Wo Tino Sehgal draufsteht sind Gefühle drin

Wo Tino Sehgal draufsteht sind Gefühle drin

Aubette mb 14

Der Festsaal in der Aubette (c) M. Bertola / Musées de la Ville de Strasbourg

In einer kunsthistorisch geschwängerten Umgebung – der sogenannten „Aubette“ in Straßburg – kann das kunstinteressiert Publikum noch bis 23. Dezember ein Werk Tino Sehgals konsumieren, wenn es dazu Lust hat. Wenn nicht, flüchtet es verstört. Welche Reaktion folgt, hat man die Räume im Herzen von Straßburg besucht, die in den späten 20er Jahren von Jean-Hans Arp, Sophie Taeuber-Arp und Theo van Doesburg neu ausgestaltet wurden und deutlich die De Stijl-Handschrift tragen, hängt von der Experimentierfreude, der Vorbildung oder auch schlicht dem Zufall der Begegnungen ab, die dort gemacht werden. Tino Sehgal, der als jüngster Vertreter Deutschlands die Biennale in Venedig bespielen durfte und erst in diesem Jahr das Guggenheim in NY, dieser Künstler arbeitet nicht mit Material, sondern mit Menschen, deren Kommunikationsstrukturen und deren Erwartungshaltung einem musealen Ort gegenüber.

„The objective of this work is to be the object of a discussion“ mit diesen Satz konfrontierte Sehgal das erste Mal 2004 ein Publikum. Damals umrundeten fünf Männer den überraschten Galeriebesucher und riefen diese Aussage so lange, bis dieser etwas antwortete. In Straßburg feiert diese Aussage fröhliche Wiederauferstehung, allerdings dieses Mal in abgewandelter Form. Betritt man die Aubette, wird man gleich zu Beginn von einem Museumsangestellten launig darauf hingewiesen, dass ein Werk von Tino Sehgal auf einen warte. Im ersten Stock dann angekommen, findet man außer einigen jungen Leuten, die in Zweier-Gruppen beisammen stehen, auf den ersten Blick nichts weiter vor.  Betritt man jedoch dann den Ballsaal, wird man von diesen sofort begleitet. Wieder sind es 5 Personen, die Sehgal agieren lässt. Sie stellen sich jedoch alle den Besuchenden abgewandt jeweils vor eine der Wände, eine junge Frau blockiert sogar den Ausgang, und beginnen nach einer hörbaren Atemchoreografie diesen Satz zu sprechen, zuerst flüstern, dann mit starker Lautstärke zu deklamieren. Mehrmals hintereinander, immer wieder beginnend, wenn ein neuer Besucher den Raum betritt. Hat man dann Glück und bleibt länger ohne weiteren Besucherzuwachs und ist kommunikativ genug, um eine Frage zu stellen, dann kommt es zu einer tatsächlichen Interaktion. Allgemeines Gemurmel erfüllt den Raum und einer der Akteure sagt – „Ich möchte antworten“. Daraufhin gibt es einige interessante, oder auch weniger interessante Antworten, Gegenfragen oder einfach auch nur kurze Erzählungen, die sich um die Frage, die gestellt wurde, drehen. Wer sich nun freut, adäquate Gesprächspartner gefunden zu haben irrt aber, denn sobald ein neuer Besucher den Raum betritt, wird abrupt abgebrochen, und die Endlosschleife der Performance beginnt an ihrem Ausgangspunkt. Menschen, die ehrfürchtig und meist etwas irritiert im Raum keine Fragen stellen, können diese Interaktion nicht erleben. Vielmehr sinken die jungen Menschen wie sterbend nach einer Zeit des Schweigens in sich zusammen um sich erst dann wieder vom Boden zu erheben, wenn neue Besucher kommen, oder sie angesprochen werden. Zwei Räume weiter gibt es, für viele erst auf den zweiten Blick erkennbar, eine weitere Tino Sehgalt-Installation zu entdecken. Dort, im Kino-Vorführraum nämlich, der abgedunkelt ist, liegt knapp vor einer Wand eine junge Frau. Sie trägt normale Alltagskleidung, eine Jean, einen Pullover und vermittelt den Eindruck, dass sie sich in Tiefschlaf befindet. Langsam, wie in Zeitlupe, dreht sie sich um ihre eigene Achse oder rollt ein wenig weiter. Egal, was der Besucher hier macht, Interaktion kommt keine zustande. War es im Guggenheimmuseum ein Paar, das sich eng umschlungen am Boden in einem Endloskuss wälzte, so ist es hier eine einzelne Person, die einer lebenden Skulptur gleich, dem Publikum vorgeführt wird. Oder besser, vom Publikum erst einmal entdeckt werden muss. Die dunkle Umgebung, der schlafähnliche Zustand, die wie in Zeitlupe ausgeführten Bewegungen, all das wirkt bewusst artifizielle und löst, bei längerer Betrachtung, eine Welle von Gefühlen aus. Gefühle, das ist es, was man in der Aubette bei Tino Sehgals Arbeiten erleben kann. Gefühle, die durch Interaktion oder nur durch reine Betrachtung zustande kommen sind das Salz in der Suppe von Sehgals Arbeiten. Aber nicht nur. Dass sich über die Aktionen trefflich philosophieren lässt, steht außer Frage.

Was erwartet man beim Besuch eines Museums, einer Ausstellung? Werden die Erwartungshaltungen der Kunstkonsumenten durch seine Aktionen befriedigt, übertroffen oder enttäuscht? Welche kunsthistorischen Vorkenntnisse sind notwendig, um ein Werk wie dieses tatsächlich auch in seiner umfassenden Dimension zu erfassen? Wie stehen Sehgals weltweite Aktionen untereinander in Beziehung? Ist seine Anordnung, die Performances weder zu fotografieren, noch zu filmen nicht ohnehin nur eine bewusst provozierende Attitüde und eigentlich obsolet, da Kulturjournalisten und Kuratoren sie ohnehin zumindest im geschriebenen Wort archivieren und verbreiten? Ist nicht auch der immaterielle Ansatz nur ein vermeintlich immaterieller, weil er „nur“ mit Menschen, nicht mit Objekten arbeitet? Die Zahl der Fragen scheint schier unendlich und hängt wiederum damit zusammen, inwieweit man sich auf das Werk einlässt, inwieweit man über eine reine Konsumhaltung hinaus sich damit intellektuell beschäftigt. Da Tino Sehgal keine Erklärungen abgibt, bleibt, wie schon altbekannt und offenbar auch altbewährt, die Beantwortung der Fragen allein beim Publikum.

Seine Aussage „The objective of this work is to be the object of a discussion“ bestätigt sich jedoch in jedem Fall.  Jeder, der die Aubette verlässt, diskutiert. Und wenn er oder sie alleine gekommen ist, dann mit dem nächsten, der für eine Aussprache zur Verfügung steht. Konzeptkunst vom Feinsten.

Vor den Veranstaltern, (den Musées des la ville de Strasbourg, Pôle Sud, le Frac Alsace, le Goethe Institut et Savoir(s) en commun (Université de Strasbourg) sei an dieser Stelle der Hut gezogen. Die Belebung dieser Räume in der Aubette, die zu ihrer Entstehungszeit absolut avantgardistisch waren, mit einem Kunstwerk, das ganz auf der Höhe unserer Zeit steht, ist schlichtweg genial. Man hat das Gefühl, hier an etwas teilhaben zu können, das eine neue Dimension aufzeigt. Dass man es nicht mehr Avantgarde nennen soll, weil es sich selbst im postmodernen Kontext nicht mehr als solche definiert, stellt lediglich eine sprachliche Übermittlungsherausforderung dar. Jedenfalls dürfte sich das Gefühl an diesem außergewöhnlichen Ort ziemlich genau mit jenem decken, welches die Straßburger hatten, als sie 1928 erstmals die umgestaltete Aubette betraten und in ihr feierten. Eine wunderbare, sinnhafte, historische Verschränkung über die Zeit hinweg.

Theorie und Praxis beim Festival Jazzdor

Theorie und Praxis beim Festival Jazzdor

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Samuel Blaser und Pierre Favre (c) Jacques Ditisheim


Am 13. November standen Theorie und Praxis auf dem Programm des Festivals Jazzdor. Nachmittags gab´s eine kommentiertes Konzert von Denis Levaillant, dem französischen Pianisten und Komponisten, dessen Standardwerk „Le Piano“ bereits in mehrfacher Auflage erschienen ist. Straßburg erlebte dabei eine Premiere, denn es war das erste Mal, dass Levaillant am Flügel saß und die Geschichte des Klaviers und seiner Musik im Schnelldurchgang anhand von 12 Kapiteln selbst kommentierte. Er zeigte dabei an kurzen Beispielen auf, wie sehr sich Pianisten und Komponisten gegenseitig beeinflussten und alle neuen Strömungen des Klavierbaues aufnahmen. Besonders interessant dabei waren seine Kommentare in Bezug auf die Klaviermusik des 19. Jahrhunderts und deren Beeinflussung des Jazz. Anhand von Beispielen von Chopin, aber in weiterer Folge auch Bartok oder Ravel machte er mehr als deutlich, dass der Jazz nicht vom Himmel gefallen ist, sondern sich organisch aus dieser Musik heraus entwickeln konnte. Die Frage, inwieweit das Dilemma zwischen Komponisten, die keine Pianisten mehr sind und somit auch eine ganz andere Herangehensweise an die Ausdrucksmöglichkeiten des Klaviers haben, in Zukunft vielleicht gelöst sein wird, stellte er in den Raum.

Im Kontrast dazu stand wenig später im Auditorium des MAMCS ein Konzert der beiden Schweizer Samuel Blaser und Pierre Favre. Wie schon zuvor beim Duo Sauer/Wollny, trennt die beiden Musiker eine ganze Generation und dennoch ist das Ergebnis ein Guss, aus dem kein Altersunterschied herauszuhören ist. Was beide auszeichnet – keiner von ihnen benötigt den anderen, so stark sind ihre musikalischen Ausdrucksmittel. Gemeinsam jedoch werden sie zu einem Team, in welchem sich die Freude am Spiel x-fach potenziert. Und dieses Gefühl springt in der Schnelle von wenigen Augenblicken auf die Zuhörer über. Das farbige Spiel von Favres Schlagzeug, in das er ganz natürlich eine Bongo integriert hat, steht gleichberechtigt neben jenem nicht minder bunten von Blaser. Der 30jährige Posaunist agiert mit einem Klangreichtum und einer Atemtechnik, die ihm wahre Kunsttücke erlauben. So beherrscht er die Zirkularatmung, die von der gut ausgebildeten, jungen Bläsergeneration nun beinahe schon durchgängig praktiziert werden kann, was ganz neue Klangerlebnisse bietet. Ein über Sekunden, über eine Normalatmung weit hinausgehender, gehaltener Ton beeindruckt immer wieder, noch dazu, wenn er so klug wie bei Blaser eingesetzt wird. Seine kleinen Melodien, die er immer wieder wie kleine Einsprengsel verwendet, setzen dem Konzert richtiggehende Lichtpunkte auf, die von Favre ad hoc aufgenommen und begleitet werden. Dieser Meister des Schlagzeuges verwendet im Laufe des Konzertes eine ganze Reihe unterschiedlicher Sticks, von herkömmlichen bis außergewöhnlichen. So erzeugten seine dicken, hölzernen Vierkantstäbe einen mächtigen Klang, seine offenen Plastikrohre hingegen wieder viel zartere Tonfarben. Entweder hält er sich minutenlang an ein festgezurrtes, rhythmisches Muster oder aber, was häufiger der Fall ist, er bleibt keine drei Takte lang im selben Rhythmusgeflecht hängen, variiert in hunderterlei Art und Weise vor allem durch die rasche Aufeinanderfolge von unterschiedlichen Materialien. Selten kommen mehrere Schläge von der selben Trommel oder demselben Becken, dementsprechend vielfältig und trocken klingt seine Musik. Ob die beiden von einer Einheit zu einer Defregmentation hin arbeiten, oder ihre einmal gefundene Harmonie nie verlassen, immer bietet ihre musikalische Ausdrucksweise ein reines Hörvergnügen. Einer heimischen Alphornreminiszenz begegnet Favre mit einer Schlagzeugexplosion, eine zart gehauchte, fast nur getippte Melodie, die an reinen Schnee oder vorbeiziehende Nebelschwaden erinnert und so spannend ist, das man die Luft anhält, bleibt bis zum letzten Atemzug im Pianissimo. Ihre Zugaben kommentiert der Schlagzeuger so trocken wie sein Spiel: „Wir haben unser ganzes Programm gespielt, jetzt versuchen wir zu improvisieren. Was spielen wir? Wir spielen immer dasselbe!“ Diesem extremen Understatement folgte wie zum Hohn ein Galopp, ein Ritt über eine jazzige Herbstlandschaft, bei der der Altmeister des Schlagzeuges seinem jungen Gegenpart zeigte, was pure Energie bedeutet. Immer wieder versuchte Blaser Atem zu holen, zu verschnaufen, eine kleine Pause einzulegen, immer wieder trieb in Favre erneut auf. „Weiter, weiter, noch bin ich nicht am Ende“, war die klare Aussage. Japsend und nach Luft ringend schien die Posaune schließlich um Gnade zu flehen, mit einem spitzbübischen Lächeln wurde sie gewährt. Wer war hier alt, wer jung?
Ein Jazzkonzert mit ganz viel Spaß und großer Klasse.

Zeitgenössische, französische Kunst satt

Zeitgenössische, französische Kunst satt

10 Jahre Marcel-Duchamp-Preis in Frankreich

le continent africain Photo adagp Paris 2010

Thomas Hirschhorn, Die 5 Kontinente : der afrikanische Kontinent, 1999, Holz, Alupapier, Silberpapier, verschiedene Materialien, 180x 220 cm, Sammlung Jean Brolly, Paris. Photo : D.R. © Adagp, Paris 2010

Das MAMCS, Musée d´art moderne et contemporain de Strasbourg, ist immer einen Besuch wert. Bis zum 13. Februar kann man sich bei der aktuellen Ausstellung einen wunderbaren Überblick über die französische, zeitgenössische Kunstszene verschaffen. Und dies ist eigentlich auf eine Privatinitiative zurückzuführen, was umso bemerkenswerter ist. Urheber der Ausstellung „De leur temps 3“ oder , wie es die Organisatoren übersetzten „Zeitgeist 3“ ist die ADIAF, ein 1994 gegründeter Verein, der sich um die Verbreitung zeitgenössischer französischer Kunst kümmert. In ihm haben sich mehr als 300 Kunstsammler zusammengeschlossen, die nun seit 10 Jahren alljährlich den sogenannten „Prix Marcel Duchamp“ vergeben. Die Werke für diesen Kunstpreis werden von den Mitgliedern der ADIAF eingereicht und die Sieger daraus von einer fachkundigen Jury gewählt.

Die Ausstellung, die sich auf zwei Kunstszentren aufteilt, nämlich dem Museum in Straßburg und dem FRAC in Sélestat, ist bislang die dritte große, welche die ADIAF in Museen platziert hat. In den Jahren zuvor zeigte bereits einmal das Musée des Beaux-Arts in Tourcoing, sowie das Museum in Grenoble eine Schau der jungen, sammlungswürdigen Szene. In diesem Jahr nun werden insgesamt 150 Werke von 42 Künstlerinnen und Künstlern präsentiert, 7 davon sind auch mit Arbeiten in Sélestat vertreten. Wer beide Ausstellungen gesehen hat, versteht die sinnhafte Verschränkung, die den Kuratorinnen und Kuratoren sehr gut gelungen ist.

Skulpturen, Installationen und Fotoarbeiten machen den Hauptteil der Kunstwerke aus, dahinter kommen zahlenmäßig Videos, sowie ganz zum Schluss die Malerei, die nur mehr einen verschwindend kleinen Prozentsatz der gezeigten Werke ausmacht. Ein typisches Zeichen auch für die zeitgenössische Kunstszene, die offenbar die Malerei nach wie vor als ein Medium in der Krise versteht. Der große Umfang der Arbeiten ließ in Straßburg eine Unterteilung in verschiedene thematische Bereiche zu. „Zeitzeugen“, „Vergänglichkeit des Vergänglichen“, „Auf der anderen Seite des Spiegels“, „Raumeroberungen“, „Erbstücke“, „Anleitungen zum Leben“ sowie „Städte und Architektur“ sind die einzelnen Abteilungen aussagekräftig übertitelt. Einige der Künstler haben bereits internationale Anerkennung erlangt, allen voran der Schweizer Thomas Hirschhorn, der jedoch in Paris lebt, oder aber auch Wang Du, der nach dem Massaker am Tian`anmen Platz nach Paris übersiedelte. Sowohl Hirschhorn als auch Wang Du sind mit ihren Arbeiten im Themenbereich „Zeitzeugen“ angesiedelt. Wang Du´s hingeworfene und zerknüllte Businesszeitung, im Großformat hyperrealistisch nachempfunden, steht im krassen Gegensatz zu seiner Skulptur „Reliquie Veronica Bland“, jenem naturalistisch-expressionistischen Brustportrait, das auf einem einfachen Sperrholzsockel sitzt und an jene Frau erinnert, die in England erfolgreich als erste gegen rauchende Kollegen klagte. Hirschhorns Reliefkollagen der fünf Kontinente, in welchen Alufolie als Grundmaterial diente, stellen gerade in der Gegenüberstellung zu Wang Du in ihrer trashig-poppigen Aussage einen bedenkenswerten Kontrast dar. Auf der einen Seite Perfektion, um das Gefühl eines hochwertigen Kunstwerkes zu vermitteln, auf der anderen Seite bei Hirschhorn ein glitzerndes, materielles Understatement, das bewusst als Konsumkritik eingesetzt wird und als solche auch so verstanden werden soll.

Ein interessanter Themenbereich wurde mit „Erbstücke“ übertitelt und enthält Arbeiten von Künstlern, die sich plakativ oder auch subtil mit der kunsthistorischen Vergangenheit auseinandersetzen. Mathieu Merciers „Etagères“ sind hier zu nennen, schwarze Regale, mit blauen, roten und gelben Objekten darin, die unverzüglich den Bezug zu Piet Mondrians Arbeiten assoziieren. Gleich daneben, nur für aufmerksame Besucher zu sehen, weil im Durchgang an der Decke angebracht, winkt uns ein bunter Stab von Sâadane Afif entgegen, mit einem unüberhörbaren Echo zu den Arbeiten des zu jung verstorbenen Andre Cadere. Viel weiter zurück greift Stéphane Calais mit seinem „L´Herbier d´Etretat“. In seinen freien Pflanzenassoziationen, akkurat mit zarten, schwarzen Linien ausgeführt und zu einem großen Ensemble zusammengefügt, schwingen jene naturwissenschaftlichen Veröffentlichungen nach, die im 17. Jahrhundert in Holzschnitten zusammengefasst, als Lehrwerke die europäischen Gelehrtenstuben erreichten.

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Philippe Ramette, Exploration rationnelle des fonds sous-marins : le contact, 2006, Farbfotografie, 150×120 cm ou 100×80 cm, collection particulière © Philippe Ramette © Adagp, Paris 2010

Richard Vauguet mit seinem Tischtennistisch, an welchem er mit Bällen den Verlauf der Ballkurven optisch nachvollziehbar gemacht hat, Michel Blazy, der mit Hundekuchen und Schweinsohren ein menschliches Skelett nachgebaut hat, Nicolas Moulin, dessen photographisch- fantastische Architekturlandschaften die Betrachter irritieren sind weitere Künstler, die zu Recht in der Ausstellung vertreten sind. Gilles Barbier, Olivier Balnckart, Céleste Boursier-Mougenot, Philippe Ramette ebenso, obwohl die Nennung hier nur eine willkürliche ist, um die Bandbreite der gezeigten Werke kurz aufzulisten. Die Reihe lässt sich noch fortsetzen.

Im ersten Stock gibt es auf Anhieb ein absolutes Aha-Erlebnis. Hier nämlich fügt sich dem Betrachter optisch das Werk von Felice Varini zusammen, das zuvor nur partiell, wenn überhaupt, wahrgenommen wurde. Der geborene Schweizer, der in Frankreich lebt, hat sich vor allem durch seine illusionistischen, großflächigen, perspektivischen Arbeiten im Raum einen Namen gemacht. Diese sind dadurch gekennzeichnet, dass sie, wie er sagt, meist nur von einem einzigen, optimalen Standpunkt aus in ihrer Gänze erkennbar werden. Varinis Arbeit besticht nicht nur durch die intelligente und zugleich einzigartige Nutzung des Raumes, zu der auch ein großes Stück Rechenarbeit gehört, sondern vor allem auch durch eine ganz subtile Metaebene, die sich erst nach und nach erschließt. Sitzt man nämlich im Erdgeschoss des Museums und richtet seinen Blick in die Höhe, sind nur vereinzelte, rote, geometrische Formen zu erkennen, die keinerlei logischen Zusammenhalt ergeben. Schnell vergisst man diese Eindrücke und wandert durch die Säle, um ganz unterwartet dann im ersten Stockwerk wieder auf die roten Versatzstücke zu gelangen. Dieses Mal jedoch zeigt sich die Geometrie – ein rotes Trapez, in dem eine rote Ellipse eingeschrieben ist, in ihrer ganzen Schönheit. Varinis „Ellipse im Trapez“ erfüllt alle Kriterien, die ein großes Kunstwerk ausmachen. Nicht nur, dass es technisch mit einer Präzision ausgeführt wurde, die in der zeitgenössischen Kunst nicht oft zu finden ist. Der auf den ersten Blick so einleuchtende Plakatismus, der ja häufig bei Konkreter Kunst als erstes ins Auge sticht, erhält bei längerem Nachdenken eine philosophische Tiefe, die schier unauslotbar scheint. Die beschränkte Sicht des Menschen auf sein Sein und auf die Zusammenhänge in der Welt gibt als übergeordnete Idee hierzu reichlich Gesprächsstoff angesichts dieses großartigen Kunstwerkes. Längst ist der philosophische Diskurs im Gange, dass der Mensch gar nicht fähig sei, sich ein umfassendes Bild der Realität zu machen – aus vielerlei Gründen. Varinis „Skulptur“ veranschaulicht diese Gedanken aufs Beste. Ganz abgesehen von den wissenschaftlichen Forschungen, die das Große und Ganze in seine kleinsten fassbaren Teilchen zerlegen und die daraus gewonnen Erkenntnisse dennoch nicht die Grundfragen der Menschheit beantworten können. Das Werk beeindruckt dermaßen, dass es verwundert, das der Künstler bis auf die Biennale in Venedig 1988 noch auf keiner größeren Schau zu sehen war. Ein Zeichen, dass sich Konkrete Kunst nur innerhalb eines sehr kleinen Zeitfenster großer Beliebtheit erfreute – wie man an Varinis Beispiel sehen kann sehr zu Unrecht. Besonders erstaunlich ist auch die Tatsache, dass sich die Arbeit in ihrem Original in Privatbesitz befindet, was gleichzeitig bedeutet, dass richtige Kunstsammler sich auch dadurch auszeichnen, dass sie nicht davor zurückscheuen, große Eingriffe in ihren Lebensraum durchführen zu lassen. Und Varinis Arbeit ist wahrlich ein großer Eingriff, den man auf den Abbildungen im Katalog gut nachvollziehen kann.

Wer genug Zeit hat und sich der Videokunst im ersten Stock widmet, erlebt einen spannenden Krimi von Camille Henrot, in welchem eine nur durch einen weißen Grafismus kenntlich gemachte Frau um ihr Leben läuft, oder Filme von Dominique Gonzalez-Foerster, die mit Vertrautem wie der Installation eines Schlafzimmers neben einem Video, gedreht in einer asiatischen Großstadt ebenso lockt, wie mit gesellschaftlichen Massenphänomenen am Strand, aufgenommen von einem erhabenen Standpunkt aus.

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Mathieu Mercier, Drum and bass D-32351, 2004, étagères, papier, enveloppes, bac, 93,5x168x20 cm, collection Klara et Rémy Barbe, Genève. Photo : D.R. © Adagp, Paris 2010

Auch wenn man den puren kapitalistischen Ansatz, den die ADIAF mit ihrer Arbeit verfolgt, spöttisch oder argwöhnisch betrachtet – immerhin werden die Kunstwerke der Sammler ja durch jede Museumsausstellung mehr wert – ist dennoch nicht von der Hand zu weisen, dass das Engagement der Kunstliebhaber sich aufgrund der klugen Aktionen nicht nur für sie selbst, sondern auch für die Künstler in mehrfacher Hinsicht auszahlen. Wenn diese ein Werk verkaufen, das anschließend nicht im privaten Wohnzimmer zu verstauben droht, sondern durch eine aktive Kulturpolitik auch einem größeren Publikum bekannt wird, kann man von einer absoluten Win-win-Situation sprechen, die auch Vorbildcharakter für die Sammlerszene in Deutschland haben könnte.

Was bei dieser Ausstellung auch klar wird, ist, dass einige zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler ihrem Werk heute keine durchgehend wiedererkennbare Handschrift verpassen. Ein Umstand, der seit der Konkreten Kunst, der Minimal Art und der Konzeptkunst zwar schon auf dem Tisch lag, heute aber eine erweiterte Ausformung dadurch erfährt, dass die Kunstschaffenden sich aus allen Kunstbereichen querbeet bedienen und sich für die jeweilige Aussage, die jeweilige Infragestellung einfach das dazupassende Medium und die dazupassende Form suchen, ohne auf Erkennbarkeit zu pochen. Was hier bleibt, ist ein Kunstwerk, das für sich alleine steht, die Urheberschaft beinahe schon verleugnet, oder diese nur mehr von einem kleinen, eingeweihten Zirkel erkennbar ist. Ein Phänomen, das sich erst dann wieder auflöst, wenn die einzelnen Werke in das allgemeine Gedächtnis übergehen, sich dort verankern und mit den jeweiligen Namen versehen werden. Ein Prozess, der Zeit benötigt, der aber auch einige dieser Künstlerinnen und Künstler in Vergessenheit geraten lässt, wenn sie in den kommenden Jahren auf wichtigen Ausstellungen nicht mit einer ständigen, namentlichen Präsenz vertreten sein werden.

Wer Lust auf mehr hat, dem sei die Parallelausstellung im FRAC in Sélestat empfohlen. Ein Ausflug dorthin lohnt sich allemal und eines vorweg: Die dort präsentierten Kunstwerke gehen unter die Haut!

Musikdemokratie trifft auf BühnentranceQuand la démocratie musicale rencontre la transe scénique

Musikdemokratie trifft auf BühnentranceQuand la démocratie musicale rencontre la transe scénique

07.11 Fat Kid Wednes4B38A7

Fat Kid Wednesday (c) dr

Mit Fat Kid Wednesday sowie dem Hélène Labarrière Quartett erlebte das Jazzdor-Publikum einen Konzertabend der Gegensätze

Jazz aus Minneapolis auf der Bühne des Pôle-Sud in Straßburg. Wahrlich ein rares Ereignis. Im Rahmen des Jazzfestivals Jazzdor trat die Gruppe Fat Kid Wednesday in Straßburgs Avantgarde-Kulturzentrum auf und zeigte den so demokratiebewussten Franzosen, was demokratischer Jazz ist. Selten trifft man auf eine so ausgewogene Formation wie dieser. Michael Lewis am Saxophon, Adam Linz am Bass und JT Bates am Schlagzeug kamen völlig paritätisch zum Einsatz, gestalteten ihre Soli mit persönlichstem Ausdruck und harmonierten vor allem in ihrem grandiosen Zusammenspiel. Das körperbetonte Spiel von Lewis schlägt sich in einem klaren, metallenem Ton nieder, der immer voll kontrolliert erscheint. Die feinfühlige Percussionperformance von Bates, der extrem gut zuhört, sich zurücknimmt, wo es nötig ist und Gas gibt, wo er darf und die lebensbejahende Agitation von Linz am Bass waren nicht nur ein Hörerlebnis, sondern auch ein Augenschmaus. Ob in fast auskomponierten Stücken oder größtenteils frei improvisierten, ob in leisen, lyrischen, in welchen der Schlagzeuger keinen Teil seiner Drums vergaß anzutippen, oder in Partien, in welchen sie richtig Gas geben und sich gegenseitig hochpushen – immer ist es die Ausgewogenheit, die fasziniert; an diesem Abend auch die extrem gute Bearbeitung des Mischpultes! Die häufigen und logisch eingebauten Soli, die nicht, wie sonst gerne, rein zur Vorstellung der Bandmitglieder dienen, zeigten am besten, welch schillernde Musikerpersönlichkeiten sich hier zusammengefunden haben. Klarerweise ist es auch die bereits über 10jährige Zusammenarbeit, welche hier in der Qualität zum Tragen kommt. Klarer, reiner Jazz mit Ohren schmeichelnden, witzigen, atemberaubenden und träumerischen Impressionen – mehr braucht man nicht, um glücklich zu sein. You did a great job, guys!

07.11 Hélène Labarrière Quartet par Hélène Collon

Hélène Labarrière Quartett (c) Hélène Collon

Als Kontrastprogramm gab es im zweiten Teil des Abends das Hélène Labarrière Quartett zu hören. Die französische Ausnahmebassistin, die letzes Jahr beim Festival Jazzdor einen Soloauftritt gestaltete, zeigte mit dieser Formation eine gänzlich andere musikalische Seite. Was sie, Hasse Poulsen an der Gitarre, François Corneloup am Baritonsaxophon und Christophe Marguet am Schlagzeug produzierten, waren dichte, pulsierende, manches Mal zum Bersten übervolle Klangwolken und Klangwellen, vor denen so mancher aus dem Publikum flüchtete. Wer jedoch Stand hielt wurde belohnt mit furiosen Soli, trashigen Free-Jazz-Passagen bis hin zu offenkundigen tranceähnlichen Zuständen oder dem wahrhaft atemberaubenden Durchhaltevermögen von Corneloup. Über Minuten einen einzigen Ton im Sekundentakt immer wieder und wieder anzublasen und damit dem Stück ein unumstößliches Grundgerüst zu geben, war nur eine herausragende Leistung. Labarrières Qualitäten zeigten sich nicht nur in ihrem eigenen, so charakteristischen Spiel, das sich durch vor allem durch komplizierte, aber dennoch unglaublich gut anzuhörende Klanglinien und deren furiosen Improvisationen auszeichnet. Christophe Marguet, der tags zuvor mit seinem eigenen Quintett aufgetreten war, agierte unter ihr wesentlich sensibler und musikalisch ausgereifter und hatte offene Ohren für seine Kollegen. Und das, obwohl der Großteil der Kompositionen unter Vollstrom gespielt wurde. Die Inspiration von weiblichem Feingefühl tut diesem Musiker sehr gut. Hasse Poulsen, der auch gerne solistisch als Troubadour unterwegs ist, konnte sich an diesem Abend von seiner eher harten Jazz-Rock-Seite präsentieren. Wer dieses Konzert verfolgte weiß nun: Die Jazz-Rebellion lebt, dass man sie ausgerechnet in Straßburg findet, ist nur dank Jazzdor keine Überraschung.

07.11 Fat Kid Wednes4B38A7

Fat Kid Wednesday (c) dr

Une soirée de tous les contrastes attendait le public du Jazzdor : Fat Kid Wenesday et le Hélène Labarrière quartette.

Du Jazz de Minneapolis sur la scène du Pôle-Sud à Strasbourg, c’est un évènement rarissime. Dans le cadre du festival de jazz «Jazzdor», organisé au centre de culture d’avant-garde de Strasbourg, le groupe Fat Kid Wenesday a montré aux Français, ce peuple de fervents défenseurs de la démocratie, ce qu’est du Jazz démocratique.

Un ensemble aussi équilibré que celui-ci est difficile à trouver : les parts de Michael Lewis au Saxophone, d’Adam Linz à la basse, et de JT Bates à la batterie étaient parfaitement équilibrées. Chaque solo des musiciens était caractérisé par une expression très personnelle, l’harmonie de l’ensemble était grandiose.
Le jeu physique de Lewis se traduisait par un son clair, métallique qui semblait contrôlé à tout moment. La performance de Bates aux percussions était d’une grande sensibilité. Il était parfaitement à l’écoute de ses complices, se contenait quand il fallait et mettait le turbo quand c’était possible. Linz était à la basse avec une joie de vivre indéniable : une délectation pour les oreilles ET les yeux.
Quelque soit le morceau joué, l’équilibre reste toujours parfait qu’il s’agisse de morceaux écrits ou d’improvisations presque totalement libres, que ce soient des passages doux, lyriques pendant lesquels le batteur n’oublie aucun élément de ses percussions ou bien que ce soit à l’occasion de mouvements accélérés où ils se motivent les uns les autres.
Le traitement à la table de mixage était remarquable.
Les solos fréquents et bien à leur place ne servaient pas seulement à la présentation des membres de l’ensemble comme c’est souvent le cas, mais ils permettaient en quelque sorte à illustrer les différentes personnalités musicales scintillantes à la base de la formation de cet ensemble d’exception. Bien entendu, pour atteindre une telle qualité dans le jeu collectif, une collaboration d’une dizaine d’années a été nécessaire : elle a porté ses fruits. Du Jazz clair et pur aux impressions flatteuses, drôles, rêveuses qui parfois coupent le souffle, il n’en fallait pas plus pour se sentir parfaitement heureux.
You did a great job, guys!

07.11 Hélène Labarrière Quartet par Hélène Collon

Hélène Labarrière quartet (c) Hélène Collon

Un programme final aux antipodes de la première partie a achevé cette soirée: On a pu apprécier le quartette Hélène Labarrière qui a été présente l’année dernière au Jazzdor Festival avec une performance « solo ». Avec sa formation (Hasse Poulsen à la guitare, François Corneloup au saxophone baryton et Christophe Marguet à la batterie) la contrebassiste d’exception a montré un coté musical totalement différent comparé à la première partie de soirée : le quartet a produit des nuages de sons et des vagues sonores, denses et pulsants qui, par moment, semblaient vouloir éclater. Quelques auditeurs ont fini par prendre la fuite. Ceux qui ont tenu le coup, en revanche, ont été récompensés avec des solos furieux, des passages « trash » de free-jazz poussés jusqu’aux états proches de la transe. De plus, les «courageux» eurent l’occasion d’admirer l’endurance incroyable de Corneloup. Ce saxophoniste fut notamment remarquable dans les passages pendant lesquels il souffla plusieurs minutes un ton unique, donnant ainsi une structure indestructible au morceau.
La qualité de la performance de Labarrière s’est manifestée d’une part au travers son jeu si caractéristique et d’autre part dans des lignes de sons extrêmement compliquées mais très agréables à écouter et magistralement improvisées.
Christophe Marguet s’était produit la veille avec son propre quintet. Ce soir, son jeu était beaucoup plus sensible et musicalement plus mature que la veille. Il était davantage à l’écoute de ses collègues musiciens, bien qu’une grande partie de la composition fût jouée sous haute tension ! Ce musicien a profité de toute évidence de l’inspiration et de la sensibilité féminine d’Hélène Labarrière.
Hasse Poulsen, qui aime à jouer les troubadours à ses heures, s’est présenté sous un jour plutôt jazz-hard-rock.

Ceux qui ont assisté à ce concert peuvent maintenant être sûrs d’une chose: la rébellion du jazz est en marche. Qu’on l’ait rencontrée précisément ici à Strasbourg, n’est pas une surprise : mais uniquement grâce à Jazzdor !

Texte traduit de l’allemand par Andrea Isker

Simon Boccanegra – das Leben ist ein Labyrinth – Simon Boccanegra – la vie est un labyrinthe

Simon Boccanegra – das Leben ist ein Labyrinth – Simon Boccanegra – la vie est un labyrinthe

SIMON 1 photo Alain Kaiser

Simon Boccanegra à Strasbourg (c) Photo: Alain Kaiser

Keith Warner, einer der wichtigsten britischen Regisseure, ist derzeit in Straßburg mit seiner Inszenierung von Simon Boccanegra zu sehen. Marc Clémeur hat Warner eingeladen, Giuseppe Verdis Oper an der Opéra national du Rhin zu inszenieren und fügte mit dieser Aufführung eine weitere Perle in die Kette der Produktionen unter seiner Direktion hinzu.

Man möchte meinen, Clémeur sucht die Partner seiner Neuinszenierungen wie mit einem Magnet, welches die berühmten Stecknadeln aus dem Heuhaufen fischt. So passgenau fügt sich eine Aufführung an die nächste, dass man, würde man die Produktionen nicht live mitverfolgen können, dennoch erahnen können, dass sie alle in Straßburg stattgefunden haben. Richard III, Jenufa oder Macbeth, um nur einige Neuinszenierungen der letzten Saison zu nennen,  gingen Verdis Boccanegra bereits voraus. Sie alle waren gekennzeichnet durch eine stringente, spannende Reduktion des Bühnenbildes und einer tiefen Persönlichkeitsanalyse der darin vorkommenden Personen.

Exakt dasselbe Rezept verfolgt Warner in seiner Interpretation rund um das Leben und Sterben des einstigen Dogen von Genua. Aus Korsika stammend gelang es Boccanegra mithilfe von Ränke schmiedenden Freunden die Wahl zum Dogen zu gewinnen, allerdings nicht sein persönliches Glück zu finden. Die Ironie des Schicksals will es, dass sein Erzfeind – Jacopo Fiesco – zugleich der Großvater Boccanegras Tochter, diese in Unwissenheit ihrer familiären Zugehörigkeit aufzieht, während er seinem vermeintlich verschollenen Enkelkind nachtrauert. Die in sich verschlungene Geschichte, die Verdi ganz bewusst so gesetzt hat, dass viele sie nicht auf Anhieb verstehen, verweist auf Lebenserfahrungen vieler Menschen, quer durch alle Zeiten. Vieles, was uns einmal klar und deutlich erschien wird im Laufe unseres Lebens bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, ins Gegenteil verkehrt oder gerät in Vergessenheit. Simon Boccanegra, jene Oper, die oftmals auf politische Aussagen reduziert wird, verliert bei Warner zwar nicht ganz diesen Bezug, stellt ihn jedoch zumindest nicht in den Mittelpunkt. Was ist Macht, wie wird sie gestürzt und wieder inthronisisert aber vielmehr noch, wie geht es den Menschen dahinter damit? Haben sie ein Recht auf ein persönliches Leben, abseits ihrer Pflichten und sind sie fähig zu erkennen, dass Menschenleben in ihren Händen liegen?  All das sind tiefgreifende Lebensfragen, die sich nicht nur die Mächtigen auch unserer Zeit stellen, sondern auch all jene stellen müssen, die an Schnittstellen agieren, die sie mit diesen Mächtigen verbinden. Und all das sind Fragen, die Warner in Zusammenhang mit Simon Boccanegra aufwirft. Paolo  Albiani, mit kraftvoller Stimme von Roman Burdenko verkörpert, der einstige Freund Boccanegras, der zum Schluss sein schlimmster Feind wird, kann seine vermeintliche private Niederlage nicht von seiner Position trennen, die es ihm erlaubt, ganz nah am Machtzentrum zu agieren. Verdis Figuren sind in dieser Oper nicht schwarz-weiß angelegt. Sie agieren, je nach Verfassung und Zeit so, wie es ihnen möglich ist zu agieren. Sie hassen und sie lieben zugleich, sie schwören Treue und scheuen sich nicht, Menschen umzubringen, sie verdammen und begnadigen und zeigen so, jeder auf seine Art und Weise klar und deutlich, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.

Das von Boris Kudlicka entworfene Bühnenbild, das sich mit den Kostümen perfekt verschränkt, entführt in das Italien des 15. Jahrhunderts genauso wie in ein architektonisch puristisches Szenario unserer Zeit. Graue Businessanzüge und Renaissancekostüme stehen in trauter Zweisamkeit nebeneinander, getragen von Menschen, deren Sehnsüchte, Hoffnungen, deren Liebe und Hass über die Jahrhunderte gleich geblieben zu sein scheinen. Der Thron von Boccanegra und jener der Grimaldis, einem verfemten Geschlecht – diese beiden auf ein Minimum geschrumpften Schemel, die wie kleine, zeitgenössische Skulpturen wirken und anfänglich unterschiedliche Farben aufweisen, erstrahlen in jenem Moment in derselben Farbe und im selben Licht als Boccanegra seine verloren geglaubte Tochter Maria wieder erkennt. Dies ist ein Beispiel für die beredte Bildersprache Warners, der er sich gerne bedient. Der Palast Fiescos, zu Beginn über und über geschmückt mit den Fresken Pierro della Francescas aus der Camera degli sposi aus Mantua, verliert allmählich seine malerische Pracht, bis schließlich nichts mehr davon übrig bleibt. Fiesco sowie Boccanegra haben sich beide im Laufe ihres Lebens so verändert, dass nichts an ihnen an ihren einstigen Glanz erinnert. Doch in all ihrer Erbärmlichkeit, Hilflosigkeit und Desillusionierung werden sie dennoch erwärmt von einem inneren Glanz. Einer inneren Größe, die ihnen hilft zu verzeihen und es ihnen ermöglicht, die Macht geordnet an die nächste Generation zu übergeben.

Simon Boccanegra, jenes für Verdi in mehrerer Hinsicht nicht wirklich typsiche Werk, das dennoch voll ist von wunderbaren, wenngleich auch nur kurzen Belcantopassagen, verzaubert in  Straßburg aber nicht nur aufgrund der gelungenen Inszenierung. Vor allem ist es die stimmliche Besetzung, die fast durchgehend überzeugt. Sergey Murzaev als Boccanegra und Michaeil Ryssov als Fiesco stehen sich ebenbürtig an der Spitze des Ensembles gegenüber. Der Bariton und der Bass agieren sowohl in ihren rasenden als auch in ihren lyrischen Passagen stets ausdruckskonform und erhielten durch den lang andauernden Applaus ihre berechtigte Publikumsbestätigung. Andrew Richards mit seinem hellen und klaren Tenor verweist wunderbar in die von Licht erfüllte Zukunft. Mit seinen langen Haaren und seinem kurzen, gepflegten Bart sowie seinem schlichten und dennoch im letzten Bild prächtigen Gewande erinnert er sehr an die Jesus-Darstellungen der Nazarener im 19. Jahrhundert. Zufall? Nuccia Focile als Maria, die der männlichen Phalanx versucht stimmlich die Stirne zu bieten, verkörpert glaubwürdig jene junge Frau, die als Kind durch den Tod ihrer Ziehmutter traumatisiert, später erkennen muss, dass ihr nobler Geliebter gleichzeitig den Keim eines Verräters in sich trägt.

Das symphonische Orchester von Mulhouse unter der Leitung von Rani Calderon agiert über weite Stellen der Partitur entsprechend beinahe kammermusikalisch. Calderon verweigert den Streichern fast jegliches Vibrato und begleitet die Sängerinnen und Sänger mit dem Klangkörper nur an wenigen Stellen romantisch. Dies tut der Aufführung jedoch gut, unterstreicht doch die Musik die Inszenierung von Warner perfekt. Seht und hört: Lasst Euch leiten von Eurem  Wissen, aber vergesst an den wichtigen Stellen in Eurem Leben nicht auf die Menschlichkeit!

Weitere Aufführungen und Infos unter: www.operanationaldurhin.eu

SIMON 1 photo Alain Kaiser

Simon Boccanegra à Strasbourg (c) Photo: Alain Kaiser

Keith Warner, l’un des plus importants metteurs en scène britanniques du moment, a mis en scène Simon Boccanegra, actuellement à l’affiche à Strasbourg. Marc Clémeur a invité Warner afin que ce dernier mette en scène cet opéra de Verdi à l’Opéra National du Rhin. Cette représentation est une nouvelle perle à ajouter au collier des productions montées sous la direction de Clémeur.

Les productions se succédant les unes aux autres avec une précision inégalable, on a presque l’impression que Clémeur trouve les partenaires pour ses entrées au répertoire comme on déniche une aiguille dans une botte de foin à l’aide d’un aimant. Tant et si bien que même si on n’avait pas l’occasion de voir toutes les représentations, on serait parfaitement capable de deviner qu’elles ont été créées à Strasbourg. Richard III, Jenůfa ou Macbeth, pour nommer quelques entrées au répertoire de la dernière saison, ont précédé Boccanegra de Verdi. Elles étaient toutes, sans exception caractérisées par un décor minimaliste et concluant ainsi que par une analyse profonde des différents caractères.

Warner a appliqué exactement le même principe dans sa mise en scène de cette œuvre qui raconte la vie et la mort de l’ancien doge de Genève. Originaire de Corse, Boccanegra, avec l’aide de quelques amis complotants, a réussi à gagner l’élection pour devenir doge. Mais cette victoire politique ne fait pas son bonheur. Ironie du sort, Jacopo Fiesco, l’ancien ennemi mortel de Boccanegra élève la fille de ce dernier. Il se trouve qu’il est le grand-père de la jeune fille mais il  ignore les liens familiaux qui les lient et porte toujours le deuil de cette petite fille qu’il croit disparue. Verdi a volontairement rendu cette histoire très compliquée. D’ailleurs, beaucoup de gens ne la comprennent pas immédiatement.

Elle raconte les expériences que font les hommes en traversant différentes périodes de leur vie. Des choses qui peuvent paraitre si claires à un certain moment sont déformées au fil de temps et deviennent parfois méconnaissables. Parfois, notre mémoire les transforme totalement ou les nie en les oubliant. Très souvent, cet opéra est réduit à sa simple teneur politique. Chez Warner, l’œuvre garde bel et bien cet aspect politique, mais son intérêt principal n’est pas là: qu’est le pouvoir, comment le renverse-t-on, et comment le remet-on en place ? Et surtout, de quelle façon les hommes gèrent ce pouvoir qu’ils détiennent ?  Le devoir leur permet-il d’avoir une vie personnelle ? Sont-ils conscients d’avoir des vies humaines entre leurs mains ? Ce sont des questions de vie, des questionnements profonds, qui ne se posent pas que pour les hommes politiques directement en charge de l’administration d’un pays. Ces questions se posent aussi à ceux qui occupent des positions charnières qui les relient aux décideurs. Warner pose toutes ses questions en rapport avec Simon Boccanegra.

Paolo Albiani, chanté par Roman Burdenko avec une voix puissante, est d’abord un ami de Boccanegra. A la fin de la pièce, il est le pire de ses ennemis. Il n’arrive pas à faire la différence entre la soi-disant défaite dans sa vie privée et sa position officielle qui est très proche du pouvoir.

Les personnages de l’opéra de Verdi ne sont ni tout blancs ni tout noirs. Au contraire : ils agissent selon leurs possibilités, en fonction du temps et de leur état respectif. Ils aiment et haïssent en même temps, ils jurent fidélité éternelle et n’ont pas peur de tuer. Ils condamnent et gracient et ils montrent très clairement, chacun à sa façon, ce que cela signifie que d’être un homme.

Le décor est signé Boris Kudlicka. Il forme un accord parfait avec les costumes et emmène le spectateur aussi bien dans l’Italie du 15e siècle que dans un environnement d’une grande pureté architecturale contemporaine. Des complets gris de businessman côtoient des costumes de renaissance. Ces tenues sont portées par des hommes, dont les désirs, les espoirs, dont l’amour et la haine n’ont pas changé à travers les siècles. Le trône de Boccanegra et celui des Grimaldi ressemblent à des tabourets miniatures qui rappellent de petites sculptures contemporaines. Initialement, ils sont de couleurs différentes. Mais au moment même où Boccanegra reconnaît sa fille qu’il croyait disparue, les trônes ont des couleurs identiques. C’est un exemple illustrant le langage des images chez Warner. Au commencement, le palais de Fiesco est richement orné par des fresques de Pierro della Francesca de la Camera degli sposi de Mantoue. Au fil du temps, cette splendeur petit à petit disparait,  jusqu’à ce qu’il n’en reste plus rien. Fiesco et Boccanegra ont beaucoup changé au cours de leur vie. Plus rien ne rappelle leur passé resplendissant. Mais dans leur misère, dans leur impuissance et dans leur désillusion, ils sont comme éclairés de l’intérieur. Une grandeur intérieure leur permet de pardonner et de transmettre le pouvoir de façon ordonnée à la génération suivante.

« Simon Boccanegra », cette œuvre un peu atypique pour Verdi, comporte un grand nombre de courts passages de Belcanto. Le spectacle de Strasbourg est un véritable enchantement: non seulement grâce à la mise en scène parfaitement réussie, mais aussi grâce à la superbe distribution vocale plus que convaincante. A la tête de l’ensemble, Sergey Murzarev dans le rôle de Boccanegra et Michael Ryssov dans celui de Fiesco, sont du même niveau. Le baryton et le basse ont une prestation aussi bonne dans les passages rapides que pendant les passages lyriques, leur expression correspond parfaitement au livret. Les ovations enthousiastes du public sont justifiées. Le ténor clair et limpide d’Andrew Richards est en même temps le merveilleux symbole d’un avenir plein de lumière. Andrew Richards porte les cheveux longs et a une courte barbe soignée. Sa tenue est simple et, dans le dernier tableau, magnifique. Ce personnage nous rappelle les peintures de Jésus par les Nazaréens. Du pur hasard ?

Nuccia Focile dans le rôle de Marie essaie de faire vocalement face à ses partenaires masculins. Elle est convaincante dans son interprétation de la jeune femme traumatisée dans son enfance par la mort de sa belle-mère. Plus tard, elle doit se rendre à l’évidence que son noble amoureux peut également être un traitre.

L’Orchestre Symphonique de Mulhouse, sous la direction de Rani Calderon, joue de longs passages en suivant la partition comme s’il s’agissait d’une musique de chambre. Calderon interdit pratiquement tout vibrato aux instruments à cordes. L’accompagnement des cantatrices et chanteurs ne prend que rarement des inflexions romantiques. Mais cela va  le sens de la représentation et souligne parfaitement la mise en scène de Warner : Regardez et écoutez ! Laissez-vous guider par votre savoir, mais aux moments clé de votre vie n’oubliez pas d’être humains !

Vous trouvez d’autres renseignements en suivant le lien : www.operanationaldurhin.eu

Texte traduit de l’allemand par Andrea Isker

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