkegel sichtbar, der auf eine der beiden Schwestern fällt. Die junge Frau sitzt auf einem Sessel und benutzt sich selbst als Percussion-Instrument. Dabei klopft sie auf ihren Oberkörper und ihre Arme, wischt über ihre Oberschenkel und stampft rhythmisch mit den nackten Füßen auf den Boden. Der zarte Anfang steigert sich rasch in eine furiose Darbietung, bei der man den Eindruck einer Frau erhält, die einer wilden Obsession erlegen ist. Ab und zu versucht sie, sich vom Sessel fortzubewegen – vergeblich, ihre Füße tragen sie nicht. Immer wieder rutscht sie auf den Boden, ohne Halt zu finden. Hin und wieder blickt sie ängstlich um sich, hin und wieder befreit sie sich von dieser sichtbaren Angst durch das Versinken in ihre körperlich fordernde, kraftraubende Beschäftigung. Sie gleicht einer Gefangenen, die mit der Beschäftigung mit sich selbst versucht, jene Zeit auszufüllen, die bleischwer auf ihr zu lasten scheint.

Diese dunkle, somnambule Illusion bleibt das ganze Stück über bestehen, auch als die zweite Performerin auf die Bühne kommt. Sie fängt bald schon jenen Stuhl auf, den ihr ihre Schwester quer über die Bühne zuwirft und beginnt mit einer sehr ähnlichen, streckenweise sogar gleichen Choreografie. Auch sie hat zuweilen Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten, versucht aber immer wieder mit ihrem Gegenpart Kontakt aufzunehmen.

Was sich genau in diesem dunklen Raum zwischen den beiden Frauen in der einstündigen Performance abspielt, darf sich das Publikum auf weite Strecken selbst überlegen. Dennoch pendelt das Geschehen immer zwischen den möglichen Interpretationen eines Alter-Egos und dem tatsächlichen Spiel, dem tatsächlichen Kampf mit und gegen eine zweite Frau. Dabei nutzen die beiden aus London stammenden Tänzerinnen, die während ihrer Schulzeit Kurzstreckenläuferinnen werden wollten, die gesamte Bühne. Sie laufen in der Diagonale den Raum aus und beweisen mit jeder Menge Bodenkontakt, sowie raschen Dreh- und Hebebewegungen, wie viel Kraft in ihnen steckt. Ein fein abgestimmter Sound trägt wesentlich zur Emotionalisierung des Geschehens bei. Dass dies den beiden gelingt, ist ein wahres Kunststück. Gerade Arbeiten, die keine leicht fassliche Story erzählen, neigen dazu, beim Publikum wenig Emotionen auszulösen.

„A Night`s Game“ funktioniert jedoch anders. Es sind viele Momente, die gezeigt werden, in welchen man sich wiederfinden kann. Einsamkeit, Angst, Wut, Rivalität, aber auch Zusammenhalt und Helfenwollen – all das wird fühlbar und geht unter die Haut. Abgesehen von den vielen synchron getanzten Szenen sind es einzelne, wie jene, die eingangs beschrieben wurde, aber auch eine andere, bei der man den Eindruck erhält, dass sich in der Bühnenmitte eine Eiskunstläuferin um ihre eigene Achse dreht und eine Pirouette nach der anderen absolviert, die stark im Gedächtnis hängen bleiben.

Ist es ein Traum, ist es eine real erlebte Bedrohung, ist es der Kampf gegen das eigene Ich oder gegen eine Rivalin, mit der dann doch höchst lustvoll und lachend im Gleichschritt getanzt wird, was hier gezeigt wird? Auch, oder vielleicht gerade weil sich diese Fragen nicht endgültig beantworten lassen, stellt diese Arbeit von „Alleyne Dance“ einen großen Wurf dar, der vom Publikum zu Recht mit Standing Ovations bedacht wurde. Wie gut, dass den beiden Frauen der Shiftwechsel vom Hochleistungssport hin zur Kunst gelungen ist. Das, was sie hier vermitteln können, ist wesentlich mehr als persönliche Höchstleistungen im Kampf gegen sich und andere zu bringen. Interessant, dass sich letztlich jedoch gerade um diese Thematik herum das dramaturgische Geschehen aufbaute.

Der steinige Weg der Erkenntnis

Der steinige Weg der Erkenntnis

Es ist wie es war und doch ein wenig anders. Das Serapionsensemble, bekannt für seine Inszenierungen, die sich den allgemeinen Fragen des Menschseins widmen, erlebt gerade eine kleine Kurskorrektur. Schon in der Produktion „…am Abend der Avantgarde“ kam neben dem charakteristischen Tanzstil, für den das Ensemble berühmt ist, auch die Sprache ein wenig zum Einsatz. Im „Rauschen der Flügel“ erlebt sie nun jedoch einen noch höheren Stellenwert. Dabei sorgt eine vielfältige Textkomposition – angefangen von griechischen Philosophen über arabische Erzähler, dem Gilgamesch-Epos, Johann W. von Goethe bis hin zu Karl Valentin – für jede Menge Weisheit aber auch Humor. Verantwortlich dafür ist neben Erwin Piplits nun auch Mario Mattiazzo und Ivana Rauchmann.

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Serapions-Ensemble im Odeon, „Rauschen der Flügel“ (c) Harald Jahn

Bunt und abwechslungsreich ist die Musik

Wie immer ist die Musik (Hans Wagner, Julio Cesar Manfugas Foster, Angelika Haas u.a.) eine wichtige Erfolgssäule der Inszenierung. Und was es da zu hören gibt, ist äußerst gelungen. Es gibt einige Songs, die Musical-Charakter aufweisen und live mit Mikrofon-Verstärkung gesungen werden und viele verschiedene Instrumentalnummern. Von arabischen Klängen hin zu einem jüdischen Reihentanz bis zu einer Akkordeonnummer, die sich als wahrer Ohrwurm herausstellt, ist dabei eine große Bandbreite vertreten.

Ein weiter Weg ins eigene Selbst

Die Geschichte, die erzählt wird, ist die Adaption einer Erzählung von Suhrawardi, einem persischen Sufi-Gelehrten aus dem 12. Jahrhundert. In der Serapions-Fassung macht sich ein junger Mann auf den Weg, zu erforschen, was die Welt bewegt. Dabei lässt er seine Geliebte zurück, denn schließlich fühlt er sich zu Höherem berufen.

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Serapions-Ensemble im Odeon, „Rauschen der Flügel“ (c) Harald Jahn

Begleitet wird er von einem Führer, der ihm auf seinem Weg hilfreich zur Seite steht, ihn aber auch in die dunkelsten Abgründe seiner Seele blicken lässt. Ein abwechslungsreiches Bühnenbild und Figuren, die mit prallem Leben erfüllt sind, hauchen dem Stück eine unglaubliche Virilität ein. Egal ob dies Gerwich Rozmyslowski und Erwin Piplits als originelles Wiener Bühnenarbeiter-Duo mit einem wunderbar adaptierten Valentin-Text sind, oder die tanzenden Vargas Iríbar-Zwillinge, die einen außerordentlich sympathischen Draht zum Publikum spinnen – um nur exemplarisch vier Ensemblemitglieder zu nennen.

Zugleich macht es auch unglaublich Spaß, die einzelnen Tänzerinnen und Tänzer in ihren vielen, verschiedenen Charakteren, die sie darstellen, immer wieder neu zu entdecken und ihnen auf ihren verschlungenen, abenteuerlichen Wegen zu folgen.

Die Herzensbildung, um die es letztlich in dieser Inszenierung geht, ist auch als Überbau einer Trilogie zu sehen, die das Serapions-Ensemble gerade erarbeitet. „Das Rauschen der Flügel“ ist der erste Teil und führt ganz bewusst den westlichen und arabischen Lebensstil zusammen, um einer ansteigenden Islamophobie etwas Kreatives entgegenzusetzen. So zumindest die Intention des primus inter pares Erwin Piplits.

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Das Rauschen der Flügel im Odeon (c) Stefan Smidt

Viel Herz, viel Schmerz, aber auch jede Menge Humor unterhalten dabei das Publikum. Wenn es aufmerksam ist, weiß es nach Ende der Vorstellung auch, dass der junge Mann seine lange und gefährliche Reise eigentlich nicht antreten hätte müssen. Denn das, was die Welt im Inneren zusammenhält – zumindest auf naturwissenschaftlich-philosophischer Ebene, bekommt er ganz zum Schluss von einem leicht angeheiterten Gast im Caféhaus erklärt. Dass das Liebespaar nicht zusammenfindet, zumindest nicht an diesem Abend, hinterlässt keinen bitteren Beigeschmack, höchstens die Möglichkeit, sich selbst ein Happy-Ende zu imaginieren und über die wahren Werte von Beziehungen im eigenen Leben vielleicht ein wenig nachzudenken.

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Das Rauschen der Flügel im Odeon (c) Max Kaufmann

Die unverkennbare Serapions-Handschrift

Die Kostüme aus dem Fundus von Ulrike Kaufmann, die Bühne (Erwin Piplits, Max Kaufmann, Mirjam Salzer, Julius Lankes) und die Choreografie hinterlassen den Eindruck, als hätte man einer höchst lebendigen Erzählung aus einem Märchenbuch, gewürzt mit einer großen Prise Musik, beigewohnt. Was auf einem großen, arabischen Teppich beginnt, endet in einem Café, das in Wien sein könnte. Egal jedoch ob Orient oder Okzident, alles zusammen trägt die unverwechselbare Handschrift des Serapions-Ensembles, das sich mit seinen Inszenierungen schon seit über 40 Jahren immer wieder neu erfindet.

Weitere Termine auf der Webseite des Serapions-Ensemble.

Fluch und Segen zugleich

Fluch und Segen zugleich

Wer kennt Anna Achmatowa? Jene russische Schriftstellerin, die unter der Stalinära Berufsverbot hatte, aber dennoch in ihrem Land nie vergessen wurde? Jene Frau, die Modigliani in wunderbaren Zeichnungen, die weltberühmt wurden, festhielt? Im Alter durfte sie ihre Rehabilitation erleben und gilt heute als eine der wichtigsten Autorinnen der russischen Avantgarde. Dem Team um Erwin Piplits ist es zu verdanken, dass die Bekanntheit von Achmatowa nun auch in Wien steigt.

Die neue Produktion des Serapions Ensembles mit dem Titel „…am Abend der Avantgarde“ taucht tief in die Gedankenwelt von Achmatowa ein. Diese wird gleich von zwei Schauspielerinnen dargestellt: Ivana Rauchmann überzeugt als hübsche, sympathische, junge Frau, die versucht, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden, ohne ihre Inspiration verraten zu müssen. Zuletzt trat sie in Wien mit einigen eigenen Regiearbeiten auf. Sandra Rato da Trindade gibt ihr Alter Ego, ihre innere Stimme, die mit Kraft und Vehemenz die Notwendigkeit der eigenen Kreativität verteidigt.

Das Bühnenbild, das Mirjam Salzer gemeinsam mit Piplits gestaltete, lebt von überraschenden und abwechslungsreichen Einfällen. Da wird eine durchsichtige Plastikhaut zu einer Überlebensblase, ein weißes Metallbett zu einem Traumvehikel. Rauchmann erscheint in einer Szene über allen auf einer hoch aufgerichteten, metallenen Treppe und darf mit lyrischem Ausdruck ein ganz zartes Lied anstimmen, dessen Zauber man sich nicht entziehen kann. An einer anderen Stelle wird ein überdimensionales Papierblatt mit Brandflecken plötzlich zu einem Flugobjekt. Und wieder ein anderes Mal erscheint das Ensemble beeindruckend als „usbekische Raben“, die gurrend und hüpfend die Bühne bevölkern.

Ganz zu Beginn der über zweistündigen Aufführung wird durch ein Sturmbrausen eine Szene in einem Ballsaal eröffnet. An deren Ende erschießt sich coram publico ein Mann. Der raue Wind, der schon wenige Jahre nach der Oktoberrevolution für die Intellektuellen und Kunstschaffenden in Russland zu wehen begann, war ein existenzbedrohender. Das wird in der Produktion von Beginn an vermittelt. Das Tribunal, dem Achmatowa bald vorgestellt wird, besteht in der Inszenierung aus einer Horde überzeichneter männlicher und weiblicher Apparatschiks, denen die junge Frau hilflos ausgeliefert ist. Ihrer Inspiration verdankt sie schließlich ihr Überleben. Das Schwanken, die eigene Kreativität als Lebenselixier anzuerkennen, zugleich aber auch als jenes Element erkennen zu müssen, das der gleich geschalteten Gesellschaft im stalinistischen Russland immer wieder bedrohlich entgegentritt, bestimmt den Abend durchgehend.

Es sind die inneren Konflikte, denen Piplits auf ganz spezielle, beinahe traumwandlerische Art und Weise nachspürt. Rauchmann spricht immer wieder den selben Satz: „Du wirst das sein, wovor ich immer Angst hatte, aber ohne dich kann ich nicht sein“ und lässt dabei in einer Doppeldeutigkeit offen, ob es sich dabei um die Liebe zu einem Menschen, oder zu ihrer schriftstellerischen Eingebung handelt. Ihre Begabung bedeutet für sie in diesem gnadenlosen, politischen System Fluch und Segen zugleich.

Die Texte, die zu hören sind, sind Gedichte von Achmatowa und kreisen um Liebe, Angst, Widerstand, Hoffnung und Trauer. Als Rauchmann an einem Seil befestigt zuerst durch die Lüfte schweben darf, schlussendlich aber in sich zusammengesackt zu Boden gelegt wird, wähnt man sich am Ende der Vorstellung, wird aber durch eine sehr launige Überleitung, die zwei „Wiener Bühnenarbeiter“ übernehmen, in die letzte Szene geleitet. In dieser macht sich das Ensemble mit Achmatowa in einem Zugabteil auf eine Reise ins Ungewisse. Die Landschaft, die via Projektion an dem Zugfenster vorbeizieht, zeigt, dass es eine weite Reise ist. Die Menschen, die mit der Schriftstellerin Platz genommen haben, beginnen zu streiten, zu singen, ein Fest zu feiern. Nur Achmatowa nimmt an alledem nicht teil. Apathisch liegt sie auf einer Bank, ohne dem bunten und lauten Treiben zu folgen. Ausgelassensein können die anderen, ihr Lebensweg ist ein einsamer, wenngleich auch selbstbestimmter.

Eine Lichtregie, die mehr mit dem Dunkel als mit Licht selbst spielt und eine weibliche Gestalt, die klagend russische Litaneien vorträgt (Ana Grigalashvili), verstärken die düstere Grundstimmung, die das Leben der Schriftstellerin bestimmten. Ihren Ehemann verlor sie in der Gefangenschaft und musste über 15 Jahre um ihren Sohn bangen, der zum Tode verurteilt, in einem Lager eingesperrt war.

Warum sich die Zug-Szene wie ein Epilog an das Geschehen anschließt, ist nicht wirklich klar zu deuten. Die Dramaturgie hätte hier ein wenig nachschärfen können. Der Abend selbst ist, bis auf eine Länge, dennoch sehenswert und animiert, sich mit Ana Achmatowa intensiver auseinanderzusetzen.

Termine auf der Website des Odeon Theaters.

Gestern, heute und alles dazwischen

Gestern, heute und alles dazwischen

Simon Mayer hat Kultstatus erreicht. Seinen beiden Vorstellungen „SunBeng Sitting“ im Rahmen der 8:tension des ImpulsTanz Festival wurde noch ein Zusatztermin im Odeon hinzugefügt. Obwohl diese Produktion in Wien schon öfter zu sehen war.

Es sind gleich mehrere Faktoren, welche „SunBeng Sitting“ so spannend machen. Zum einen ist es das tänzerische Können, das Mayer hier offeriert. Zum anderen der große, intelligente Spannungsbogen seiner Erzählung über ein Thema, das den Tanz selbst zum Inhalt hat. Nicht zuletzt ist es seine große Kreativität, die Mayer hier auf unterschiedlichen Gebieten einbringt. Tanzen, singen, Violine-spielen, ein eigenes Rhythmus-Orchester loopen, choreografieren, was kann dieser Mann nicht?

Sein Mantra-artiges „Im-Kreis-Drehen“, mit seitlich gestreckten Armen, oder solchen, die er an seinem Körper herabhängen lässt, nur auf einem Bein oder in kunstvollen Sprüngen auf beiden, all das bietet er in einer derart großen Variabilität an, dass es eine reine Lust ist, zuzusehen. Ganz abgesehen davon, dass man ihn währenddessen ob seiner Kondition grenzenlos bewundert. An späterer Stelle ist es seine Schuhplattel-Choreografie, die es in sich hat. Langsam kommt er damit in Schwung, schlägt sich auf seine nackten Oberschenkel und steigert sich schließlich so ins Tempo, dass seine Haut bald rote Flecken vom ständigen Malträtieren aufweist. In einem abstrahierten Bandltanz, bei dem er ein von der Decke herabgelassenes Mikrofon als Band einsetzt, entstehen in den Köpfen des Publikums rasch Assoziationen zu alpenländischem Volkstanz. An späterer Stelle wird das Multitalent zeigen, dass er selbst ganz eigene Vorstellungen zu diesem Thema entwickelt hat. Denn er kombiniert Elemente aus unterschiedlichen Volkstänzen mit solchen des Balletts und des zeitgenössischen Tanzes. Entfesselt lustvoll, ohne Rücksicht auf irgendwelche Normen.

All das bringt Mayer in einer reflektorisch richtigen Abfolge, denn er beginnt mit einem unglaublich poetischen Auftritt im dunklen Saal. Vögel zwitschern, Grillen zirpen, ein Jodler kommt zart von unterschiedlichen Positionen des Raumes. Das Kopfkino darf sich eine herrliche Berglandschaft dazu denken mit grünen Wiesen, Wäldern und kleinen Almhütten. Fast unmerklich mischt sich ein elektronischer Sound dazu und schwillt dermaßen an, dass er schließlich nichts mehr von dieser Idylle übrig lässt. Wie ein Felssturz oder eine unhaltbare Naturgewalt endet er in einem Höllengetöse und lässt dabei offenbar keinen Stein auf dem anderen. Bis das Licht angeht und sich auf den nackten Tänzer fokussiert. Mayer beginnt spannungsgeladen eine lange Gasselschnalzerpeitsche zu schwingen und mit seinem ersten lauten Schnalzer, verstummt die bedrohliche, auditive Szenerie.

Der weitere Verlauf ist bestimmt von sich nahtlos ablösenden Szenen in welchen Mayer all das verpackt, was den Volkstanz seines Heimatlandes in den letzten hundert Jahren beeinflusste. Oder besser gesagt, was der Körper eines Tänzers wie Simon Mayer, der seinen Wurzeln in Österreich auf der Spur ist, an Informationen darüber gespeichert hat. Mayer wurde ursprünglich am Ballett der Wiener Staatsoper ausgebildet und ging danach nach Brüssel. Zusammenarbeiten mit Anne Teresa de Keersmaeker, Wim Vandekeybus und Zita Swoon schärften seinen Blick auch auf seine eigene Herkunft und ermöglichten ihm erst einen anderen Zugang zu seiner heimatlichen Tanztradition. Der Tänzer erwähnte in einem Interview, dass der Volkstanz so viel Schönes bereithielte, aber nicht nur ideologisch missbraucht wurde, sondern heute auch in verkrusteten Traditionen feststecke.

Davon erzählen seine Schuhplattler und Bandltänze auch auf der Bühne. Seine zackigen Bewegungen, seine stereotypen Schritte, die er wie im Drill eines Kasernenhofes wiedergibt, legen Assoziationen nicht nur zur Nazizeit, sondern auch zu all jenen Veranstaltungen, in welchen heute Brauchstumstänze vor einer Jury möglichst minutiös getanzt werden müssen, um einen Preis zu erhalten. „Ich möchte diese Tänze von all dem Belastenden reinigen“, so Mayer bei einem Gespräch, und tatsächlich zeigt er auch, wie das vonstattengehen kann. In einem hoch poetischen Moment nimmt das Mikrofon die Stelle einer verletzten Idee ein. Einer kreativen, musikalisch-tänzerischen, die sich jeglicher Ideologie entziehen möchte. Als er es fangen möchte, verschwindet es folgerichtig in die Luft.

In SunBeng Sitting jedoch ist es nicht nur die belastende Vergangenheit, gegen die der Tänzer auftritt. Er präsentiert schonungslos eine Gegenwart, die versucht, alles zu kappen, was auch nur irgendwie mit Tradition zu tun hat. Und doch kann der Mensch, kann die Kultur nicht ohne das Wissen um ihre Vergangenheit existieren. In einer eindrucksvollen Persiflage auf einen Popsong, der in kunstvollen Loops Schicht für Schicht selbst zusammengestellt wird und sich aus einem Jodler entwickelt, wird schließlich eine unverständliche Textmischung, die sich musikalisch an zeitgeistige Chart-Sieger anlehnt. Wie auf einem kleinen, geheiligten Plätzchen legt der Kreative Säge, Axt und andere manuell zu bedienende Werkzeuge ab, um sich danach mit einer Motorsäge an einem Baumstamm ans Werk zu machen.

Am Ende dieser Aktion steht eine klobige Bank, die mit einer kleinen Grünpflanze, Sägespänen und einer kitschigen Spieluhr so etwas wie rurale Nostalgie verbreiten soll. In der letzten Szene taucht Mayer mit einem Jodler über einen abgestürzten Edelweiß-Pflücker in seine kindlich erlernte Liedwelt ein. Nicht ohne die vorangestellte, wunderbare, englische Übersetzung, in der erst der Wahnsinn und das Grauen der Geschichte richtig sichtbar wird, die in eine so wunderbar harmlose Musik verpackt wurde.

„SunBeng Sitting“ hat alles, was ein gutes, zeitgenössisches Tanzstück braucht. Eine intelligente Idee, einen Tänzer, der sich in allem, was er auf der Bühne tut, dem vollen Risiko aussetzt. Es offeriert eine Musik, die bezaubert und beeindruckt und durch ein perfektes Sounddesign (Pascal Holper) unterstützt wird. Der Abend hält zugleich aber auch jede Menge gedanklichen Zündstoff bereit. Diskussionsmaterial, das dazu beiträgt, die Geschichte des österreichischen Brauchtums gründlich zu hinterfragen. Dass Mayer es nicht dabei belässt, sondern Mittel und Wege sucht, sich dabei aktiv als Ideenlieferant einzubringen, gibt der Arbeit einen zusätzlichen Bonuspunkt.

Das leichte Vogelgezwitscher im Abspann kann über die Tatsächlichkeiten des Zustandes unserer Welt nicht mehr hinwegtäuschen. Nicht enden wollender Applaus – zu Recht.

Das Leben geht uns alle an

Das Leben geht uns alle an

Das Leben, so meinen viele, würde ihnen so manches vorenthalten. Spaß am Beruf, die richtige und wahre Liebe, Geld. Das Leben, so spüren nur wenige, ist ein Lottosechser, wenn man gesund auf die Welt gekommen ist. Ein Lottosechser, den man allerdings erst selbst einlösen muss. Das Leben kann aber auch für einige von Anbeginn an einen ganz anderen Weg vorzeichnen, als dies für die meisten Menschen der Fall ist. Wer behindert ist, kämpft mit Herausforderungen, die man sich oft überhaupt nicht vorstellen kann. Wie gut, dass es hier Initiativen gibt, die helfend wirken, deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihre Arme weit aufmachen und jene willkommen heißen, die sich dort ihren ganz eigenen Lebensraum suchen.

„Ich bin O.K.“ – ein Verein, der vorzeigt, wie es geht

„Ich bin O.K.“ dieser Verein hat es sich seit nunmehr schon 35 Jahren zum Ziel gesetzt, Menschen mit und ohne Behinderung in Wien zusammenzuführen und ihnen allen zu helfen, ein sinnerfülltes Dasein zu leben. Mit Freude und Inklusion anstatt Trauer und Weggeschobenwerden.
Seit 2010 betreiben Hana Zanin und ihr Mann Attila im Rahmen dieses Vereines auch eine eigene Dance-Company mit dem Namen „Ich bin O.K.“. Alle zwei Jahre wird dafür ein neues Stück für die Bühne erarbeitet. Darin arbeiten Tänzerinnen und Tänzer mit und ohne Behinderung zusammen. „Was wir nicht wollen ist Mitleid“, erklärt die Choreografin Zanin die Grundstimmung der Truppe. „Oder gar so etwas wie einen Zirkus-Vorführeffekt“. Tatsächlich sind sie mit dem, was sie machen, meilenweit davon entfernt. „Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben so gut wie alle einen Beruf, den sie vormittags ausüben. Nachmittags kommen sie dann zur Probe – manche von ihnen sogar fünfmal in der Woche. Für einige von ihnen ist das Tanzen in der Company so etwas wie ein Angekommensein im Leben.“

Das neue Stück „Getrennt – Vereint“

Der neue Coup der Company trägt den Titel „Getrennt – Vereint“ und wurde im November im Odeon erstmals in Wien aufgeführt. Das Stück hält keine durchgehende Handlung parat, sondern setzt sich vielmehr aus einzelnen Puzzlesteinchen zusammen, die am Ende aber doch wieder ein Ganzes ergeben. Genauso, wie auch jeder von uns das Leben erfährt, passieren darin Dinge, die manches Mal Bezüge zueinander haben, dann aber auch wieder ganz solitär dastehen. Dabei treten die Tänzerin Irene Bauer und der Tänzer Martin Dvořák als Liebes- und späteres Elternpaar elegant in Erscheinung. Es beginnt mit den ersten, zarten Berührungen, die sogleich verzaubern. Schon bald darauf kommt es zu einer gelungenen „Geburtsszene“, bei der ihr Kind einfach unter Irene Bauer hervor krabbelt. Die Bilder, die sich daran anschließen, gehören zu den Einprägsamsten, die dieser Abend bereithält. Die gemeinsame Obsorge, die ersten Schritte bis hin zum Erwachsenwerden, alles läuft in Minutenschnelle ab. Aber wie alle Eltern müssen sie letztlich die Erfahrung machen, dass ihr Kind – einmal flügge geworden – eigene Wege geht. Dass diese nicht die ihren sind, wird rasch klar. Eingebettet in Bewegungsmuster des zeitgenössischen Tanzes und in solche, die aus dem Hip-Hop entnommen sind, stehen sich schon bald zwei gänzlich unterschiedliche Welten auf der Bühne gegenüber. Es sind unterschiedliche Lebensentwürfe, die hier präsentiert werden und die sich am Ende doch wieder verschränkend begegnen können.

Bis es aber so weit ist, gibt es viele längere und kürzere Einzelszenen, an welchen alle Tänzerinnen und Tänzer mitgearbeitet und ihre Ideen eingebracht haben. Vieles, was hier zu sehen ist, kommt direkt aus der Erfahrungswelt der Beteiligten. Wie jenes Bild, in welchem Clara Horvath ein schwieriges Pas de deux mit ihrem „Traummann“ tanzt, der aus ihrer Fantasie plötzlich Realität zu werden scheint. Dabei ertappt man sich, dass man sich über die Komplexität der Choreografie Gedanken macht und sich wundert. Was ja bedeutet, dass das Vertrauen in diese Menschen, die hier professionellst vor zahlreichem Publikum auf einer großen Bühne tanzen, nicht wirklich ausgeprägt ist. Viele von ihnen haben das Down-Syndrom, was noch lange nicht heißt, dass sie sowohl in ihren Berufen als auch bei ihrem Hobby – dem Tanz – keine bemerkenswerten Leistungen erbringen könnten. Den schon genannten Profis im zeitgenössischen Tanz, die auch eine klassische Tanzausbildung genossen haben, stehen Jasmin Lang und Kirin España als Hip-Hop-Tänzer gegenüber. Und ihnen angeschlossen eine große Zahl junger Menschen, denen man die Freude an dieser speziellen Bewegungsart ansieht. Irgendwann im Laufe des Abends erkennt man dann, dass es nicht darum geht, bewundernd und staunend die Tanzenden auf der Bühne zu betrachten. Vielmehr beginnt man zu verstehen, dass man hier ganz einfach einen Tanzabend genießen kann. So, wie man es auch tut, wenn keiner der Beteiligten eine Behinderung aufweist. Es geht darum, das Stück auf sich wirken zu lassen, mitzufühlen, mitzulachen und zu klatschen, wo man Anerkennung ausdrücken möchte. Das, was hier gezeigt wird, ist nichts, was einer bestimmten Gruppe von Menschen zugeordnet werden kann. Vielmehr sind es Situationen, die wir alle schon erlebt haben. Eine Einladung bei Freunden, die feuchtfröhlich endet – herrlich wie die beiden Tänzer dabei so ihr Gleichgewicht verlieren, bis sie im Rausch schließlich am Boden zu liegen kommen. Ein Gespräch unter Frauen, bei dem das Wichtigste die Empathie miteinander ist, das „Sich-in-die-Arme-Nehmen“ und Zuhören.

Ein bewusstes Puzzlestück

Die Choreografie von Hana und Attila Zanin erlaubt bei diesem Stück viele Einzelauftritte und auch viele Umbauten. „Wir werden nach der Premiere bis zu dreißigmal gebucht. Bei einem durchgehenden Handlungsstrang müssen viele Auftritte stark verkürzt werden. Bei manchen Einladungen haben wir überhaupt nur eine Viertelstunde Zeit.“ So ist es ganz logisch, sich einmal ein Programm auszudenken, aus dem man komplette Choreografien einzeln herausnehmen und zeigen kann. Die junge Choreografin weiß, wie das Optimum aus der Arbeit herauszuholen ist und wie die Botschaft am besten beim Publikum ankommt.

Mike Brozek, Simon Couvreur, Claire Hecher, Clara Horvath, Raphael Kadrnoska, Niklas Kern, Michaela Kortus, Severin Neira, Johanna Ortmayr, Felix Röper, Markus Samek, Alex Stuchlik und Sophie Waldstein, sie alle zeigen eine Präsenz auf der Bühne, die jener der Profis um nichts nachsteht. Die wohl schönste Erfahrung erlebten sie bei der Schulvorstellung im Odeon, bei der es vielfachen Zwischenapplaus, Zwischenrufe und ein begeistertes, junges Publikum gab. Inklusion at it´s best!

Links

„Ich bin O.K.“

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