Die Erinnerung steckt im Körper

Die Erinnerung steckt im Körper

Die Bühne – eine Mischung aus praktischen Hilfsmitteln für den Tanz und skulpturaler Inszenierung. Die Performance – zum Teil Tanz- zum Teil Sprechtheater. Die Ausführende – Meg Stuart, Amerikanerin, die in Berlin und Brüssel lebt und mit ihrer Gruppe Damaged Goods arbeitet, ist dieses Mal alleine auf der Bühne.

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Meg Stuart war mit „Hunter“ im Tanzquartier Wien zu sehen- Foto: Iris Janke

„Hunter“ ist der Titel ihrer Soloperformance, in der sie ihren eigenen Erinnerungen nachspürt, sich vielleicht im übertragenen Sinn sogar wie ein Jäger auf deren Spur macht. Erinnerungen, die sowohl subjektiv, zugleich aber auch zumindest teilweise im kollektiven Gedächtnis verankert sind. Familienfotos mit Kindern, Eltern, Freunden, wer hat sie nicht zuhause? Wer möchte nicht den einen oder die andere aus dieser visualisierten Erinnerung wieder auslöschen? Stuart greift zu drastischen Mitteln. Am Ende ihrer selbst gebastelten Collage, die das Publikum via Projektion miterlebte, noch während es seine Plätze suchte, wird ein Foto angezündet. „Zuhause bastle ich keine Collagen“, wird Stuart später erklären und damit einen Verweis auch die Bühnenkünstlichkeit geben. Aber sie wird mit diesem kleinen Satz zugleich auch vermeintlich Privates zurücknehmen, den voyeuristischen Blick ihres Publikums auf diese Weise neutralisieren.

Meg Stuart animiert zum Fragen

Es ist nur ein Bruch von mehreren, der in diesem Solo das Publikum mehr oder weniger sanft zum Hinterfragen der Arbeit von Meg Stuart anleitet. Muss ein Tanzsolo tatsächlich ohne Sprache auskommen? Warum kann man evozierte Gefühle nicht auch im Handumdrehen ins Gegenteil verkehren – nämlich dann, wenn`s gerade so schön ist. So geschehen mit ihrer Yoko-Ono-Hommage, in welcher sie das Lied „revelations“ vorträgt, unterstützt von zwei von der Decke hängenden, und sich wie Karussellsitze drehenden, roten, runden Lautsprechern. Gerade als der Text der John-Lennon-Witwe das eigene Ego zu streicheln beginnt, fängt Stuart zu brüllen an. Gegen oder besser mit jenen Filmaufnahmen, in welchen, auf allen nur möglichen Projektionsflächen auf der Bühne, kriegerische Handlungen gezeigt werden.

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Meg Stuart – Hunter im Tanzquartier Wien Foto: Maarten Vanden Abeele

Immer wieder unterhält sie nicht nur akustische, sondern visuelle Unterstützung, Projektionen von Bildern, von Videos, Privatfilmen. Lang gerollte und zurechtgeschnittene Fellimitationen sind dafür als Projektionsflächen geeignet, eine hüfthohe, leicht gebogene, nach vorne geöffnete Skulptur, aber auch Bildschirme oder kleine Leinwände erfüllen denselben Zweck.

Beredte Arme und Hände

Zu Beginn schafft Meg Stuart das Kunststück, eine Beziehungsgeschichte nur mit ihren Armen und Hände zu erzählen. Ein sich Anklammern, Festhalten, innige Umarmungen aber auch rohe Zurückweisungen – das alles enthält ihr Bewegungsvokabular. Momente wie diese, wenngleich auch verkürzt und drastisch abstrahiert, finden dennoch Widerhall beim Zusehen. Ein weiterer Bewegungspart erinnert an die Protagonisten von Computerspielen – verfolgt, gebeutelt, zu Boden gestreckt und immer wieder von Neuem traktiert. Die Szene endet schließlich durch die Verzerrung des dazu eingespielten Sounds, durch ein plötzliches Rückwärtslaufen der Künstlerin. So als befände sie sich in diesem Moment außerhalb jeder real erfahrbaren Zeit. Um kurz darauf via eingespielter Männerstimme zu verlautbaren: Every second is real!

Wie ist das mit unseren Erinnerungen eigentlich? Wie kommen diese, wie gehen diese, in welchem Zeitmodus werden sie von uns empfunden? Stuart evoziert permanent Fragen, ohne jedoch auf Antworten zu warten. In rasantem Tempo lösen sich Szenen rasch hintereinander ab, kippen, verkehren sich ins Gegenteil von ihrem Ausgangspunkt. Ein Kostümwechsel verändert ihr Aussehen komplett. Das bunte, in alle Richtungen ausufernde Kleid, das sie sich überzieht, passt ihr nicht; wird zu einem Objekt, das mehr behindert als nützt. So farbenfroh es auch ist, seine Trägerin verschwindet darin komplett, wird von ihm verschluckt. Der Schluss, in welchem sie auf allen Vieren den Raum verlässt, täuscht. Denn ihm folgt ein zweiter Teil, in dem Stuart wie eine Conferencière ihre Gedanken mit dem Publikum teilt: In Shirt, wattierter Jacke, Hose und Fellstiefeln – „man weiß nie, welches Wetter in Wien im April herrscht“ – ein höchst vergnüglicher Verweis auf das in der Stadt am Tag zuvor tatsächlich stattgefundene Schneechaos. In diesem zweiten Teil erfährt man von ihrem Vater, der mit Laienschauspielern arbeitete, von einer Freundin, die sich die hüftlangen Haare abschneiden ließ, um sie Meg anschließend zu schenken. Sie nutzt diesen Auftritt aber auch dazu, das Publikum aufzurufen, in einer gemeinsamen Aktion Ikea-stuff zu verschrotten, oder den öffentlichen Raum zu besetzen.

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Meg Stuart – Hunter im Tanzquartier Wien Foto: Maarten Vanden Abeele

Am Schluss steht das Verschwinden

Dass die Künstlerin im letzten Teil von Augenblick zu Augenblick an visueller Präsenz verliert, nicht einmal mehr Schwarz-Weiß-Projektionen das Dunkel der Bühne aufhellen können, kippt die Performance abermals komplett. Die Auslöschung des eigenen Ichs, die hier zelebriert wird, ist mehr als eine Vorausschau der eigenen Endlichkeit. Die multiplen Interpretationen, die Stuart ihrem Stück hinterlegt, die vielen Ebenen, mit denen es ausgestattet ist, die Behauptungen und das Aufzeigen ihres Gegenteils – all das hält die Tänzerin und Choreografin bis zum Schluss aufrecht. Es sind die einzigen Konstanten, die schlussendlich all den Ideen einen Halt und Rahmen geben.

„Hunter“ ist eine der lebendigsten, intelligentesten und berührendsten Performances, die in letzter Zeit im Tanzquartier gezeigt wurden. Meg Stuart eröffnet damit eine ganze Reihe von Gedankenräumen, die selbst gefüllt werden müssen. Aber sie präsentiert auch ein höchst kreatives Kompendium, eine Rückschau auf das bisherige Leben einer Generation, die jetzt zwischen 50 und 60 Jahre alt ist und sich darin wiederfinden kann.

Erinnerungen bis ins Heute

Erinnerungen bis ins Heute

Anlässlich der EDN (European Dancework Network) Roadshow im Tanzquartier in Wien erinnerten sich Künstlerinnen und Künstler aus Slowenien, Kroatien, Serbien, Bosnien und Herzegowina an ihre Vergangenheit.

Falcon!

Der slowenische Tänzer und Choreograf Itzok Kovač und Janez Janša, Regisseur, Performer und Autor präsentierten dabei das Stück „Falcon!“ – ein komplexes Nicht-Remake der allerersten, choreografischen Soloarbeit „How I Caught a Falcon“ aus dem Jahr 1991 von Kovač. Ein „Remake“ zu machen kam für ihn überhaupt nicht infrage. Eine Erinnerung mit Aktualitätsbezug, Hinterfragung des eigenen Berufsstandes und jeder Menge Humor im Austausch mit seinem Freund Janez Janša aber sehr wohl.

Dabei bedienten sie sich vom Ursprungsstück entnommener, einzelner, tänzerischer Passagen und ergänzten diese alsbald mit neuen Szenen, einer Doppelconferance und Einbindung des Publikums, sowie Videoeinspielungen.

Das unsichtbare Gewicht von Federn

Wie nebenbei wurde auch die Rolle des alternden Tänzers hinterfragt und höchst poetisch mit kleinen, weißen Federn auf Janšas Arm verdeutlicht. Das nicht spürbare Gewicht des Alters zeigte sich in der Unfähigkeit, den Arm mit dieser federleichten Last ad Infinitum hochzuhalten. Eine wunderschöne Metapher, die mehr als nur diese eine Interpretation zuließ. Durch Erzählungen der beiden wurde Kovačs persönliche Geschichte, eingebunden in den europäischen Tanzkonnex, aufgerollt, sowie Janšas Begleitstatus als Autor, der schließlich an diesem Abend die Fronten wechselte und tänzerisch aktiv wurde.

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Falcon! (c) Miha Fras

Dabei sprachen die beiden ganz automatisch all jene Personen im Publikum an, die um das Älterwerden bereits selbst wissen und sich damit auseinandersetzen müssen. Körperliche Fitness ist eine, Erfahrungen aber die andere Seite der Medaille und, wie Jansa ausführte, sogar die bessere, weil effektivere, was in der Aufforderung mündete, doch gefälligst schneller zu altern!

Das Tanzumfeld und düstere Zukunftsaussichten

Formal kombinierten die beiden in ihrer Performance zeitgenössischen Tanz mit Alltagsbewegungen, Moderationssituationen, einer Basketballeinlage, aber auch einer herrlichen Persiflage mit charakteristischen Tanzbewegungen der großen Choreografen und Choreografinnen des 20. Jahrhunderts wie De Keersmaeker, Vandekeybus, Bausch und anderen. Und selbst die Rolle der Tanzkritik wurde humorig hinterfragt. Dazu wurde eine pathetische Kritik über Kovačs Solostück, kurz nach dessen Erscheinung vorgelesen.

Die Zukunft, rosig scheint sie laut Kovač trotz all seiner Erfahrungen, trotz seiner Arbeit mit der eigenen Companie nicht auszusehen: „Keiner zahlt mehr etwas…keiner bildet Tänzer aus…ich werde nicht gebraucht“, erklärte er ohne sichtbare Ressentiments an diesem Abend, um die düstere Aussicht gleich wieder ins Ironische umzukehren. „Werden Sie Kindergärtner!“, empfahl ihm ein Beamter des Arbeitsmarktamtes, wobei er dabei auf die Idee kam, Skispringern doch den Telmark-Sprung beizubringen, den er perfekt beherrschen würde.

Eine höchst intelligente und zugleich unterhaltsame Arbeit, die vor allem wegen ihrer Vielschichtigkeit die bühnentauglich umgesetzt werden konnte, beeindruckte.

15th Extraordinary Congress: Vienna

Unter diesem Titel präsentierte die Künstlerin Vlatka Horvat mit Gästen aus Ex-Jugoslawien und unter der Moderation von Noit Banai eine Rückschau auf das Land und seinen Zerfall zu Beginn der 90er Jahre bis zum Balkankrieg.

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15th Extraordinary Congress: Vienna, Vlatka Horvat + Guests (c) European Cultural News

Das höchst interessante Format, an dem außer der Moderatorin sechs Frauen teilnahmen, zeigte auf, wie „oral history“ zu einem ganz bestimmten Themenkomplex funktionieren und zugleich auch fesseln kann. Dabei agierte Horvat mit ihrer Idee ganz im Trend verschiedener Bühnenformate, in welchen derzeit aufgezeigt wird, dass eine persönliche, direkte verbale Kommunikation mit Menschen einen gänzlich anderen Stellenwert hat als ein digitaler Austausch.

Ein Spiel mit realem Hintergrund

Aus einem Stapel Karten zog die Moderatorin jeweils eine zu einem bestimmten Thema wie Feiertage, Denkmale, Geld usw. usw. Nacheinander hatten die Frauen je fünf Minuten Zeit, um ihre Erinnerungen dazu dem Publikum zu erzählen. So entstand nach und nach aus vielen, unterschiedlichen Perspektiven ein atmosphärischer Eindruck jener Zeit, an jenem ganz bestimmten Ort, der nichts gemein hat mit der Tradierung in den Geschichtsbüchern. Geschichtsschreibung als solche, meist von den „Siegern“ aus diktiert und aus männlicher Sicht transportiert, eröffnet in einem Kontext wie diesem gänzlich andere Blickwinkel und Zugänge.

Die im Subtext transportiere Medienkritik bezüglich der Glaubwürdigkeit von kolportierten Informationen, lag auf der Hand. Aber auch das Gefühl, dass auch eine direkte, persönliche Übermittlung von Wissen ad hoc nicht objektivierbar ist.

Dass das Publikum bei der mehrere Stunden dauernden Performance aufmerksam zuhörte zeigt, wie groß und stark trotz aller medialer Reizüberflutung das Interesse an Lebensgeschichten einzelner Menschen ist und dass es keines Bühnenbildes und keiner aufwändigen Inszenierung bedarf, um dieses Bedürfnis stillen zu können.

Bretter, die die Welt bedeuten, sind für alle da

Bretter, die die Welt bedeuten, sind für alle da

Einen Abend lang im Rampenlicht stehen. Einen Abend lang mit anderen auf einer Bühne tanzen. Nicht nur Profis haben diesen Wunsch, sondern auch viele Menschen, die ohne einen Berufsanspruch einfach gerne tanzen und auch gerne etwas von ihrem Können herzeigen möchten.

Bei der Wiederaufnahme von Gala, die im vorigen Jahr im Tanzquartier Österreich-Premiere hatte, durften das insgesamt 20 Personen. Denn genauso viele Tänzerinnen bzw. Tänzer standen dort auf der Bühne, um dem Wiener Publikum zu zeigen, was sie aus Jerôme Bels Idee gemacht haben. Dieser castet für sein Stück in jeder Stadt neu und versammelt dabei Menschen mit unterschiedlichsten Professionen, kulturellem Hintergrund, Alter, Temperamenten und unterschiedlichstem Tanzkönnen auf der Bühne.

Theater als Konstante in der Menschheitsgeschichte

Der Ablauf folgt einer sehr simplen, dramaturgisch aber auch sehr gut durchdachten Idee. Alles beginnt mit einer Diashow, in der man in die architektonische Welt des Theaters eintaucht. Gezeigt werden Bühnen und Zuschauerräume von Theatern rund um den Erdball. Menschenleer. Aus dem Orient, dem antiken Griechenland genauso wie aus Europa und Amerika. Von der kleinsten Tribüne bis zur größten, mehrteiligen Showstage ist so ziemlich jedes Theaterformat vertreten, das man sich vorstellen kann. Dabei wird eines klar: Theater zu machen und Theater zu besuchen, ist ein elementares Bedürfnis der Menschen. Etwas, das eine ungebrochene Tradition aufweist und schier unverwünstlich ist.

Um aber Theater machen zu können, bedarf es jener Menschen, die auf den Brettern, die die Welt bedeuten, ihr Können zeigen. Bel, der schon mit manchen seiner Inszenierungen heftige Kritik einstecken musste, hat in die Tanzgeschichte die Idee eingebracht, dass auf der Bühne keineswegs nur Hochleistungsdarbietungen gezeigt werden müssen, um das Publikum zu fesseln. Vielmehr ist es das Menscheln, das Aufzeigen der eigenen Unzulänglichkeiten, aber auch dessen, wovon man wirklich beseelt ist und was man auf seine ganz ureigene Art besonders gut kann, was die Herzen der Menschen neben unüberbietbarem Perfektionismus berührt.

Profis und Laien ergeben ein buntes, sympathisches Ensemble

In „Gala“ versammelt Bel Profis und Laien, Kinder und ältere Darsteller, eine Dame im Rollstuhl und einen Herrn mit Downsyndrom zu einer unglaublich sympathischen und bunten Truppe. Zu Beginn gehört jedem hintereinander ein Einzelauftritt. Dabei wird eine Links- und eine Rechtsdrehung zu einem Chopinwalzer und ein Lauf über die Bühne mit einem ausladenden Sprung zu einem flotten Galopp vorexeriert. Und dabei werden auch die großen Unterschiede deutlich. Menschen wie du und ich geben ihr Bestes und wirken doch oft ungelenk. Balletttänzerinnen, aber auch Frauen und Männer, denen man ansieht, dass sie offenbar vom Bodenturnen oder dem Profitanz herkommen zeigen, wie Drehungen und Sprünge von trainierten Körpern beherrscht werden können.

Tanzquartier Wien: Jerôme Bel "Gala" © eSeL

Tanzquartier Wien: Jerôme Bel „Gala“ © eSeL

Dabei bleibt es nicht aus, dass das Publikum lacht. Es ist aber kein sich lustig Machen, es ist keine Verhöhnung, die hier stattfindet. Vielmehr sieht man dem Ensemble an, dass es selbst großen Spaß bei dem hat, was es hier macht und dass sich die Menschen selbst sehr wohl bewusst sind, dass sie zum Teil höchst humorige Erscheinungen darstellen. Das unterstützen auch die Kostüme, die von den Tänzerinnen und Tänzern selbst ausgesucht wurden. Da trägt ein sehr schlanker, junger Mann einen pink färbigen, hautengen Bodysuit, ein junge Frau Pippi-Langstrumpf Ringelstrümpfe und dazu ein knallrotes Tütü. Bei einem anderen ist es eine goldene Glitzershort, die Aufsehen erregt, und die Rollstuhlfahrerin hat ihre Haare mit einer weißen Blumengirlande geschmückt.

Die Subbotschaft, die Bel hier mittransportiert, ist, dass sich das Theater auch über sich selbst lustig machen darf. Dass es keiner hehren Ideen bedarf, keines künstlichen Pathos, um auf einer Bühne tanzend auftreten zu können.

Das Publikum gerät außer Rand und Band

Schon nach kurzer Zeit ist der Funke, den dieses bunte Ensemble hier entfacht, im Publikum entzündet. Als die Tanzenden hintereinander Michael Jacksons Moonwalk replizieren, gibt es kein Halten mehr. Es wird geklatscht und gejohlt, dass es nur so eine Freude ist. Der Spaß, die Lebenslust, die hier im wahrsten Sinne des Wortes gefeiert wird, ist ansteckend. Die höchst geschickte Regie reiht eine Tanzsensation an die nächste und lässt nach den Einzeldarbietungen die gesamte Kompanie tanzen. Aber es ist wiederum jeweils eine einzelne Person, die den Ton angibt. Die sich einen Tanz ausgesucht hat, der ganz der ihre ist. Den sie offenkundig liebt, in den sie mit Leib und Seele eintaucht und an vorderster Stelle performt.

Tanzquartier Wien: Jerôme Bel "Gala" © eSeL

Tanzquartier Wien: Jerôme Bel „Gala“ © eSeL

Dabei heben sich die Grenzen zwischen Profi und Laien völlig auf. Man staunt, wie behände ein kleines Mädchen zu einem spanischen Popsong über die Bühne fegt und wie schwer sich die Erwachsenen dahinter damit tun. Man bewundert die junge Gymnastin bei ihrem Tanz mit einem Tamburstab und lacht herzlich über die Ungeschicklichkeiten der anderen mit diesem Gerät. Man ist beeindruckt von der Vielfalt der Bodenbewegungen, die von der Dame vorgezeigt werden, deren Beine sie in den Rollstuhl gezwungen haben und man brüllt, was das Zeug hält, beim großen Finale von jenem jungen Mann, der mit langen Haaren und einem kurzen Bart vom Aussehen her Conchita Wurst Konkurrenz machen könnte. Seine Interpretation von New York, New York, die sich als Hommage an Wien entpuppt, ist umwerfend.

Tanzquartier Wien: Jerôme Bel "Gala" © eSeL

Tanzquartier Wien: Jerôme Bel „Gala“ © eSeL

Zuerst nachmachen, dann kritisieren

Kritische Geister könnten bemängeln, dass eine Vorstellung wie diese auch von jedem X-beliebigen, anderen Laienensemble auf eine Bühne gestellt werden könnte. Es ist dieselbe, falsche Argumentation, die man auch oft bei zeitgenössischer, bildender Kunst hört. „Das kann ich auch!“ Dagegenhalten kann man hier aber viel. Erstens kommt es darauf an, die Idee und den Mut zu so ungewöhnlichen und zugleich kreativen Leistung umzusetzen und damit große Häuser zu füllen. Zweitens ist es eine unglaubliche Leistung, Mittelmaß so zu präsentieren, dass eine Vorstellung von eineinhalb Stunden als viel zu kurz empfunden wird. Drittens bedeutet die Öffnung der Bühne für Menschen, die auf ihr keine Erfahrung haben, einen nicht zu unterschätzenden Solidarisierungsbeitrag innerhalb einer Gesellschaft.

Tanz, Kunst, Theater ist für alle da. Das ist die Botschaft von Jerôme Bel und dem Wiener Ensemble. Es ist aber auch eine Botschaft, die das enthusiasmierte Publikum sicherlich weiter nach außen trägt. Die Inklusion, die in dieser artifiziellen Umgebung hier vorgelebt wird, sodass sich das Publikum daran erfreuen kann, diese Inklusion kann, einem logischen Denkprozess zufolge, im Alltag ja wahrlich auch nicht so schwer sein. Denn da bedarf es keiner Proben, keiner Hingabe und nicht einmal einer Lebensidee. Der Wille allein, gemeinsam im Alltag sein Bestes zu geben, reicht schon. Bel setzt mit „Gala“ nicht nur eherne Bühnengesetze außer Kraft. Er oder besser die Darstellerinnen und Darstellen zeigen überdeutlich, dass es möglich ist, gemeinsam ein Ziel zu verfolgen und damit erfolgreich zu sein.

Und ewig grüßt der Vogerltanz

Und ewig grüßt der Vogerltanz

Es beginnt alles mit einem Sketch. Claire soll erraten, an welches Wort Richard denkt. Sie erhält dazu weder einen Hinweis, noch darf sie Fragen stellen. Die Aufgabe zu meistern klingt unmöglich – ist es auch. Unter der Moderation von Jerry und der Einspielung von Lachkonserven hat sie insgesamt drei Versuche für ihr Scheitern. Nachdem das Setting einmal durchexerziert wurde, geht es mit dem gleichen Sketch mit vertauschten Rollen weiter. Und weil es so schön ist, wird dies noch ungefähr 20 Mal wiederholt.

Die 2016 mit dem International Ibsen-Award ausgezeichnete Gruppe Forced Entertainment schafft es durch grandioses Schauspiel und Situationskomik tatsächlich, mit dem ewig gleichen Gag für Unterhaltung zu sorgen.

Aristoteles wäre begeistert gewesen

Laut Aristoteles hat das Antike Theater den Sinn, das Publikum durch die Überspitzung von Emotionen auf der Bühne, von eben jenen Emotionen zu reinigen. Das heißt in der Praxis, dass beispielsweise die dramatische Darstellung von Gewalt das Publikum dazu bringt, die eigenen brutalen Emotionen in ungefährlicher Weise auszuleben und nach der Vorstellung hinter sich zu lassen.

Aus heutiger Sicht ist die Katharsistheorie psychologisch gesehen unhaltbar. Aristoteles spricht allerdings einen Punkt an, der bis heute im Theater verfolgt wird: Das Erregen von Emotionen. Dass Theater nachdenklich stimmt, kommt durchaus öfter vor, aber richtig bewegend ist es nur in den besten Fällen. Und die Inszenierung „Real Magic“ war so einer.

real magic (c)Hugo Glendinning

real magic (c)Hugo Glendinning

Unter der künstlerischen Leitung von Tim Etchells verfolgt das Ensemble einen rezeptionsästhetischen Ansatz: Was macht das Stück mit dem Publikum? In der „Durational Performance“ Real Magic werden die Besucher und Besucherinnen des Tanzquartiers einem Wechselbad der Gefühle ausgesetzt. Mal amüsiert, dann wieder hemmungslos lachend, mal genervt, mal kurz davor zu gehen oder dazu geneigt, das Spiel selbst in die Hand zu nehmen.

Der Sketch wird mal schneller, mal langsamer von Claire Marshall, Richard Lowdon und Jerry Killick – drei der insgesamt sechs Performer von Forced Entertainment – aufgeführt. Die jeweilige Stimmung wird entweder durch die Musik von Georg Philipp Telemanns Fantasia Nummer 1 oder schneller Zirkusmusik untermalt. Auf der Bühne befinden sich nur zwei Sessel, ein Mikrofon, einige Leuchtröhren und Hahnenkostüme, die im Laufe der Performance zum Einsatz kommen.

Fragen, die nur das Publikum beantworten kann

Tatsächlich spielen Forced Entertainment mit mehr als nur einer Wiederholungsschleife ad infinitum. Sie spielen damit, wie wenig es an Text und Inhalt bedarf, um damit einen Abend zu füllen. Sie probieren, wie minimalistisch und einfach ein Tanz sein kann, um das Stück in einen tänzerischen Kontext einbetten zu können. Sie evozieren Publikumslachen aus der Konserve, aber auch live und laufen dabei auch Gefahr, dass unter Umständen niemand lacht. Und all diese Facetten, all diese Fragen stellen sie nicht sich selbst, sondern vielmehr dem Publikum. Dabei macht es sicher einen großen Unterschied aus, ob jemand Erfahrungen mit dem zeitgenössischen Theater hat oder nicht. Ob sich jemand auf absurde Szenerien einlassen kann und gleichzeitig die Fähigkeit hat zu erkennen, wie schauspielerisch anspruchsvoll diese Vorstellung ist. Ein und denselben Text in Abhandlungen zu sprechen, bei welchen die Personen andere Charaktere zugeschrieben bekommen, ist etwas, das jede Schauspielschule als Abschlussprüfung von seinen Schützlingen verlangen sollte. Und viele würden daran scheitern.

real magic (c) Hugo Glendinning

real magic (c) Hugo Glendinning

Nicht so Killick, Lowdon und Marshall. Das komödiantische Talent ist bei allen dreien gleich ausgebildet, dennoch trägt jeder und jede von ihnen ihr ganz persönliches Bühnen-Profil vor sich her.

Für bildende Künstler gilt eine Maxime: Nur wer mit seinen Arbeiten einen Wiedererkennungswert vorzuweisen hat, wird reüssieren. Diese Idee gilt in besonderem Maß für Real Magic von Forced Entertainment. Der sich ständig wiederholende Vogerltanz in der minimalistischen Ausformung, die nur möglich ist, die permanent wiederholten Fragen und Antworten – einmal ins Gedächtnis eingebrannt, werden sie dort auch verbleiben.

Würmer, Körperverständnis und Volkstanz

Würmer, Körperverständnis und Volkstanz

Werkstücke sind für gewöhnlich Arbeiten, die junge Handwerkerinnen und Handwerker im Laufe ihrer Ausbildung fertigen. Aus diesem Grund ist der Titel der gleichnamigen Reihe – „Werkstücke“ im Tanzquartier vielleicht ein wenig ungewöhnlich, aber nicht irreführend. Sind doch die Arbeiten, die dort alljährlich gegen Ende der Saison gezeigt werden, solche, die vom Choreografie- und Tanznachwuchs itself präsentiert werden. Von Menschen, die noch am Beginn ihrer Karriere stehen.

In diesem Jahr fand die Vorbereitung dazu unter der Leitung von Philipp Gehmacher statt. Jasmin Hoffer, Evandro Pedroni und Laura Unger suchten sich dafür Themen, die ihnen am Herzen lagen und präsentierten eine Palette von kurzen Performances, die breiter nicht angelegt werden hätte können.

Jasmin Hoffer (c) Oleg Soulimenko

Jasmin Hoffer (c) Oleg Soulimenko

Die aus Graz stammende Jasmin Hoffer beschäftigte sich in einer Art Körper-lecture in ihrer Arbeit „little worms can trigger big changes“ mit dem Phänomen von Würmern. Wer meint, dass es dabei abstoßend zuging, irrt. Selbst Wurmphobiker durften sich kein einziges Mal vor Ekel schütteln, denn Hoffer benutzte das Medium der Zeichnung, verbale Erklärungen, eine Filmeinspielung eines russischsprechenden Jungen, der allerhand über Regenwürmer gefragt wurde und nicht zuletzt ihren eigenen Körper, um das Publikum mit dieser besonderen Spezies vertraut zu machen. Die Mini-Projektion, die von einem Regenwurm auf den Boden geworfen wurde, durften alle, die es nicht wollten, geflissentlich übersehen. Interessant dabei war nicht nur ihr ganzheitlicher, pädagogischer Ansatz, sondern vor allem jene empathischen Beschreibungen, mit welcher sie sich in den Körper eines Regenwurmes einfühlte.

Der Brasilianer Evandro Pedroni zeigte mit „the eye oft he beholder“ eine hoch komplexe Choreografie auf einem niedrigen, tief blauen Podest. In mehrere Teile untergliedert, hatte das Publikum dabei jede Menge Gelegenheit zu Eigeninterpretation. Eine anschauliche Einfühlung in eigene Bewegungen, Wiederholungen von Alltagsgesten, eine nicht enden wollende Bewegungsspirale und eine Reihe von Micro-Bewegungen legten den Fokus ganz auf den Körper und seinen Ausdruck, ohne dabei einem narrativen Element zu folgen. In Pedronis Arbeit, welche an diesem Abend die körperintensivste war, konnte man eine breite Palette an neuen Bewegungsmustern erkennen und erhielt damit zahlreiche ästhetische Anreize.

Mit „einmal hin, einmal her“ präsentierte Laura Unger ein Werk, zu dem sie von ihrer Großmutter angeregt worden war. Darin ging sie deren Tanzlust nach, die die Dame in den 50ern in einem Volkstanzkurs am Land ausleben durfte. Unger begleitete sich bei ihren Erzählungen selbst auf einem Akkordeon und veranschaulichte, dass die Möglichkeit, sich mit Tanz Abwechslung im ruralen Alltag zu schaffen, eines der Highlights im Leben ihrer Großmutter war. Ihre Abschlussperformance, bei der man sich eine Volkstanzgruppe im Reigentanz vorstellen durfte, hatte große Klasse. Ein wunderbarer Gegenpol zu den allseits aufflammenden Dirndl-Holodrio-Exzessen, in dem Unger ohne falschen Pathos der Faszination Volkstanz nachspürte.

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