Musik für feine Ohren

Musik für feine Ohren

Musiciens du Louvre 01@credit elisabeth.carecchio

Les musiciens du Louvre - Grenoble (c) Elisabeth Carecchio

Am Samstag dem 22. Januar gastierte auf Einladung des OPS das Orchester „Les Musiciens du Louvre – Grenoble“ zum ersten Mal in Straßburg. Unter ihrem Leiter Marc Minkowski spielten die Musikerinnen und Musiker „Une symphonie imaginaire“ von Jean-Philippe Rameau, sowie das 3. 4. und 5. Brandenburgische Konzert von Johann Sebastian Bach.

Das auf Barockmusik spezialisierte Ensemble wurde von Minkowski 1982 gegründet. Es spielt auf historischen Instrumenten bzw. deren Nachbauten und ist international nicht nur in Konzertsälen gefragt, sondern wird auch in große Opernhäuser eingeladen. Im Oktober vergangenen Jahres wurde Minkowski sogar die große Ehre zuteil, mit seinen Künstlerinnen und Künstlern als erstes hausfremdes Orchester in der Wiener Staatsoper Händels Alcina zu spielen.

„Les Musiciens du Louvre“ eröffnen ein höchst diffiziles Klanguniversum, in das man in einem großen Saal wie dem Saal Erasme mit gut gespitzten Ohren förmlich eintauchen musste, um sich keine der tonalen Feinheiten entgehen zu lassen.

Mit sichtbar großem Enthusiasmus gab Minkowski vorweg eine erklärende Einleitung zur Symphonie von Rameau, die keine Symphonie im herkömmlichen Sinne darstellt. Sie ist vielmehr eine Zusammenstellung, so etwas wie ein „best of“ von Rameau, von welcher auch eine Einspielung bei der Deutschen Grammophon vorliegt. Darin finden sich unter anderen Stücke aus Rameaus Opern und Balletten wie Platée, Les Indes galantes, Les Fêtes d´Hébé oder Zais.  Die Aufzählung ist unvollständig und soll nur einen kleinen Eindruck vermitteln, worin der Schwerpunkt der ausgewählten Musikstücke liegt. Minkowsik wählte mit Bedacht ein so berührendes Thema wie jenes der Beerdigung von Castor, der seinen Zwillingsbruder Pollux untröstlich auf dieser Welt zurücklässt. Oder aber das feurige Rondeau aus „Les Indes galantes“, in welchem die Trommelbegleitung die kräftigen Rhythmen indianischer Tänze imitieren. Einige wohl bedauernswerte Geschöpfe indigener Herkunft wurden im 18. Jahrhundert im Zuge der französischen Kolonialbestrebungen tatsächlich in Paris einem staunenden Publikum vorgeführt und Rameau nahm in seiner Komposition direkten Bezug auf die damalige Entdeckung der neuen Welt. Wunderschön, wie er er darin die Wiederholung des Themas so leise erklingen lässt, dass das darauf gesetzte Fortissimo des Schlusses noch brillanter und mitreißender erscheint, als es schon in der ersten Vorstellung des Themas zu hören war. Zugleich kann dies als herrliches Beispiel der hohen Musikalität aller Mitwirkenden gelten. Nicht nur einmal waren so scharfe Dynamikwechsel hörbar, mehrfach glaubte man auch, dass die Grenze zum beinahe Unhörbaren erreicht sei.

Die historische Aufführungspraxis – die Geigen mit verkürztem Bogen zu spielen oder die Celli ohne Stachel einzusetzen und sie nur zwischen den Beinen festgeklemmt zu führen, führte akustisch absolut zum Erfolg. Selten sieht und hört man so lebendige Celloparts und nie vermisst man das für unsere Ohren so bekannte Geigenvibrato. „Das Huhn“ – eines von Rameaus bekanntesten Stücken für Cembalo war in einer Bearbeitung für Orchester zu hören – und das Schöne daran, es verlor darin nichts von seinem aufgeregten Gegacker. Und Platée, der selbstverliebte Frosch, durfte sich über ein zünftiges Gewitter mit Windmaschine freuen, das endlich seine heiß ersehnten Wassertropfen auf die Erde klatschen ließ. All das wurde zum Greifen nahe hörbar und zur großen Freude des Publikums gab es schon vor der Pause als schwungvolle Zugabe – die Wiederholung des Rondeaus aus „Les Indes galantes“.

Der zweite Teil des Konzertes war den Brandenburgischen Konzerten gewidmet. Die für jeweils nur wenige Instrumentalstimmen komponierten Konzerte machten besonders deutlich, worin der Reiz und der Charme der alten Instrumente liegt. Die hölzerne Querflöte gab das beste Beispiel, wie anders sie im Klang auftritt als ihre metallenen Geschwister der späteren Generationen. Ihrem dynamischem Umfang müssen sich alle anderen Instrumente unterordnen, wenn sie nicht akustisch untergehen will. Daraus ergab sich im Konzert Nr. 5 eine herrliche, kammermusikalische Interpretation, in der die Musikerinnen und Musiker in jedem einzelnen Takt aufeinander größten Bedacht nahmen. Der Solocembalopart, der im zweiten Satz dieses Konzertes vorkommt und oft als „mechanisches Bravourstück“ erklingt, wurde von Francesco Corti dermaßen intelligent gespielt, dass man die einmalige Gelegenheit geboten bekam, Bachs Verständnis und Liebe für dieses Instrument nachzuvollziehen. Nicht allein die bewundernswerte Virtuosität ist hervorzuheben, sondern viel mehr noch die lebendig atmende und facettenreiche Herangehensweise des Cembalisten an den Notentext. Kaum merkliche Verzögerungen, mannigfache Trillerfarben oder das Setzen von kleinen Höhepunkten innerhalb des musikalischen Flusses bereicherten das Werk unglaublich. Ein großes Bravo für diese herrliche Aufführung! Nicht weniger erfreulich agierte der erste Geiger, Thibault Noally, der in allen Konzerten nicht nur Stütze für die anderen Streicher war, sondern verdeutlichen konnte, dass wirklich gute Solisten niemals im Widerspruch zu einer kammermusikalisch ausgewogenen Spielweise auftreten. Beide Vorzüge waren an ihm perfekt zu studieren.

Ein medizinischer Notfall im Publikum während des ersten Konzertteiles und der kuriose Abbruch des Konzertes Nr. 3 schon nach den ersten zwei Takten, falsch aufgelegten Noten des ersten Bratschisten geschuldet, zeigten, dass Lebendigkeit und Betroffenheit an einem Konzertabend auch ganz andere Ursachen haben kann als nur musikalische. Chapeau an dieser Stelle an den Direktor des Hauses, Herrn Minard, der mit dem Dirigenten während des Arzteinsatzes kompetent coram publico kommunizierte und dabei in passender Art und Weise seine persönliche Betroffenheit und Verantwortlichkeit zeigte. Das Publikum durfte dabei Zeuge einer Menschlichkeit werden, die man heute an anderer Stelle leider nur allzu oft vermisst.

Lebendiges im Museum – Du vivant au musée

Lebendiges im Museum – Du vivant au musée

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Joanne Leighton "Made in Strasbourg" (c) Nicolas Dautier

Das Straßburger Veranstaltungszentrum Pôle-Sud trat am 5. Dezember an einem ungewöhnlichen Ort mit einer Tanzpremiere vor das Publikum. Das MAMCS, das „Musée d´art moderne et contemporain de Strasbourg“ war der ideale Austragungsort für Joanne Leightons Arbeit „Made in Strasbourg“, die sie gemeinsam mit dem CCN de Franche-Comté à Belfort erarbeitet hatte. Die belgisch-australische Tänzerin und Choreografin war schon zum wiederholten Male in der Europastadt zu Gast und konnte als „artist in residence“ im Pôle-Sud ihre neueste Arbeit vorbereiten.
Dazu hatte Pôle-Sud im Sommer einen Aufruf gestartet, in welchem 99 Einwohner von Straßburg eingeladen wurden, an dieser Tanzproduktion aktiv teilzunehmen. Die Choregrafin schuf mit diesen Laien und fünf ihrer Tänzerinnen und Tänzer ein Werk, das mit räumlichen und sozialen Bezügen zur Stadt Straßburg aufwartete, aber auch nicht mit Querverweisen zum Tanz und zur bildenden Kunst sparte. Unter ihrer Federführung gelang es, diese 99 Amateure zu einer unglaublich homogenen Truppe zusammenzuschweißen, die mit ihrer beachtenswerten Leistung im Museum ein begeistertes Publikum fanden.

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Joanne Leighton "Made in Strasbourg" (c) Nicolas Dautier

Der Aufführungsort war so gewählt, dass die meisten Besucherinnen und Besucher vom ersten Stockwerk aus auf die Performance herabblicken konnten. Dies bedeutete auch, dass die Choreografie auf große Strecken hin auf diese Fernsicht ausgerichtet war. Von einer eindimensionalen Choreografie kann nicht die Rede sein, wenn man die tänzerische Umsetzung beschreiben möchte. Vielmehr könnte man Leightons Ideen mit einer Kette von bunten Glasperlen vergleichen, die sich zwar auf den ersten Blick wie im Zufallsprinzip ausgewählt, aneinander zu reihen scheinen, sich aber in der Fernsicht als harmonisches Ganzes zu einem einzigartigen Schmuckstück zusammenfügen.
Schon zu Beginn arbeitete sie mit starken Bildern. Wie Fisch- oder Vogelschwärme ballten sich die Menschen im Gehen und Laufen zusammen, zogen sich auseinander, bildeten Wirbel, um danach wieder in Reih und Glied am Rand des rechteckig markierten Tanzgeländes Aufstellung zu nehmen. Diesen organisch inspirierten Formationen folgten gänzlich andere. Körper, die sich auf den Boden legten, zu einem riesigen Dreieck, von oben gesehen. Körper, die in einer Pose erstarrten, gleich lebendigen Skulpturen. Der Bezug zum Museum, zum Ort des Geschehens, lag sofort auf der Hand. Dann wieder Choreografiewechsel. Ein einfacher Walzer wurde von Leighton ganz neu interpretiert. Zu zweit wurden kleine Schrittfolgen wiederholt, die auf die Einnahme einer bestimmten, eingefrorenen Position hin erarbeitet wurden, und sich nicht mit einer räumlichen Fortbewegung im Dreivierteltakt beschäftigten. Eine höchst amüsante neue Variante, eines alten, tänzerischen Themas. Das von Band eingespielte Soundmaterial wechselte unmerklich, von einer donnernden Gewitterstimmung zu Beginn, über verfremdete, kaum noch erkennbare Musik, bis hin zu akustischen Bruchstücken, die den Akteuren und den Besuchern genügend Raum für Eigeninterpretationen boten. Die Kreisanordnungen, aus welchen die in die Mitte gestreckten Arme nach oben schossen, erinnerten mit manch anderen Figuren stark an jene Ballchoreografien, die anlässlich der großen Faschingsbälle in Österreich alljährlich einstudiert werden. Vielleicht gar nicht beabsichtigt, zeigt dies doch, wie sehr weltweit ein sich ähnelndes Tanzrepertoire verwendet wird, wenn mit einer großen Menschenanzahl gearbeitet wird. Immer wieder sprach Leighton auch das Phänomen der Massengesellschaft an. Die Einsamkeit in der Masse, das Wiedererkennens oder die Gleichschaltung von Bewegungen, aber auch der Versuch, daraus auszubrechen, sich darin doch näher zu kommen, oder die Masse anzuführen – all diesen Aktionen widmeten sich die Tänzerinnen und Tänzer in raumgreifenden, abwechslungsreichen Bildern. Die ständigen Pendelbewegungen zwischen gesellschaftlichen Momentaufnahmen, menschlichen Interaktionen, Bezügen zum Museumsort und der Stadt, sowie den Querverweisen zu Tanz und bildender Kunst war das, was der Aufführung Spannung verlieh. So gelang es tatsächlich, das Publikum 40 Minuten mit dem Geschehen, hauptsächlich von Laien ausgeführt, zu fesseln. Intellekt und ästhetisches Empfinden kamen dabei gleichermaßen zu ihrem Recht. Ein Umstand, für den Leighton vor den Vorhang gehört.

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Joanne Leighton "Made in Strasbourg " (c) Nicolas Dautier

Die zum Schluss einstudierte Klatschorgie des Ensembles sorgte für allgemeines Schmunzeln und darf getrost als kleine Zugabe aufgefasst werden. Ein Erlebnis, das nicht nur der Kunst, sondern auch der zwischenmenschlichen Verständigung diente – offener kann man die Türen zum vermeintlichen „Kunstgral“ wahrlich nicht gestalten.

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Joanne Leighton "Made in Strasbourg" (c) Nicolas Dautier

Le centre de manifestations « Pôle-Sud » a proposé à son public une première de danse à un endroit peu habituel. Celle ci eut lieu au MAMCS, « Musée d’art moderne et contemporain de Strasbourg », un endroit parfait pour présenter le travail « Made in Strasbourg »: une création de la chorégraphe Joanne Leighton en collaboration avec le CCN de Franche-Comté à Belfort. La danseuse et chorégraphe belgo-australienne a déjà été invitée à plusieurs reprises dans la ville européenne. Cette fois-ci elle a la possibilité d’élaborer au Pôle-Sud son dernier projet en tant que «artiste résident ».

Pendant l’été, le Pôle-Sud avait fait appel à la population strasbourgeoise pour inviter 99 habitants à participer activement à cette production de danse. Avec ces 99 amateurs ainsi qu’avec cinq de ses danseuses et danseurs, Joanne Leighton a créé une œuvre ayant des rapports géographiques et sociaux à la ville de Strasbourg, tout en faisant référence à la danse et aux beaux-arts.

Sous sa direction, les 99 danseurs amateurs ont fini par former un ensemble incroyablement homogène qui a enthousiasmé le public par sa prestation remarquable. La « scène » avait été choisie de telle sorte que la plupart des visiteuses et visiteurs aient la possibilité d’observer la performance à partir du premier étage. Pendant de longs passages, le choix de la chorégraphe tint compte de l’éloignement du public.

Si l’on veut décrire cette transposition, on ne peut en aucun cas parler d’une chorégraphie unidimensionnelle. On serait plutôt bien inspiré de comparer les idées de Leighton à une sorte de collier de perles de verre multicolores. A première vue, elles aussi semblent être assemblées au gré du hasard. En revanche, à partir d’un point d’observation éloigné, elles forment un bijou unique et harmonieux.

Dès le début, Leighton travaille avec des images fortes. Comme des bancs de poissons, ou des volées d’oiseaux, les hommes se regroupent en marchant ou en courant pour s’éloigner à nouveau les uns des autres ; ils forment des espèces de tourbillons pour ensuite se retrouver alignés tout autour de l’espace de danse rectangulaire. Ces formations organiques sont suivies par des figures fondamentalement différentes : des corps allongés, vus d’en haut formant un gigantesque triangle ; des corps immobilisés, tels des sculptures vivantes. Le rapport avec le musée, le lieu de la performance, est évident.

Changement de chorégraphie : une valse toute simple, réinterprétée par Leighton. Il s’agit d’enchainements de pas répétés à deux qui tendent vers une position immobile et qui ne tiennent pas compte d’une quelconque évolution dans l’espace au rythme d’une valse « à trois temps ». Une nouvelle variation très amusante d’un vieux sujet de danse. La matière sonore enregistrée sur bande change imperceptiblement: elle part d’une ambiance d’orage en passant par une musique étrange, à peine identifiable, pour finir en bribes acoustiques. Le tout laisse suffisamment de place aux acteurs et visiteurs pour leur propre interprétation. Les formations circulaires où les bras des participants pointent d’abord vers le milieu du cercle pour ensuite jaillir vers le haut font fortement penser aux chorégraphies apprises dans le cadre des bals autrichiens, organisés tous les ans pendant la période du carnaval. Ceci démontre, peut être pas de façon intentionnelle, à quel point les répertoires de danse se ressemblent à travers le monde quand il s’agit de travailler avec un grand nombre de personnes.

A plusieurs reprises, Leighton fait allusion au phénomène de société de masse : la solitude à l’intérieur de cette masse, l’identification des mouvements et leur synchronisation, mais aussi la tentative de s’en échapper, d’approcher son prochain à l’intérieur de la masse anonyme ou alors devenir meneur : toutes ces actions sont illustrées par les danseuses et danseurs grâce à des tableaux variés prenant possession des lieux. L’oscillation permanente entre des « instantanés sociétaux » et des interactions humaines, des rapports au lieu muséal et la ville et les références au monde de la danse et les beaux-arts, ont rendu ce spectacle passionnant.

Le public a été fasciné pendant une quarantaine de minutes par une action menée essentiellement par des amateurs. Que Leighton ait réussi à solliciter l’intellect et le sens esthétique du spectateur à parts égales mérite d’être souligné. A la fin du spectacle, « l’orgie » d’applaudissements apprise et exécutée par l’ensemble a déclenché un amusement général et peut être interprétée comme un «bis »…….

Une aventure utile et à l’art et à la compréhension entre les êtres humains ! Difficile d’ouvrir davantage les portes pour faciliter l’accès au prétendu « Graal de l’art ».

Texte traduit de l’allemand par Andrea Isker

Vom Atelier ins Gefängnis

Vom Atelier ins Gefängnis

22h13 7406 BrigitteEnguerand

Pierrick Sorin 22h13 (c) Brigitte Enguérand


Pierrick Sorin und Claire Diterzi im Le-Maillon in Straßburg

Im November wartete das Le-Maillon in Straßburg mit zwei sehr klug hintereinander gesetzten Inszenierungen auf. Zu sehen war einerseits Pierrick Sorin mit seiner Aufführung „22h13“ und andererseits Claire Diterzi mit ihrem Abend „Rosa la Rouge“, welcher der bekannten Kommunistin und Pazifistin Rosa Luxemburg gewidmet war.
So unterschiedlich beide Aufführungen von ihrem Inhalt her auch waren, so viele Schnittmengen hatten sie andererseits auch wieder vorzuweisen. Beide Künstler arbeiten genreübergreifend.

Pierrick Sorin, der von der bildenden Kunst her kommt, bereits zahlreiche internationale Auszeichnungen erhielt und unter anderen im Centre Pompidou, der London Tate Gallery oder dem Guggenheim in New York ausstellte, mutiert auf der Bühne zum Schauspieler und präsentiert dem Publikum im Zeitraffer einen Tag im Künstleratelier. Dort bedient er zwar einen ganz Sack voll Klischees, tut dies aber immer mit so viel Humor, dass diese leichte Kost nicht unverdaulich wird. „Schuld“ daran ist sein spielerischer Umgang mit den Medien. Großartig, wie er einen Film von sich auf eine große Leinwand projiziert, um davor im selben Outfit sein Alter-ego zu spielen. Einfach schön sein bewegtes Hologramm, in welchem er als kleines Männchen auf einer Schallplatte läuft. Witzig die Situation, in welcher er von zwei Versicherungsvertretern vollgetextet wird und währenddessen in seinen künstlerischen Träumen eine riesige Fontäne bastelt, die er vor den Louvre stellt. Dass sie in Wirklichkeit nur aus einem hohlen Baguette und einem Schlauch mit Milch gefertigt ist, der sporadisch diese ausspuckt, reißt das Publikum zu Lachstürmen hin. Wie überhaupt all jene Bezüge, die den Künstler als ein Wesen erscheinen lassen, dessen Gedanken entweder um seine eigene Unzulänglichkeit oder um seine Libido kreisen. Gott sei Dank gibt es Freud, auf den man sich ausreden kann! Sorins Künstleralltag, zumindest in der Bühnenversion, besteht aus Zwangshandlungen, wie Aufräumen, aus der krampfhaften Suche nach Inspiration und dem Negieren sämtlicher Anrufer, die ihn dazu auffordern auszustellen, ein Vorwort zu schreiben oder bei der Nachbarin Nachschau zu halten, weil diese kein Lebenszeichen von sich gibt. Es ist nicht der Plot, der das Publikum fasziniert, sondern vielmehr seine Art, die Bühne optisch zu bespielen. Es ist ein verschiebbares Aquarium, in welchem er selbst wieder in Form eines Hologramms tanzt, eine Glasscheibe, auf die er bunt eingefärbte Lebensmittelfarbe spuckt und das Verrinnen der Farbe großflächig auf die Bühnenleinwand projiziert, ein Film, in dem er sich als Dreimannband aufgezeichnet hat und vor dem er den Sänger mimt und, und, und. Was in Komödien früher pointiert geschriebene Gags waren ersetzt Sorin durch persiflierte, künstlerische Aktionen und wunderbare Querverweise in die Kunstgeschichte, sowie Seitenhiebe auf das aktuelle Kunstbusiness. Darin liegt seine große Stärke. Wer dies als unterhaltsame Kost konsumiert, kommt voll auf seine Kosten. Wer weiteren Tiefgang erwartet, weil „ein richtiger Künstler ernst sein muss“ sollte tatsächlich in eines der zuvor genannten Museen gehen. Aber Achtung: Auch dort hat schon seit Längerem mit einigen Künstlern der Spaß Einzug gehalten.

ROSA official. MICHAL2EBAB

Claire Diterzi / Rosa La Rouge (c) Michal Batory


Ganz anders, und dennoch vergleichbar stand eine Woche später Rosa la Rouge auf dem Programm des Le-Maillon. Claire Diterzi vermischte bei diesem Auftritt mit ihrer Band das Theater, ein Popkonzert, Videoeinspielungen, Multimediadiashows und Hollywoodfilmszenen völlig ungeniert. Sie zitierte aus Briefen, die Rosa Luxemburg an Bekannte und Freunde aus dem Gefängnis schrieb und wählte dazu stets Stellen, die zuversichtlich klingen und das Kämpferherz dieser ungewöhnlichen Frau betonten. Kaum war jedoch eine besinnliche Stelle abgearbeitet, mutierte Diterzi flugs zur Hard-Rockerin oder Chansonsängerin. Ihre gesungenen Revolutionsparolen ließ sie filmisch mit einer Szenerie von hochhausbestückten Banlieus begleiten. Ein starker Moment, in welchem ihr die Verschränkung zum Hier und Jetzt mit Luxemburgs Ideen vom Aufstand gegen die Mächtigen gut gelang. Diterzi und Marcial di Fonzo Bo, der für die Regie sorgte, präsentierten ein so breit gefächertes, künstlerisches Kaleidoskop auf der Bühne, dass, beinahe wie im Zirkus, eine Sensation die nächste ablöste. In ihrem schwarzen Spinnenoberteil, der weit geschnittenen Greta-Garbo Hose und den hohen, roten Pumps erinnerte Diterzi jedoch optisch in nichts an die streitbare Luxemburg. Selbst dort, wo sie Luxemburgs Texte zitierte, blieb sie doch ganz sie selbst. Eine Bandleaderin, die grenzüberschreitend als Akteurin auf der Bühne agiert, um mehr als nur Lieder zu transportieren. In Dada-Manier intonierte sie ein Nonsens-Vogellied, ließ sich von einem Alphorn begleiten und agierte sogar kurz als volkstümliche Schunkelsängerin. Die Verschränkung zu Luxemburgs Schweizaufenthalt lag auf der Hand. Auch ihr Traum von einer intakten, familiären Welt wurde thematisiert. Dazu gab es eine wunderbare Heile-Familie-Persiflage, in welcher Diterzi ein von ihr bewegtes Puppenhaus mit Filmaufnahmen eines Ehepaares fütterte und diese wie lebende Puppen in die Zimmer platzierte. Auf eine der drei Leinwände projiziert, fesselte diese heitere Videoperformance ganz die Aufmerksamkeit des Publikums um jedoch bald darauf von einer Filmszene aus dem Hollywoodmelodram Spartacus abgewechselt zu werden. Auch mit Spartacus wählte Diterzi einen Direktverweis auf Luxemburg, war dies doch der Name jener kommunistischen Bewegung, der die Pazifistin in Deutschland angehört hatte. Bei Diterzi darf jedoch auch in diesem Zusammenhang gelacht werden, wenn der tapfere Sklave Kirk Douglas sich mit seiner Liebsten Jeanne Simmons im Gras wälzt und laute, eingespielte Schmatztöne die Kussszene untermalen. Das Lachen hielt jedoch nicht lange an, die Show neigte sich ihrem vorhersehbaren Ende zu. Begleitet von einem traurigen Chanson wurde abermals ein Film eingespielt, auf dem Diterzi liegend, wie tot, am Boden vor einer Ziegelmauer zu sehen war. Das Bild konnte sich solange ins Gedächtnis einprägen, bis ihr Körper ganz vom fallenden Schnee bedeckt war. Trocken erschienen dazu auf einer Gegenleinwand die Daten der Ermordungen von Luxemburg und ihren Mitstreitern Karl Liebknecht und Leo Jogiches. Wie das Licht einer kleinen Mahnkerze leuchtete zum Schluss der rote Apfel auf dem Mac, den ein DJ im hinteren Bühnenteil bediente.

Sowohl in „22h13“ von Sorin als auch in „Rosa la Rouge“ von Diterzi fand sich derselbe Ansatz, eine Bühne als multimedialen Präsentierteller zu nutzen. Darauf spielten beide neben dem Live-Geschehen auch elektronisch konservierte, optische Informationen ein, die nur mit einer aufwendigen Technik zu bewerkstelligen ist. Was früher einmal der Schnürlboden war, erledigen heute Computer, Kabel, Mischpulte und Leinwände. Aber nicht nur deshalb ist es interessant die beiden Abende gegenüberzustellen. Auffallend war nämlich, dass sich die tradierten Geschlechterrollen völlig verkehrten. Sorin, als männlicher Künstler, agiert zurückgezogen, selbst reflektierend, die Gesellschaft völlig außen vor lassend in seinem Atelier. Igelt sich dort ein, kapselt sich ab und macht sich so seine Gedanken, mehr über sein eigenes Dasein als über das der anderen. Diterzi hingegen exerziert genau das Gegenteil. Als Frontfrau ihrer Band und die Ideen Rosa Luxemburgs auf ihre Fahnen geheftet, ruft sie, zumindest unterschwellig, zum gesellschaftlichen Aufstand auf. Was bei ihr fehlt, ist der Entwurf zum Kommenden, zum Neuen, das nach einer Revolution entstehen soll. Damit spiegelt sie jedoch nur jenen Zeitgeist wieder, der erkannt hat, dass Veränderungen kommen müssen, wohin diese führen werden, jedoch noch nicht.

Zwei Abende, die förmlich dazu aufriefen, sich Gedanken zu Privatheit und Öffentlichkeit zu machen – und beide Pole auf ihre eigene Art völlig legitimierten.

Stravinsky und Prokofjew im Wettstreit

Stravinsky und Prokofjew im Wettstreit

Dmitri Slobodeniouk 02@Marco Borggreve

Der Dirigent Dimitri Slobodeniouk (c) Marco Borggreve

Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Orchéstres en fête“ war in Straßburg zwischen dem 18. und 21. November 2010 der musikalische Ausnahmezustand ausgerufen worden. Eingebettet in das französisch-russische Freundschaftsjahr hatte das OPS, das Orchéstre philharmonique de Strasbourg“ insgesamt 9 Konzerte vorbereitet, bei dem 9 Solisten zum Einsatz kamen und 25 Stücke gespielt wurden.

Mit dem Auftakt am Donnerstag gab sich Alexander Toradze in Straßburg die Ehre. Jener aus Georgien stammende, international bekannte Pianist, der 1983 bei einem Auslandskonzert in Amerika von dieser Konzertreise nicht mehr in die USSR zurückkehrte, und in seinem neuen Heimatland an der Indiana University in South Bend das Toradze-Studio begründete. In dieser außergewöhnlichen Schule wurden unter ihm bisher ca. 160 Klaviersolisten ausgebildet. Toradze selbst spielte unter der Stabführung des jungen Dirigenten Dima Slobodeniouk das 1. Klavierkonzert von Prokofjew, sowie das Konzert für Klavier und Bläser von Stravinsky. Zwei ungemein anspruchsvolle Stücke, die nicht nur eine hohe technische Brillanz erfordern, sondern auch eine tiefe Kennerschaft der Werke, um ihre Strukturen dementsprechend hörbar zu machen.

Dass dabei jedoch nicht nur der Pianist, sondern auch das Klavier in hohem Maße gefordert ist, wurde sogar sichtbar, da während des Konzertes eine Klavierseite riss, die von kundiger Hand in Windeseile entfernt werden musste – ein wahrlich nicht alltäglicher Vorgang. Wie sehr Toradze in der russischen Musik lebt, wurde schon bei der Generalprobe deutlich, die dieses Mal für die Öffentlichkeit zugängig gemacht wurde. Während einiger Stellen sprang der Musiker von seinem Klavier auf und unterstützte den jungen, russischstämmigen Dirigenten mit kräftigen und deutlichen Gesten, um die Dramatik und die Tiefe des Orchesterklanges zu steigern. Wie selbstverständlich wirkte dieser Vorgang, auch die danach beiderseitige, kurze Absprache in Russisch, zwischen ihm und dem Dirigenten, deren Ergebnis dann von Slobodeniouk auf Englisch an das französische Orchester kommuniziert wurde. Ein herrliches Erlebnis, bei dem mehr als deutlich wurde, dass Musik alle Sprachbarrieren überwindet – Orchestermusiker heute aber auch tatsächlich mehrsprachig sein müssen, um den Anforderungen der vielen Gastdirigenten adäquat nachkommen zu können.

Toradzes Interpretationen kennen das schwärzeste Schwarz und das weißeste Weiß, das kräftigste Forte und das leiseste Pianissimo. Dazwischen bleibt nicht viel Platz. Was die russische Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts betrifft, so liegt er damit aber völlig richtig. In einem Interview erzählte der Pianist, dass Bartok, Prokofjew, Strawinsky usw. jene Komponisten waren, mit denen er quasi schon von Kleinkindesalter an aufwuchs. Sein Vater, selbst Komponist, erklärte ihm wie beiläufig viel später, dass es vor diesen Komponisten auch noch andere gegeben habe die den Namen Mozart oder Beethoven trugen. Aus diesem Blickwinkel heraus wird klar, warum die Identifikation von Toradze mit dieser Musik so unglaublich stark ist und er einen so überaus natürlichen Zugang zu diesen Werken hat. Einen Zugang, der bei anderen Pianisten in diesem Zusammenhang eher selten anzutreffen ist.

Was Schwarz und was Weiß bei Toradze bedeutet, wurde schon im Klavierkonzert von Prokofjew rasch klar. Der kräftige, ja halsbrecherische erste Satz, der mit einem bestimmenden Marsch beginnt und in ein wahres pianistisches Lauffeuer übergeht, machte deutlich, dass Toradze nicht gewillt ist sich, das Klavier, oder die Musiker des Orchesters zu schonen. Seine kräftigen, so ganz und gar nicht pianistisch wirkenden Hände scheinen für diese Art von Musik absolut prädestiniert. Zartheit ist hier fehl am Platze, wenngleich sie in den Perlenschnüren des dritten Satzes, die der Pianist am Klavier dutzendweise akkurat abspulte, bereits durchblitzen. Das große Finale des nur 15 Minuten dauernden Konzertes, welches Prokofjew fast effekthascherisch programmierte, gelingt nur dann, wenn die pianistische Kraft und Ausdauer, ja ein starkes Ego vorhanden ist, um dem ebenso starken Orchesterpart die Stirn bieten zu können. Und Toradze tat dies ohne auch nur eine leise diesbezügliche Frage aufkommen zu lassen. Perfekt agierte dazu Slobodeniouk, der mit Präzision agierte, jedoch im Ausdruck stark genug war, um auch feinere Schattierungen an das Orchester weitergeben zu können.

Im Konzert für Klavier und Bläser zeigte Toradze dann auch, dass seine Schwarz-Weiß-Malerei Lyrismen nicht unbedingt ausschließt. Im ersten Satz, der mit einem Trauermarsch in den Bläsern beginnt und kontrapunktisch in Bach´scher Manier auftritt, zerschlägt das Klavier die historischen Reminiszenzen und gleitet in unglaublich schwierige, rhythmische Strukturen mit jazzigen Anklängen. Was dann, im zweiten Satz zu hören war, war unglaublich. Der stämmige Pianist legte sichtbar sein Herzblut in die singende Melodie, die so wunderbar von den Oboen und auch Hörnern aufgenommen wird und zwischen ihnen und dem Klavier immer wieder hin- und herwogt. Tatsächlich konnte man einem jener seltenen, innigen Momente bewegt lauschen, die Prokofjew in diesem Konzert bereit hält. Wie zum Ausgleich durchwühlte Toradze im Finalsatz die schwierigen rhythmischen Passagen, um schließlich wieder in einem kraftvollen Fortissimo so zu enden, wie er das Konzert begann, nämlich ganz im Sinne des Komponisten, der einmal feststellte, dass ihm bei diesem Konzert eine „trockene Klarheit“ vorschwebte.

Eine schöne Ergänzung boten noch Stravinskys Symphonie in drei Sätzen sowie Prokofjews Suite „Die Liebe zu den drei Orangen“. Beide Werke wurden von Slobodeniouk punktgenau dirigiert, wobei das OPS im gesamten Klangappart aufs Äußerste gefordert war. Vier Konzerte an einem Abend, die technisch hoch anspruchsvoll zu spielen sind und auch nicht häufig auf dem Programm stehen, waren eine Herausforderung, der jedoch bravourös Stand gehalten wurde.

Zuletzt bleibt nur noch das Werk Ayas, eine Fanfare von Christophe Bertrand zu erwähnen. Es erlebte seine Welturaufführung als Eröffnungsstück und stammt von jenem jungen Straßburger Komponisten, der im September dieses Jahres viel zu früh mit 29 Jahren verstarb. Rhythmisch und klanglich kraftvoll bot es eine wunderbare Einleitung, welche im übertragenen Sinne die Bühne für das Kommende öffnete. Das dreiminütige Stück für dreizehn Blas- und Perkussionsmusiker, die mit Gongs, großen Trommeln, antiken Zimbeln und Pauken agieren ist, kaum gespielt, auch schon wieder verklungen. Klanglich mit Reminiszenzen an Skrijabin versehen, war es im Hinblick auf dieses Konzert mit Werken von Stravinsky und Prokofjew vom Komponisten verfasst worden; ein Umstand, der Seltenheitswert hat und als Verweis eines Konzertabends aufgefasst werden kann, den Bertrand offenbar als Gesamtkunstwerk verstand. Es wäre schön, wenn dies international Beachtung fände und öfter in einem zumindest ähnlichen musikalischen Konnex erklingen könnte.

Wo Tino Sehgal draufsteht sind Gefühle drin

Wo Tino Sehgal draufsteht sind Gefühle drin

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Der Festsaal in der Aubette (c) M. Bertola / Musées de la Ville de Strasbourg

In einer kunsthistorisch geschwängerten Umgebung – der sogenannten „Aubette“ in Straßburg – kann das kunstinteressiert Publikum noch bis 23. Dezember ein Werk Tino Sehgals konsumieren, wenn es dazu Lust hat. Wenn nicht, flüchtet es verstört. Welche Reaktion folgt, hat man die Räume im Herzen von Straßburg besucht, die in den späten 20er Jahren von Jean-Hans Arp, Sophie Taeuber-Arp und Theo van Doesburg neu ausgestaltet wurden und deutlich die De Stijl-Handschrift tragen, hängt von der Experimentierfreude, der Vorbildung oder auch schlicht dem Zufall der Begegnungen ab, die dort gemacht werden. Tino Sehgal, der als jüngster Vertreter Deutschlands die Biennale in Venedig bespielen durfte und erst in diesem Jahr das Guggenheim in NY, dieser Künstler arbeitet nicht mit Material, sondern mit Menschen, deren Kommunikationsstrukturen und deren Erwartungshaltung einem musealen Ort gegenüber.

„The objective of this work is to be the object of a discussion“ mit diesen Satz konfrontierte Sehgal das erste Mal 2004 ein Publikum. Damals umrundeten fünf Männer den überraschten Galeriebesucher und riefen diese Aussage so lange, bis dieser etwas antwortete. In Straßburg feiert diese Aussage fröhliche Wiederauferstehung, allerdings dieses Mal in abgewandelter Form. Betritt man die Aubette, wird man gleich zu Beginn von einem Museumsangestellten launig darauf hingewiesen, dass ein Werk von Tino Sehgal auf einen warte. Im ersten Stock dann angekommen, findet man außer einigen jungen Leuten, die in Zweier-Gruppen beisammen stehen, auf den ersten Blick nichts weiter vor.  Betritt man jedoch dann den Ballsaal, wird man von diesen sofort begleitet. Wieder sind es 5 Personen, die Sehgal agieren lässt. Sie stellen sich jedoch alle den Besuchenden abgewandt jeweils vor eine der Wände, eine junge Frau blockiert sogar den Ausgang, und beginnen nach einer hörbaren Atemchoreografie diesen Satz zu sprechen, zuerst flüstern, dann mit starker Lautstärke zu deklamieren. Mehrmals hintereinander, immer wieder beginnend, wenn ein neuer Besucher den Raum betritt. Hat man dann Glück und bleibt länger ohne weiteren Besucherzuwachs und ist kommunikativ genug, um eine Frage zu stellen, dann kommt es zu einer tatsächlichen Interaktion. Allgemeines Gemurmel erfüllt den Raum und einer der Akteure sagt – „Ich möchte antworten“. Daraufhin gibt es einige interessante, oder auch weniger interessante Antworten, Gegenfragen oder einfach auch nur kurze Erzählungen, die sich um die Frage, die gestellt wurde, drehen. Wer sich nun freut, adäquate Gesprächspartner gefunden zu haben irrt aber, denn sobald ein neuer Besucher den Raum betritt, wird abrupt abgebrochen, und die Endlosschleife der Performance beginnt an ihrem Ausgangspunkt. Menschen, die ehrfürchtig und meist etwas irritiert im Raum keine Fragen stellen, können diese Interaktion nicht erleben. Vielmehr sinken die jungen Menschen wie sterbend nach einer Zeit des Schweigens in sich zusammen um sich erst dann wieder vom Boden zu erheben, wenn neue Besucher kommen, oder sie angesprochen werden. Zwei Räume weiter gibt es, für viele erst auf den zweiten Blick erkennbar, eine weitere Tino Sehgalt-Installation zu entdecken. Dort, im Kino-Vorführraum nämlich, der abgedunkelt ist, liegt knapp vor einer Wand eine junge Frau. Sie trägt normale Alltagskleidung, eine Jean, einen Pullover und vermittelt den Eindruck, dass sie sich in Tiefschlaf befindet. Langsam, wie in Zeitlupe, dreht sie sich um ihre eigene Achse oder rollt ein wenig weiter. Egal, was der Besucher hier macht, Interaktion kommt keine zustande. War es im Guggenheimmuseum ein Paar, das sich eng umschlungen am Boden in einem Endloskuss wälzte, so ist es hier eine einzelne Person, die einer lebenden Skulptur gleich, dem Publikum vorgeführt wird. Oder besser, vom Publikum erst einmal entdeckt werden muss. Die dunkle Umgebung, der schlafähnliche Zustand, die wie in Zeitlupe ausgeführten Bewegungen, all das wirkt bewusst artifizielle und löst, bei längerer Betrachtung, eine Welle von Gefühlen aus. Gefühle, das ist es, was man in der Aubette bei Tino Sehgals Arbeiten erleben kann. Gefühle, die durch Interaktion oder nur durch reine Betrachtung zustande kommen sind das Salz in der Suppe von Sehgals Arbeiten. Aber nicht nur. Dass sich über die Aktionen trefflich philosophieren lässt, steht außer Frage.

Was erwartet man beim Besuch eines Museums, einer Ausstellung? Werden die Erwartungshaltungen der Kunstkonsumenten durch seine Aktionen befriedigt, übertroffen oder enttäuscht? Welche kunsthistorischen Vorkenntnisse sind notwendig, um ein Werk wie dieses tatsächlich auch in seiner umfassenden Dimension zu erfassen? Wie stehen Sehgals weltweite Aktionen untereinander in Beziehung? Ist seine Anordnung, die Performances weder zu fotografieren, noch zu filmen nicht ohnehin nur eine bewusst provozierende Attitüde und eigentlich obsolet, da Kulturjournalisten und Kuratoren sie ohnehin zumindest im geschriebenen Wort archivieren und verbreiten? Ist nicht auch der immaterielle Ansatz nur ein vermeintlich immaterieller, weil er „nur“ mit Menschen, nicht mit Objekten arbeitet? Die Zahl der Fragen scheint schier unendlich und hängt wiederum damit zusammen, inwieweit man sich auf das Werk einlässt, inwieweit man über eine reine Konsumhaltung hinaus sich damit intellektuell beschäftigt. Da Tino Sehgal keine Erklärungen abgibt, bleibt, wie schon altbekannt und offenbar auch altbewährt, die Beantwortung der Fragen allein beim Publikum.

Seine Aussage „The objective of this work is to be the object of a discussion“ bestätigt sich jedoch in jedem Fall.  Jeder, der die Aubette verlässt, diskutiert. Und wenn er oder sie alleine gekommen ist, dann mit dem nächsten, der für eine Aussprache zur Verfügung steht. Konzeptkunst vom Feinsten.

Vor den Veranstaltern, (den Musées des la ville de Strasbourg, Pôle Sud, le Frac Alsace, le Goethe Institut et Savoir(s) en commun (Université de Strasbourg) sei an dieser Stelle der Hut gezogen. Die Belebung dieser Räume in der Aubette, die zu ihrer Entstehungszeit absolut avantgardistisch waren, mit einem Kunstwerk, das ganz auf der Höhe unserer Zeit steht, ist schlichtweg genial. Man hat das Gefühl, hier an etwas teilhaben zu können, das eine neue Dimension aufzeigt. Dass man es nicht mehr Avantgarde nennen soll, weil es sich selbst im postmodernen Kontext nicht mehr als solche definiert, stellt lediglich eine sprachliche Übermittlungsherausforderung dar. Jedenfalls dürfte sich das Gefühl an diesem außergewöhnlichen Ort ziemlich genau mit jenem decken, welches die Straßburger hatten, als sie 1928 erstmals die umgestaltete Aubette betraten und in ihr feierten. Eine wunderbare, sinnhafte, historische Verschränkung über die Zeit hinweg.

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