Eine erzwungene Emanzipation

Eine erzwungene Emanzipation

1914 im Fokus des Theaters

Im Gedenkjahr an den Ausbruch des Ersten Weltkrieges wird rund um den Globus, vor allem im künstlerischen Bereich, ein Augenmerk auf die Zeit um 1914 gelegt. Die österreichische Kulturszene nimmt sich des Datums verständlicherweise besonders an. Jede größere Bühne mit guter dramaturgischer Betreuung bringt zumindest eine Produktion, die das Thema beleuchtet. Die Salzburger Festspiele – jene Institution, welche neben dem Burgtheater mit der wohl größten Außenwirkung aufwartet – hat in diesem Jahr ebenfalls diesen Schwerpunkt im Schauspielerischen gewählt. In Wien wurde schon zu Beginn des Jahres in einer fünfteiligen Serie im Schauspielhaus das Thema 1914 und seine Folgen intensiv beleuchtet. Das Volkstheater fokussierte auf „Die letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus und im Theater Spielraum in der Kaiserstraße läuft derzeit ein ganz besonderes Projekt: „Welten von Gestern“ mit dem Untertitel „Menschenbilder aus dem Großen Krieg“ von Stefan Zweig. Das Drama wurde von Nicole Metzger aus unterschiedlichen literarischen Versatzstücken Zweigs für die Bühne adaptiert. Dabei griff sie auf seinen Romantorso „Clarissa“ zurück, in welchem er die Zeit zwischen 1902 und den 30er Jahren aus der Sicht einer Frau beleuchten wollte. Zur Ausführung gelangte jedoch hauptsächlich die Zeit um den Ersten Weltkrieg. Metzger ergänzte geschickt dieses, erst posthum veröffentlichte Werk, mit Auszügen aus den Erzählungen „Der Zwang“ und „Episode am Genfer See“ und ließ auch den Autor selbst mit Zitaten aus seiner Biografie „Die Welt von Gestern“ zu Wort kommen. Daraus ergab sich der intelligent gewählte Titel „Welten von Gestern“, der nur von Kennern der Zweig-Biografie auf Anhieb dechiffriert werden kann.
[vc_row][vc_column width=“1/3″][vc_single_image image=“8835″ alignment=“center“ border_color=“grey“ img_link_large=“yes“ img_link_target=“_blank“ img_size=“180″][/vc_column][vc_column width=“1/3″][vc_single_image image=“8836″ alignment=“center“ border_color=“grey“ img_link_large=“yes“ img_link_target=“_blank“ img_size=“180″][/vc_column][vc_column width=“1/3″][vc_single_image image=“8838″ alignment=“center“ border_color=“grey“ img_link_large=“yes“ img_link_target=“_blank“ img_size=“180″][/vc_column][vc_column_text]“Welten von Gestern“ ist im Moment im Theater Spielraum zu sehen (Fotos: Barbara Palffy)[/vc_column_text][/vc_row]

Die Menschenseelen bei Stefan Zweig

Entstanden ist ein dichtes Geflecht aus vielerlei Menschenseelen, die in unterschiedlichster Art und Weise mit dem Krieg konfrontiert wurden. Entstanden ist aber auch das Lebensbild einer Frau, die durch den Krieg unfreiwillig eine emanzipatorische Entwicklung erlebte. Clarissa beginnt mit den Erinnerungen in ihrer Kindheit, die von einem autoritären Vater geprägt war, und taucht abermals ein in das Gefühl ihrer ersten und einzigen großen Liebe mit Léonard, einem Franzosen, den sie auf einem Schweizer Kongress kennenlernte. Der Sommer 1914 wurde für sie in doppelter Hinsicht zum Schicksalssommer. Die Ermordung des Thronfolgerpaares in Sarajewo erfährt sie noch am Abschlussabend des Kongresses selbst. Von den anschließenden Kriegserklärungen sowie der Mobilmachung in Frankreich erfährt sie auf ihrer Reise rund um den Lago Maggiore, die sie mit ihrem Geliebten unternommen hatte. „Grüezi aus der Schweiz“ ist dabei im Hintergrund von einer projizierten Postkartenidylle zu lesen, in welcher die Welt noch heil und unbeschwert zu sein schien. Dass Clarissa in diesem unheilbringenden Sommer auch schwanger wurde, besiegelt ihr weiteres Schicksal. Aus Kriegsräson von ihrem Geliebten getrennt, erleidet sie das gleiche Los wie Millionen anderer Frauen auch. Plötzlich auf sich alleine gestellt, mussten sie sich selbst um ihr Einkommen kümmern und – wie in ihrem Fall – Dienst in einem Spital verrichten. Unter die Haut geht dabei jene Szene, in welcher sie staccatoartig mit einem Arzt die grauenhaften Spitalszustände beschreibt, auf die niemand vorbereitet war. Hart ertönen dazu im Hintergrund ohne Unterlass hörbar gewordene Schicksalsschläge.

Kriegseuphorie und das ewige Warten

Metzger schiebt zwischen den Handlungsstrang immer wieder in dämonisch rotes Licht getauchte Traumsequenzen, in welchen die Zwänge und die Nöte der Soldaten deutlich werden, die sich dem Krieg nicht entziehen können. So evozieren in einer Szene Peter Buchta, Matthias Messner und Peter Pausz mit einer Stampfkanonade eindrucksvoll jene Soldatenmassen, die völlig dem Willen der Kriegstreiber ausgeliefert waren und ihr Leben für Volk und Vaterland einsetzen mussten. Clarissa gelingt es jedoch nur in ihrem Traum gegen die Obrigkeit aufzutreten und eine wahre Tirade gegen den Krieg anzustimmen. In der Realität werden noch einige Jahrzehnte vergehen müssen, um den Traum vom Frieden in Europa Wirklichkeit werden zu lassen. Buchta in der Rolle Eduards verabschiedete sich von seiner Schwester Clarissa beinahe freudig an die Front in der Annahme, dass der Krieg bis spätestens Weihnachten gewonnen sein würde. Sein Enthusiasmus steht als Sinnbild für jene Hunderttausende, die mit Blumenkränzen geschmückt frohlockend und unwissend in eine grauenvolle Zukunft einrückten. Matthias Messner, zu Beginn als Léonard glückselig seine junge Liebe genießend, berührt an anderer Stelle als russischer Soldat auf Knien rutschend mit seiner permanenten Frage, ob er denn nicht nach Hause könne. An seiner Person wird besonders klar, wie absurd der Krieg auf einfache Menschen wirkt, die nicht das geringste Verständnis für kriegerische Handlungen aufbringen können, sondern deren ausschließliches Trachten dem Wohlergehen ihrer Familie gewidmet ist. Das als unendlich empfundene Warten auf das Kriegsende, die Isolation in einem fremden Land, das Unverständnis der fremden Kultur und die nicht erhaltene Hilfestellung seitens der Bevölkerung – Faktoren, die jeder Krieg, aber auch Situationen von Emigranten in Not mit sich bringen – werden in dieser bedrückenden Szene überdeutlich. Klaus Uhlich interpretiert hingegen gänzlich antipodisch und altersweise Clarissas guten Helfer, Dr. Silberstein. Ein intellektueller Psychotherapeut, der auf der Höhe der Zeit die ideologiefreien reformpädagogischen Ansätze von Ellen Key und Maria Montessori preist und sich mit Freuds Theorien kritisch auseinandersetzt. Höchst interessant dabei ist, dass er auf die weibliche Linie der Reformpädagogik rekursiert und nicht auf jene von Rudolf Steiner, Anton Semjonowitsch Makarenko oder Peter Petersen, allesamt mit unterschiedlichen Ideologien behaftet. Er ist der Einzige, dessen Stimme sich permanent gegen den Krieg erhebt und der den Nationalismus als jenes Übel beim Namen nennt, das die Kriegstreiberei erst möglich machte. „Der verdammte Nationalismus verdirbt alles“. Wie rasch und unvermittelt sich hier unser Gegenwartsgefühl mit dem der Vergangenheit vermischt, ist beinahe angsteinflößend.

Die Sehnsucht nach einem kleinen Leben

Peter Pausz, der erst vor Kurzem als Regisseur im Theater Spielraum agierte, brilliert in seiner Rolle als Gottfried Brancoric. Einem simulierenden Soldaten, der die Kriegsgräuel nicht aushält und sich lieber mit Hilfe eines Brechmittels zu Tode hungert, als noch einmal an die Front zu müssen. Einfach toll, wie er sich vom kleinen Häufchen Elend in jenen hilfsbereiten Mann verwandelt, der Clarissa nicht ganz uneigennützig eine Kriegsnottrauung anbietet, um ihrem Kind einen Vater zu geben. Seine inneren Kämpfe, seine unbändige Angst – „Angst ist ein tausendfaches Sterben“ und seine Bitte nach nichts Anderem als „einem kleinen Leben“ zeigen, dass er, der als Feigling Abgestempelte, wesentlich mehr Realitätssinn hatte als seine Kameraden, die durch ihre Verdrängungsmechanismen ungeschützt, millionenfach direkt in den Tod liefen. In weiterer Folge ist es ebenfalls Brancoric, der als Schieber Clarissas Kind vor dem Hungertod rettet und zu guter Letzt als gebrochener Mann, aber zumindest körperlich unversehrt, zu ihr nach Hause kommt. Mehr als beeindruckend erkörpert die junge Samantha Steppan die Rolle der Clarissa. Bei ihr sitzt jede Geste und jede noch so kleine Mimik. Atemberaubend, wie sie mehrfach auf einem der in unterschiedlichen Ebenen angebrachten Podien (Bühne Harald Ruppert) so am Rand zu stehen kommt, dass ein minimaler Fehltritt ihr Abstürzen bedeuten würde. Eine der vielen kleinen, aber umso wirkungsvolleren bildlichen Metaphern welche die Inszenierung so unglaublich dicht erscheinen lassen. Clarissas Entwicklung vom jungen verliebten Mädchen hin zur desillusionierten Frau, die ihr Leben nicht nach ihren Vorstellungen, sondern nach ihr auferlegten Zwängen leben musste, macht auch deutlich, wie sehr sich politische Entscheidungen und soziale Gegebenheiten direkt auf Menschenschicksale auswirken.

Der Krieg als düsteres und dunkles Ereignis

Nicole Metzgers Inszenierung ist dicht, düster und dunkel, aber gerade dadurch auch bestechend, brillant und brisant. Sie komprimiert das Lebensgefühl einer verlorenen Generation, die sich noch nicht einmal bewusst ist, dass eine weitere Apokalypse noch auf sie zukommen wird. „Welten von Gestern“ zeigt jedoch, und das ist das Erschreckende schlechthin, dass sich kriegstreiberische Mechanismen, gestützt auf nationale Hetze, über die letzten hundert Jahre nicht verändert haben. Einzig die Rolle der Frau hat sich in den westlichen Hemisphären zumindest gewandelt. Von unemanzipierten menschlichen Wesen zweiter Klasse zu selbstbestimmten Frauen, die ihr Leben – wenngleich auch nach wie vor nicht immer – so gestalten können, wie es ihren Vorstellungen entspricht. Erhellendes dazu ist im höchst informativen Programmheft nachzulesen, in dem vor allem die Rolle der Frau im Krieg besonders beleuchtet wird.

Fazit: Sehens- empfehlens- und nachdenkenswert!

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Theater Spielraum

Wohin kehrt man heim?

Wohin kehrt man heim?

Das Schauspielhaus Wien ist bei seinem fünften und letzten Teil der Serie „Die Welt von Gestern“ nach Stefan Zweig angekommen. Die junge Autorin Anne Habermehl wurde sowohl für die erste als auch auch für diese letzte Folge, die den Titel „Heimkehr nach Österreich“ trägt, beauftragt.

Aufführungen in Altersheimen rangieren unter der Beliebtheitsskala von Kreativen nicht gerade an oberster Stelle. Zwar ist das Publikum gemeinhin nicht allzu schwer zu begeistern, allerdings funktioniert ein Auftritt nur dann zufriedenstellend, wenn er genügend Erinnerungspotential enthält. Das Schauspielhaus in Wien benötigt für seinen fünfte und letzte Serie nach Stefans Zweig Biografie jedoch gar kein Publikum aus dem Altersheim, sondern nimmt sich dieses dorthin einfach mit. Nach einem kurzen Spaziergang vom Haupthaus in der Porzellangasse ist das Haus Rossau in der Seegasse 11 erreicht. Ein Ort, mit geschichtsträchtiger Vergangenheit, der den bislang gebräuchlichen Namen „Altersheim“ abgelegt hat. „Häuser zum Leben“ nennt die Betreibergesellschaft vielmehr jene Institutionen, die vornehmlich alte Menschen, die nicht mehr alleine wohnen können, beherbergen. Und so befindet sich das Publikum in seinem solchen „Haus zum Leben“, in welchem an diesem Abend jedoch das Sterben in den Mittelpunkt der Betrachtungen rückt. Die Geschichte dieses speziellen Hauses ist äußerst bemerkenswert, vielschichtig und daher zugleich auch sehr interessant für eine Theateraufführung im Zusammenhang mit jener Thematik, die das Schauspielhaus Wien in dieser Saison aufarbeitet.
Im Hof des Hauses befindet sich nämlich ein jüdischer Friedhof, der in den letzten beiden Jahrzehnten in mühsamer Kleinarbeit wieder rekonstruiert wurde. Dafür mussten alte Grabsteine, die 1943 mit Zustimmung der NS-Verwaltung auf den Zentralfriedhof verbracht wurden, wieder zurückgeholt werden, um an ihren ursprünglichen Ort wieder aufgestellt werden zu können. Das jetzige Wohnheim stammt aus den späten 70er, frühen 80er Jahren, gehört der Stadt Wien und wird als konfessionsfreies Altersheim geführt. Bis zum Jahr 1943 jedoch war es ein jüdisches Altersheim, an dessen Platz schon zu Beginn der Neuzeit – bis dahin lassen sich einige Grabsteine zurückdatieren – ein jüdisches Siechenhaus stand. Nachdem die letzten Alten 1943 aus dem Haus abtransportiert worden waren, wurde es von den Nationalsozialisten beschlagnahmt, um aber gleich nach dem Krieg den Heimkehrenden aus den Deportationslagern als allererste Anlaufstation zu dienen. Diese Geschichte, in der sich das Unrecht gegen die Wiener jüdische Gemeinde über Jahrhunderte hinweg widerspiegelt und letztlich auch ein Faktum aufzeigt, das im öffentlichen Bewusstsein nicht verankert ist, diente der Autorin sicherlich als bedenkenswertes Faktum. Sie wählte diese Seniorenresidenz, um darin die letzte Station einer alten Dame zu beschreiben, die zeitlebens nirgends ein richtiges Zuhause hatte.

Habermehl hat für ihre zwei Abende 100Jährige Wienerinnen und Wiener interviewt und sich auf die Geschichte eines Ehepaares konzentriert. Im ersten Teil erzählte sie dessen Leben bis zum Freitod des Mannes in den 80er Jahren, der sich, seiner Demenz bewusst, in den Wald zurückzog, aus dem er nicht mehr heimkam. Im letzten Teil nun knüpft die Autorin an die Geschichte seiner Frau an und erzählt indirekt über ihre Tochter und deren Mann ihren Alterungsprozess. Dass sich das Geschehen nicht auf einer Theaterbühne abspielt, sondern in ein reales Seniorenheim verlegt wurde, macht in mehrerlei Hinsicht Sinn. Denn der Abend wird nicht nur intellektuell verarbeitet, sondern beansprucht alle menschlichen Sinne. Das beginnt beim olfaktorischen Eindruck, der einen sofort umfängt, wenn man das Haus betritt, geht weiter zu einer kleinen Essensausgabe, bei der man einen Dosenobstalat im kleinen Schüsselchen erhält und endet schließlich auf der nächtlichen Terrasse – mit Blick auf den jüdischen Friedhof.

Die Tochter der alten Dame hat genauso wie ihr Ex-Mann oder Ex-Freund keinen Namen, auch nicht ihr kleines Mädchen, über das genauso wie über die alte Dame selbst, nur gesprochen wird. Die junge Frau zeigt kräftige Ansätze einer bipolaren Störung und hat große Schwierigkeiten, das Alter ihrer Mutter und ihr langsames Siechtum zu akzeptieren. Angela Ascher verkörpert diesen impulsiven Charakter. Trotz aller Ressentiments gegen ihre Mutter versucht sie doch, zumindest deren Vergangenheit zu heroisieren. Tim Breyvogel als ihr Ex-Freund erträgt ihre psychische Schieflage nicht und wird ihr gegenüber mehrfach gewalttätig. Die alte Dame, über die sich das junge Paar unterhält, kommt an diesem Abend nie persönlich auf die Bühne, bzw. in den Speisesaal, in dem sich das Geschehen abspielt. Und dennoch ist sie der Dreh- und Angelpunkt des Geschehens. Sie wird zum Projektionspunkt für die unaufgearbeiteten Familiengeschichten des Paares, das mit aller Macht ein eventuelles Naheverhältnis ihrer Vorfahren zum Nationalsozialismus verdrängen möchte. Doch es ist nicht nur die Vergangenheit, die zum Problem der jungen Menschen wird. Es ist auch der nahe Tod, das Sich-Zurückziehen und Verstummen der Alten, welches sie ratlos und zornig zugleich zurücklässt. Die Erinnerungen, die von der betagten Frau nicht mehr hervorgerufen werden können, bietet Habermehl sozusagen aus zweiter Hand, auditiv, über Kopfhörer. In die kalte Nacht auf die Terrasse entlassen, lauscht das Publikum einer 8minütigen Dokumentation von Aussagen jener Menschen, die noch den Ausbruch des ersten Weltkrieges erlebt haben. Dabei entwickelt sich aus dem Abstand, den eine dramatische Fassung mit sich bringt, eine persönliche Bezugsebene zu den alten Menschen. Obwohl man diese nur hört und nicht sieht. Allen gemeinsam ist die Tatsache, dass ihr Erinnern ein selektives ist, eines das noch dazu beständig abnimmt und damit auch eine Zeit verschwindet, die prägend für unser Hier und Heute war. Dabei steigt das Bewusstsein auf, dass all diese Geschichten bald gänzlich verschwunden sein werden. Nur vereinzelt mehr nachzulesen, so wie in Stefan Zweigs Biografie, die den Ausgangspunkt zu diesem Theatererlebnis bildete. Erinnerung an das eigene Leben erlischt schon in demselben. Permanent und ständig, im fortgeschrittenen Alter mit Riesenschritten. Die „Heimkehr“, die auch im Titel dieses Abends verankert ist, ist ab einem bestimmten Lebensabschnitt keine „Heimkehr“ an einen bestimmten Ort. Vielmehr ist es eine Heimkehr in einen Zustand, der, bevor er eintritt, nicht gefühlt werden kann.

In der Regie von Felicitas Brucker mimt Tim Breyvogel jenen jungen, zornigen Mann, der seine Gefühle nicht unter Kontrolle halten kann. Schon einmal Mal in dieser Serie war er mit dieser Charaktereigenschaft belegt worden. In der zweiten Folge, die er mit Michael Gempart bestritt und die Philipp Weiss verfasst hatte, waren es ebenfalls seine familiären Prägungen, unter denen er litt und welchen er mit Gewalt versuchte zu entkommen. Eine kluge und passgenaue Besetzung.

In der Replik auf die fünf Serienteile kann man feststellen, dass es dem Team – allen voran den Autorinnen und Autoren – gelang, viele differenzierte Sichtweisen auf das 20. Jahrhundert aufzuzeigen. Sichtweisen, die sich in Einzelschicksalen manifestierten, welche aber alle mit den politischen Bedingungen ihrer Lebensspanne verwoben waren. Es gibt kein Entrinnen, kein Abgekoppelt-Sein aus einem politischen Umfeld – so könnte man eine der Kernbotschaften dieser Produktionen bezeichnen. Auch wenn viele Menschen heute das Gefühl haben, unpolitisch und nur am Rande von der Politik betroffen zu sein. -“Die Welt von Gestern“ wurde in dieser Produktion zur „Welt von Heute“, wenn nicht sogar zur „Welt von Morgen“. Ein gelungenes Experiment, das neben den jeweiligen Abendvorstellungen räumliche und geistige Plätze noch und nöcher öffnete, um historisch zu reflektieren und nicht zuletzt auch unsere heutige ganz persönliche Positionierung in vielen Lebensbereichen zu hinterfragen.

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reichtum ist die kotze des glücks

reichtum ist die kotze des glücks

Die Welt von Gestern

Raphaela Möst, Martin Vischer (c) Schauspielhaus

Katharina und Albrecht sind ein Geschwisterpaar. Eingeschlossen in den über Generationen vererbten Familienreichtum, beglückt mit einem Hauslehrer, den sie das fürchten lehren vor dem Lehren. Katharina und Albrecht sind ein ungleiches Geschwisterpaar. Angetrieben von ganz unterschiedlichen Motivatoren repräsentiert der Bruder den grübelnden Philosophen, der vor der Gewalt seiner Schwester solange zurückschreckt, bis sie bei ihm selbst ausbricht. Katharina hingegen ist eine gelangweilte junge Frau, deren Gier nach Leben hinter den abgeschotteten Mauern des fortifizierten Heimes keine Erfüllung finden kann. „reichtum ist die kotze des glücks“ konstatiert sie trocken an einer Stelle, ohne zu wissen, wie sehr sich ihre Zustandserkennung noch in die Tragik zugespitzt bewahrheiten wird.

Der junge Autor Ferdinand Schmalz (geb. 1985 in Graz) hat die Herausforderung des Schauspielhauses Wien angenommen, den vierten Teil der Staffel „Die Welt von Gestern“ nach Stefan Zweig zu gestalten und einen dramatischen Text dazu zu verfassen. Was dabei herausgekommen ist, ist ein Abend, gespickt mit Zweig-Zitaten aus dessen Biografie, einer Vielzahl an Verweisen in die klassische Literatur, angefangen mit einem Faust-Ausspruch, weiterführend mit der Rezitierung eines Gedichtes Nietzsches aus seinem „Ecce homo“ bis hin zum unterschwelligen, musikalischen Hinweis mit einem Ausschnittes aus dem 2. Satz der 9. Symphonie von Beethoven, den weiland schon Stanley Kubrick in seinem Kultfilm Clockwork-Orange mit den Gewaltexzessen von gelangweilten Jugendlichen verband. Eine explosive Mischung, die in der Regiearbeit von Felicitas Brucker in seiner ganzen Tiefe wahrscheinlich nur jenen schlüssig zugängig wird, welche Ohren haben zu hören und einen kulturhistorisch geschulten Intellekt, um vollständig in das Schmalz`sche Universum eintauchen zu können. Und selbst dann noch birgt der Text historische Untiefen, die sich erst in einem Autorengespräch an die Oberfläche der Textwahrnehmung zerren lassen werden. Aber das ist gut so, denn das fixt an. Oder etwas präziser ausgedrückt: Eine Prise Schmalz-Text und man wird zum Literaturjunkie.

Der Abend beginnt im historischen Lesesaal des Josephinum. Jenem klassizistischen Gebäude, in welchem die medizinische Schausammlung von Wachspräparaten der Universität Wien untergebracht ist, die Josef II ganz nach Vorbild des Specola in Florenz unter der Leitung des Modelleurs Clemente Susini anfertigen ließ. Letzterer findet übrigens im Text von Ferdinand Schmalz eine kurze Erwähnung. In unsere heute Währung umgerechnet, musste der Habsburgerkaiser 650.000,— Euro bezahlen um diese Präparatensammlung schließlich sein Eigen nennen zu dürfen. Die Vorbildwirkung der Medici, deren Sammlung in jene des Specola einfloss, dürfte nicht unmaßgeblich bei der Ankaufsentscheidung Josefs eine Rolle gespielt haben. Wann hat man als vermögender „Sammler“ schließlich schon die Gelegenheit, ein ehemals weltberühmtes Herrschergeschlecht mit seiner eigenen Ankaufspolitik noch zu übertrumpfen?

Zurück aber zum Stück von Schmalz, das den Titel „Die Agonie des Friedens“ trägt. Darin ist es nicht Josef II, sondern der Vater von Katharina und Albrecht, welcher dieser Sammelleidenschaft erlegen ist. Und das sosehr, dass die Beziehung zu seinen Kindern dabei eine untergeordnete Rolle in seinem Leben spielt. Ganz zu Beginn des Stückes wähnt man sich zurückversetzt in jene feudalistischen Zeiten, in welchen Hauslehrer sich um die Bildung der adeligen Sprösslinge kümmerten. Bald aber schon finden sich Hinweise auf unser Hier und Jetzt, von dem aus so manche Rückblende in die Familiengeschichte erfolgt. Worauf sich der Familienreichtum gründet, bleibt unerwähnt, nur soviel ist zu erfahren, dass der Großvater der beiden jungen Menschen in seiner Fabrik Zwangsarbeiter beschäftigt hatte. Mit diesem Hinweis und jenem, dass ein Foto des Großvaters, auf dem er mit Dollfuß zu sehen ist, lange schon auf dem Dachboden verschwunden ist, unterfüttert Schmalz das Geschehen mit jener zweiten historischen Dimension, welche in die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg zurückführt. Also in jene Zeit, in der Stefan Zweig im Exil seine Biographie schrieb. Katharina und Albrecht sind das letzte Glied einer Familie mit einem langen Stammbaum. Ihr charakterlicher Unterschied zeigt sich auch in ihrem Sprachvermögen. Albrecht verweilt darin häufig in einem antiquierten Diktum, das sich gerne der Reimform bedient, Katharina kommt gerne unverblümt zur Sache.

Nachdem das Setting abgesteckt und klar geworden ist, dass die Geschwister abgeschottet von der Außenwelt ein Leben leben, dass ausschließlich auf eine gegenseitige Referenzierung angewiesen ist, steuert das Stück auch schon seinem ersten Höhepunkt zu. Die Schilderung von Katharina, wie sie Zeugin eines Übergriffes auf eine alte Frau wurde, die eine Horde junger Männer zu Boden prügelte, ohne dass sie selbst eingegriffen hätte. Zählt man eins und eins zusammen, so kann man davon ausgehen, dass Katharina nicht nur Zeugin dieser Tat, sondern auch direkt daran beteiligt war. Die Vorhaltungen ihres Bruders quittiert sie einzig mit einer Tirade auf dessen Schwäche. So lange, bis dieser, dem sie zuvor auch noch sein handgeschriebenes Notizbuch verbrannte, seine Nerven verliert. Nachdem er das Heinrich Heine Zitat abwandelt und seine Schwester nicht nur der Bücherverbrennung, sondern auch der Möglichkeit der Menschenverbrennung bezichtigt, kommt es zur Tat im Affekt. HIngesunken auf den Boden, bleibt die junge Frau in ihrem Blute nach dem tätlichen Angriff und der Würgeattacke ihres Bruders schließlich liegen. Als Abschluss des ersten Teils animiert Albrecht das Publikum noch, ihm aus der Bibliothek zu folgen und seine Schwester alleine im Raum zurückzulassen. Einen langen Gang entlang geht es in einen jener Säle, in welchen sich die Wachspräparate befinden.

Katharina taucht dort plötzlich völlig unerwartet und unversehrt darin auf. Das Attentat auf sie hat sie überlebt und folgt nun argumentativ ganz jener Freud´schen Logik, nach welcher das Böse in jedem Menschen steckt. Solange, bis die dünne Haut, die über den menschlichen Trieben gespannt ist, zerplatzt und die blinde Aggression zutage tritt. Siegmund Freud hat diese psychologische Argumentation in Zusammenhang mit den Gräueltaten des NS-Regimes gegenüber Stefan Zweig bei Gesprächen in England dargelegt. Schmalz nimmt diese auf und transferiert den unmenschlichen Zustandes eines Regimes in ein menschliches Einzelschicksal. Und dennoch hat das Böse in seiner Interpretation viele Gesichter. Katharinas Verweis auf des Menschen höchstes Gut, nämlich seine Freiheit, ganz im Sinne von Sartres Selbstbestimmung, die in letzter Konsequenz auch alle negativen Entscheidungen zu tragen hat, zeigt, dass die junge Frau nicht geläutert aus des Bruders Angriff hervorging. So ist nicht sie die Verliererin in diesem Spiel um Gut und Böse, um Moral, Ethik und Gewalt, sondern ihr Bruder. Eingeschlossen in eine Nervenheilanstalt, widersetzt er sich dem Rat seiner Schwester, doch Beruhigungsmittel zu nehmen – sich einer „Chemokatharsis“ zu unterziehen. „ich weigere mich, das handwerk des verdrängens zu erlernen“ kontert er, wohl wissend, dass außerhalb seines neuen Exils die Menschen gerade den Verdrängungsmechanismus bis ins Perfekteste kultivieren. „der krieg kommt immer wieder, weil er da in den herzen wohnt. die menschen, sie werden nicht friedlicher. müsst man den krieg schon selber töten“. Mit dieser Kernaussage lässt Albrecht keine positiven Zukunftsaussichten aufkommen.

Martin Vischer in der Rolle des Bruders überzeugt in jenen Momenten, in welchen er seinem Menschsein in der Psychiatrie unmittelbar ohne Beschönigungen ausgeliefert ist. Von Liebe, Hass und Eifersucht befreit, lebt er dort sein Leben hellsichtigst, wenngleich abgeschottet vor den sogenannten „Normalen“ und berührt in diesen letzten Sequenzen unglaublich. Raphaela Möst verkörpert perfekt das schöne Böse, ohne jegliche Moral. In all ihren Äußerungen ihrem Bruder in ihrer Außenwirkung stets überlegen, bleibt ihr der humane Zugang jedoch bis zum Schluss gänzlich verweigert.

Ferdinand Schmalz hat – nicht zuletzt mithilfe von Felicitas Brucker – seine Feuertaufe als Autor am Schauspielhaus in Wien bestanden. Sein Text beeindruckt durch seine Vielschichtigkeit aber auch durch die mannigfaltigen historischen Verschränkungen und der offenen Klammer des Geschehens bis in die Jetztzeit. Wer eine gewisse Abhängigkeit verspürt und mehr Texte des Autors lesen möchte, sei auf seine derzeitige Funktion als Alsergrunder Bezirksschreiber verwiesen und behalte seine Homepage im Auge.

LINKS:

Webseite Ferdinand Schamlz
Webseite Josephinum

Brasilien liegt im Neunten

Brasilien liegt im Neunten

Über das genaue Datum sind sich die Fachleute nicht einig. War es der 22. oder der 23. Februar an welchem Stefan Zweig und seine Frau 1942 in Petropolis, ungefähr 50 km von Rio de Janeiro entfernt, Selbstmord begingen? Sein Abschiedsbrief ist mit 22. datiert. Darin hoffte er, dass seine Freunde nach der langen Nacht noch die Morgenröte sehen mögen. Seine Kräfte seien nach langen Jahren heimatlosen Wanderns erschöpft und seine Ungeduld zu groß.

Die Welt von Gestern

Sabina Holzer und Jack Hauser (Foto: Schauspielhaus Wien)

Der dritte Teil der fünfteiligen Stefan-Zweig-Serie des Schauspielhauses Wien führt geradewegs in diese letzten Lebensmomente und in das Sterbezimmer des Schriftstellers. In dieser Produktion liegt es jedoch zu Fuß nur ca. 10 Gehminuten entfernt vom Haus in der Porzellangasse. Sabina Holzer und Jack Hauser, die diese Folge als Performer bestreiten, gehen mit dem Publikum vom Nebenhaus des Schauspielhauses durch die Nacht – auf kleinen Umwegen – wie man zuvor noch erfährt, an einen noch nicht näher genannten Ort. Vorbei am Sigmund Freud Museum, dessen Namensgeber Zweig als einen seiner wichtigsten Freunde titulierte, geht es links von der Berggasse ab in die Wasagasse, bis hin zum Gymnasium, an dessen Außenmauer, links und rechts vom Eingang, jene Tafeln prangen, mit denen sich die Schule öffentlichkeitswirksam schmückt. Es sind Memorabilien an jene Schüler, aus denen „etwas geworden“ ist. Neben Friedrich Torberg liest man die Namen von Erich Fried, Marcel Prawy und Stefan Zweig. Ob Letzterer darüber erfreut gewesen wäre, darüber lässt sich streiten, beschreibt er doch in einem ganzen Kapitel seiner Biographie „Die Welt von Gestern“, wie sehr er die Schule gehasst hatte und sie als Knebelung des Erwachsenwerdens empfand.

Von all dem erfährt das kleine Grüppchen unerschrockener Theatergängerinnen und Theatergänger aber nichts, wurde ihm doch zuvor aufgetragen, den Weg so still wie möglich zu beschreiten. Und sich dabei vorzustellen, die Stadt nicht zu kennen, fremd hier zu sein und einen fremden Blick aufzusetzen. Was sich für viele als gar nicht leichte Übung herausstellte. Ein tatsächliches Gefühl der Befremdung stellte sich dann aber doch ein. Beim Eintritt ins Haus Währinger Straße 12. Dort ging es im Gänsemarsch hinauf in den ersten Stock, das Hochparterre und das Mezannin mitgerechnet in den „gefühlten“ 3. Stock, in welchem sich die Hotel-Pension Baron befindet. Das Logo wirkt wie die weibliche Ausführung des Werbesujets einer alteingesessenen Wiener Kaufmannsfamilie, deren jüngster Spross durch waghalsige Bankgeschäfte in den Fokus der Justiz geraten ist. Mit dunklem Holz vertäfelt nimmt ein kleiner Empfangsraum, bestückt mit großen, schweren Samtsofas und ebensolchen Fauteuils, die nun neugierig gewordene Menschengruppe auf. An der einen Seite zeigen polierte Messingnummern den Zutritt zu einzelnen Hotelzimmern an, eine schwere Holztreppe mit gediegenem Handlauf führt in eine höhere Etage. Durch eine kleine Türe und einen engen Gang geht es schließlich weiter in das – wie an den Buffetaufbauten und -utensilien unschwer zu erkennen ist – Frühstückszimmer. Nur die Tische fehlen. An zwei Wänden je eine Stuhlreihe auf der sich das Publikum etwas ausruhen und die zweite Tanzperformance von Sabina Holzer betrachten kann. Zu harten E-Gittarrenklängen von Jack Hauser formt sie einen Tanz, der sie immer wieder ganz abrupt zusammenbrechen aber auch rasch immer wieder aufstehen lässt. Schon im Nebenhaus des Schauspielhauses, kurz vor dem kleinen Marsch in die Nacht, hat Holzer getanzt. Dort aber zu unhörbaren Klängen. Aber schon dort war ihr Tanz aus irgendwie aus dem Gleichgewicht geraten. Die Erde unter ihren Füßen scheint sie nicht immer tragen zu wollen, die Kraft, die sie fürs Tanzen benötigt, scheint nicht mehr ganz auszureichen. Im Hotel Baron ist nicht gleich klar, dass sich die Räume, in denen nun das Geschehen seinen Lauf nimmt, Behausungen darstellen werden, die Stefan Zweig in seinem letzten Lebensabschnitt in Brasilien bewohnte. Damals war nichts mehr, wie es am Beginn seines Lebens noch gewesen ist. Das Kaiserreich nach dem Ersten Weltkrieg aufgelöst, die Zwischenkriegswirren und einsetzende Nazifizierung sowie der Beginn des Zweiten Weltkrieges – all das hat Stefan Zweig erlebt und aufgrund seiner Verfolgung, in den Tiefen seiner Seele erschüttert. Hier nun in der Währinger Straße – nein – hier nun in Brasilien ist er angekommen. Das letzte Kapitel in seinem Leben ist aufgeschlagen. „Umwege auf dem Weg zu mir selbst“ so heißt das 8. Kapitel in Zweigs Biographie. Aber so nennt sich auch dieser dritte Theaterabend aus der Serie „Die Welt von Gestern“, die den Spuren des Autors bis ins Hier und Heute folgt.

Nach der tänzerischen Einstimmung, die dem Publikum nur eine Aufgabe stellt, nämlich sich gefühlsmäßig auf den Ort und die Stimmung von Holzer und Hauser einzulassen, werden die Besucherinnen und Besucher in zwei Gruppen geteilt. Jede von ihnen wird in eines der beiden angrenzenden Hotelzimmer geleitet und erlebt dort wiederum einen ganz bestimmten Zweig´schen Lebensabschnitt. Beengt sitzt und steht man in den kleinen Hotelzimmern. Im ersten haben es sich Hauser und Holzer auf dem Bett bequem gemacht und beginnen aus Textpassagen von Vilém Flusser und Stefan Zweig zu lesen. Es geht um Heimat und Exil und rasch folgen einzelne Personen aus dem Publikum der Aufforderung, sich in diese Thematik persönlich einzubringen. Jetzt ist der Bann gebrochen, aus dem Zur-Schau-Stellen, dem Schau-Spielen ist ein Dialog geworden. Die Situation von Flüchtlingen wird zur Sprache gebracht, aber es wird auch über Menschen in anderen lebensbedrohlichen Situationen gesprochen in welchen sie sich nicht mehr in ihrem Körper zuhause fühlen. Und dennoch ist es schwer, sich ein Exil in seiner ganzen Tragweite tatsächlich vorzustellen. Internet sei Dank. Ein Klopfen an der Zimmertüre beendet die Session und es wird in das zweite Zimmer gewechselt.

Einzeln nur werden hier die Personen eingelassen, nachdem die Reihenfolge zuvor direktiv ausgesucht worden waren. So ist es also, das Warten auf etwas, von dem man nicht weiß, was einen erwartet. Das Warten in einer Situation, die keine Selbstbestimmung zulässt. In dem kleinen Hotelzimmer ist es stickig. Die Sträuße mit dunkelroten Rosen, die überall verteilt sind, verströmen einen starken Verwesungsgeruch. Es wird auf den zugeteilten Orten Platz genommen. Auf Sesseln, Hockern und auf dem Bett, auf dem es scheint, als ob jemand zuvor geschlafen habe. Auf Knopfdruck wird ein Video abgespielt und auf dem kleinen Fernsehbildschirm sichtbar. Darin folgt eine Handkamera Sabina Holzer, die in einen schwarzen Bodysuit gekleidet auch eine schwarze Haube auf dem Kopf trägt aus der nur die Augen ausgeschnitten sind. Im Minutentakt nimmt die Beklemmung vor dem Bildschirm zu, geht Holzer doch genau jenen Weg, den das Publikum zuvor auch in das Hotel und das Zimmer gegangen ist. Der einzige Unterschied zur real-life-Situation ist, dass sich im Film im Bett zwei Menschen befinden. Zwei Männer, die augenscheinlich schlafen. Der eine auf dem Rücken, der andere seitlich an diesen geschmiegt. Und damit wird es klar. Was hier gezeigt wird, ist die Nachstellung jenes dokumentarisch aufgenommenen Bildes, das Zweig nach seinem Suizid mit seiner Frau tot in ihrem Bett zeigt. Hier muss man präzisieren: Es ist eines jener zwei überlieferten Bilder, die Stefan Zweig und seine Frau auf ihrem Totenbett zeigen. Nur geringfügig unterscheiden sie sich voneinander. Auf einem schmiegt sich Zweigs Frau an dessen Seite, auf dem anderen hat sie ihren linken Arm innig über die Brust ihres Mann gelegt. Holzer nimmt im Film vorsichtig den linken Arm des Mannes, der die Position von Zweigs Frau eingenommen hat und verändert ihn so, wie es auf dem zweiten Foto zu sehen ist. Dann verlässt sie den Raum und legt die beiden Fotos, die sie für die Veränderung noch einmal inspizierte, auf einen kleinen Tisch. Warum es zur Veränderung der Platzierung der Extremitäten von Zweigs Frau Lotte bei der Aufnahme des Fotos kam, wird nicht weiter erklärt. Auch nicht, welche Position denn nun jene gewesen ist, in der die Hausangestellten das Ehepaar tot aufgefunden haben. Mutmaßungen könnten zwischen einer drastischer dargestellten Liebesbekundung und einer besseren Sichtbarkeit des Literaten ohne die Körperdecke seiner Frau schwanken. Aber sie werden an diesem Abend nicht gestellt. Das Geheimnis bleibt als solches in der Figur der schwarz gekleideten und unerkannt bleiben wollenden Sabina Holzer aufrecht.

Die Flucht, die Unruhe, das Exil hat seine Spuren hinterlassen. Das Gefühl, dem Krieg und dem Naziterror nicht entkommen zu sein – Zweig hat wenige Tage vor seinem Tod noch die Torpedierung von brasilianischen Unterseeboten durch die Deutschen mitereleben müssen – dieses Gefühl lässt sich in diesem Moment in der Währinger Straße im neunten Wiener Gemeindebezirk zumindest erahnen.

Es herrscht allgemeines Aufatmen, als das Zimmer verlassen werden darf und gemeinsam im Frühstücksraum mit einem Glas Sekt angestoßen wird. „Zum Wohl“ wünscht man sich dabei und ist an den Titel des Romans von Johannes Mario Simmel erinnert: „Hurra wir leben noch“. Wie spürt man dem Ende eines Lebens nach? Ist es möglich, Stefan Zweigs Situation in Brasilien kurz vor seinem Tod auch nur im Ansatz nachvollziehbar zu machen?

Sabina Holzer und Jack Hauser ist es unter der klugen Regie von Anne Habermehl gelungen, mit wenig theatralischem Einsatz ein Maximum an Gefühlen und Assoziationen beim Publikum hervorzurufen. Es ist ihnen gelungen, das Todesphänomen des Ehepaares nicht als reißerisches Nachspiel zu inszenieren sondern dem Publikum gedanklich das Seine zu überlassen, um die Tragik nicht in ein geschauspielertes Mäntelchen einzuhüllen zu müssen. Ein bewegter, für manche vielleicht auch bewegender und zugleich sehr ruhiger Theaterabend, der aufzeigt, dass es immer wieder Möglichkeiten gibt, Theater neu zu denken.

„Jawohl, mein Vater!“

„Jawohl, mein Vater!“

Die schwere Last der kindlichen Prägung


In einer kleinen Gruppe, wohl behütet von Laternenträgerinnen und -trägern begleitet, wandert das Schauspielhauspublikum nächtens von der Porzellangasse über die Liechtensteinstraße und Strudlhofstiege hin zum Arne-Carlsson-Park. Tim Breyvogel, der junge, deutsche Schauspieler, der an diesem Abend „Ulrich“ spielen wird, ist bemüht, den Spaziergängerinnen und Spaziergängern ein Wanderlied zu entlocken. „Kein schöner Land“ sollen sie singen und sich des alten Wanderbrauches wieder bewusst werden, bei dem man fröhliche Lieder angestimmt hätte, der aber leider schon ausgestorben sei. Und tatsächlich gibt es einige, die mit ihm die Melodie anstimmen, nicht wissend oder schon vergessen habend, dass es sich dabei um eines jener Lieder handelte, das sich gerade zur Zeit des Nationalsozialismus größter Beliebtheit erfreute. Wer musikhistorisch etwas bewandert ist weiß, dass dies eines jener Lieder war, das in der Romantik zu Beginn des 19. Jahrhunderts gedichtet und vertont worden war, dann wieder durch die Wandervogelbewegung in den 10er Jahren des 20. Jahrhunderts zu neuem Leben erweckt und schließlich in der Zeit des Nationalsozialismus mit hinterhältigem Heimatkolorit versehen wurde. „Tot sind unsre Lieder, unsre alten Lieder. Lehrer haben sie zerbissen, Kurzbehoste sie verklampft, braune Horden totgeschrien, Stiefel in den Dreck gestampft.“ – So brachte der deutsche Liedermacher Franz Josef Degenhardt seinen Unmut über die Vereinnahmung deutschen Liedgutes durch die Nationalsozialisten in literarischer Reimform zum Ausdruck. An diesem Abend, an dem es raschen Schrittes zu einem unbekannten Spielort geht, ist die Historie dieses Liedes wohl nur einigen wenigen präsent. Erste Zweifel an der Redlichkeit Ulrichs kommen aber prompt auf – schon beim Eingang in den ehemaligen Luftschutzkeller, der sich im Park befindet. Dort nämlich verteilt er ein kleines Pamphlet, in welchem deutlich wird, wer zu rechtschaffenen Menschen gehört und wer nicht. Und – was noch schlimmer anmutet – er verteidigt bei der Ausgabe der kleinen Zettelchen die Parolen jenes norwegischen Mörders, den sich die Autorin dieser Zeilen beharrlich weigert namentlich zu nennen, um seine Fama nicht noch weiter zu verbreiten. 77 Menschen hat dieser Mann auf dem Gewissen und wenngleich verurteilt und eingesperrt, feiern seine Gedanken fröhliche Urstände. Auch Ulrich scheint von seinem Gedankengut beseelt und scheut sich nicht, wie man noch sehen wird, dieses vehement verbal noch zu verteidigen.

Bis es aber so weit ist, wird man noch Zeuge einer Begegnung zwischen den Generationen, denen es nicht gelingt, direkt miteinander zu kommunizieren, die aber dennoch durch ein starkes, unsichtbares familiäres Band miteinander unsäglich verknüpft sind. Michael Gempart spielt in der 2. Folge „Die Welt der Sicherheit“ im Zyklus „Die Welt von Gestern“ nach Stefan Zweig des Schauspielhauses Wien „Erwin“, einen 100jährigen Mann, der sein Gedächtnis nur bis ins Jahr 1944 abrufen kann. An den Rollstuhl gefesselt, breitet er im kalten Luftschutzkellergang, in dem sich das Publikum an langen Bänken gegenübersitzt, seine Erinnerungen aus, die in die Kaiserzeit zurückreichen. Sein Vater, Hofzeremonienmeister, und seine Mutter hatten sich bei Kriegsende beide erhängt. Mit der langen, goldenen Vorhangkordel des Hofzeremonienmeisterdienstzimmers. Wissend, dass ihre Daseinsberechtigung nicht mehr gegeben war. „Ein kleiner Wicht“ sei er damals gewesen, erinnert sich der alte Erwin, „ein kleiner Wicht“ der fürderhin von seinem Onkel, einem Posamentierer – auch das ein Beruf, von dem es nur mehr einige wenige Ausübende im deutschsprachigen Raum mehr gibt – aufgezogen wurde. Das Monarchische aber, die Liebe zum Kaiser, blieb ihm zeitlebens in seine Blutbahn eingeschrieben und so wundert es nicht, dass er schließlich einer jener Aktiven war, die sich in der Burschenschaft „Carolina“ für die Wiedererrichtung der Monarchie engagierten.

Philipp Weiss, der in dieser Saison Hausautor am Schauspielhaus ist, schuf in Anlehnung an die wahre Begebenheit rund um die Vereinigung „ CV Ottonia“, die von Erwin Drahowzal von Allsperg, Oskar Kozurik und Karl Burian gegründet worden war, eine Figur namens Erwin Kutschera, der sich eine gefühlte Ewigkeit lang vor den Nazis in einem Keller versteckt halten musste, schließlich aber doch entdeckt und so misshandelt worden war, dass er seine Beine nicht mehr gebrauchen konnte. Rosa, seine Schwägerin, kümmerte sich um den jungen Mann, brachte ihm zu essen und verliebte sich unglücklicherweise in ihn. Das aus dieser Verbindung stammende Kind – ein Großelternteil von Ulrich – musste ohne Mutter aufwachsen. Sie war von ihrem Mann, einem „aufrechten Nazi“ nach der Geburt ihres Kindes erschlagen worden. Weiss lässt bereits in dieser frühen Geschichtsphase des 20. Jahrhunderts die beiden ungleichen Brüder aufeinanderprallen und den Samen der zukünftigen Auseinandersetzungen spontan sprießen. Gewalt pflanzt Gewalt – und so steht an letzter Stelle in der Familie jener Ulrich, der wiederum von seinem Vater zum Geburtstag eine Mauser erhält, zu Weihnachten einen Kampfanzug, um an den Übungen der Wehrsportgruppe teilnehmen zu können und ganz nebenbei die Gehirnwäsche mit rechter Gesinnung, für die er bereit ist, Gewalt anzuwenden, sogar gegen sein eigen Fleisch und Blut. Was sich im radikal gekürzten Überblick so schlüssig liest, eröffnet sich dem Publikum nur nach und nach. Die Sprache, die Weiss für sein Drama verwendet ist direkt, aber karg. Lesen, Hören und Kombinieren muss man zwischen den Zeilen. Die Idee, dass Rechtsextremismus sich über Generationen fortsetzt, also quasi mit der Muttermilch aufgesogen wird, klingt zwar stimmig, kann aber nicht 1:1 als Erklärungsmatritze für dieses heutige Phänomen herangezogen werden.

Der Abend lebt aber nicht nur von dieser sich langsam aufbauenden Spannung, sondern vor allem von der schauspielerischen Leistung von Michael Gempart. Bereits im ersten Teil der fünfteiligen Serie beeindruckte er mit der Darstellung eines Dementen, im Luftschutzkeller wird er nicht nur zum hilflosen Krüppel, der durch ein Trauma seine Erinnerung verloren hat, sondern ganz zum Schluss noch zum Helden. Trotz der grausamen Behandlung durch seinen Urenkel, der sich noch nach drei Generationen voller Wut über die Unbeugsamkeit seines Urgroßvaters gegenüber den Nationalsozialisten an ihm rächt, ist doch er es, der Milde walten lässt und dem jungen Menschen Hilfe angedeihen lassen möchte.

Anne Habermehl, die in dieser Produktion die Regie führte, hat ganze Arbeit geleistet. Es gibt wohl kaum schwieriger zu bespielende Orte als den Gang eines Luftschutzkellers – dennoch ist es ihr gelungen, die beiden Protagonisten sowohl sicht- als auch hörbar agieren zu lassen. Das subtile Drama, das durch die Familiengeschichte von Erwin und Ulrich ein ganzes Jahrhundert umspannt, macht besonders jene betroffen, die im Hier und Jetzt muslimische Familienmitglieder haben. Weiss ist nicht der erste und einzige, der die Zeichen der Zeit an der Wand benennt und seine jugendliche Hauptfigur im Hass gegen Moslems suhlen lässt. Bei aller Vergangenheitsbewältigung sollte ein Abend wie dieser dazu genutzt werden alles nur erdenklich Mögliche zu unternehmen, um dieser xenophoben und menschenverachtenden Gedankenwelt vehement entgegenzutreten – wo immer es einem persönlich auch nur möglich ist.

Links:

Schauspielhaus
Die Welt von Gestern – Teil 1

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