Millionen Opfer für nur einen Menschen

Millionen Opfer für nur einen Menschen

Michaela Preiner

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17.

November 2017

Großes Tanztheater, das einmal mehr zeigt, dass das Festspielhaus in St. Pölten bei zeitgenössischen Produktionen im internationalen Vergleich ganz vorne mitspielt.

Millionen Opfer für nur einen Menschen

Von Michaela Preiner

„Under Siege“ (Foto: LI Yi Jian)

17.

November 2017

Am Ende der Aufführung ist die Bühne in rotes Licht getaucht. Die unzähligen blutroten Federn, die sie bedecken, stehen für das Blut Tausender, Hunderttausender, Millionen von Opfern – wie der Erzähler es in einem seiner letzten Sätze formuliert.

Das Festspielhaus St. Pölten unter der Intendanz von Brigitte Fürle brachte ein zeitgenössisches Meisterwerk nach Österreich. „Under Siege“ der Chinesin Yang Liping gastierte in der niederösterreichischen Landeshauptstadt und riss das Publikum am Schluss zu Recht zu Standing Ovations hin.

Yang Liping, die, man kann es kaum glauben, trotz ihres jugendlichen Aussehens bereits ihr 40-jähriges Bühnenjubiläum feierte, stammt aus China. Einer Minorität angehörig und aus einem kleinen Dorf stammend, schaffte sie es dennoch, sich an die Spitze des zeitgenössischen Tanzes zu arbeiten. Und das, obwohl sie selbst lange Zeit den traditionellen, chinesischen Tanz pflegte. Für die opulente Inszenierung schuf Tim Yip ein aufwendiges Bühnenbild. Mehr als 10.000 Scheren ließ er vom Schnürlboden, unterschiedlich gestaffelt, herabhängen. Je nach Szene, wurde dieses Sinnbild höchster Gefahr auf- und abbewegt oder versperrte den Tanzenden auch ihren Weg auf der Bühne. An dessen rechten Rand saß Wang Yan, eine Scherenschnittkünstlerin, die jede neue Szene mit einem dazu passenden, chinesischen Schriftzeichen in einem  Scherenschnitt ankündigte. Mandarin-Unkundige durften die Übersetzung auf Videoschirmen mitlesen. Du Yichen und Feng Xiaofan spielten live auf mehreren chinesischen Instrumenten, aber auch bereits aufgezeichnete, symphonisch anmutende, musikalische Einspielungen ergänzten die Show.

Mithilfe eines Erzählers wurde darin der Machtübergang zur Han-Dynastie im 2. Jahrhundert v. Chr. verdeutlicht. Zwei rivalisierende Mächte, die Armeen der Chu und der Han kämpften dabei um die Vormachtstellung in China. Das Ensemble aus insgesamt 18 Tänzerinnen bzw. Tänzern trat in farbenprächtigen Kostümen auf und tanzte zu einer Musik, die eine feine west-östliche Mischung darstellte. Die Choreografie von Yang Liping oszillierte ebenfalls zwischen diesen beiden Polen und vermischte geschmeidige, asiatische Kampfkunst mit zeitgenössischem, westlichen Tanz. Dabei gab es Soli genauso wie Paarauftritte und Massenszenen, in welchen die Krieger der beiden Armeen gegeneinander antraten.

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Under Siege (Foto: LI Yi Jian)

Der Abend war nicht nur ein Fest für alle, die Tanz lieben. Die Üppigkeit, mit der die Bühne ausgestattet war, die ausgefeilte Lichtregie und die Musik selbst hielten sich die Waage und boten überwältigende Eindrücke am laufenden Band. Dabei präsentierte die Choreografin auch viele subtile Zwischentöne. Die Lebendigkeit, mit der sie von Beginn an den Sieger, Liu Bang, ausstattete, stand in krassem Gegensatz zur majestätischen Erstarrung von Xiang Yu. Seine Konkubine wiederum wurde, wie im traditionellen chinesischen Tanz üblich, von einem Mann dargestellt. Doch erst nach einem furiosen Solo, in dem der Tänzer seinen athletischen Körper aufs Ästhetischste präsentierte, wurde er als Frau eingekleidet. Ein wunderbarer Umgang mit der am Theater aktuellen Frage, inwieweit das Publikum nur mit Bühnenzauber gefüttert werden sollte, oder ob nicht auch die Menschen, die hinter den Rollen stehen, ein Recht darauf haben, erkannt zu werden. Auch die Doppelrolle des Generals Han Xin, die in einem schwarzen und einem weißen Kostüm angelegt war, kann man als außergewöhnliche Regieleistung bezeichnen. Sie machte die beiden Seelen in der Brust dieses Mannes deutlich, die in einigen Szenen hart miteinander ringen mussten.

Mit der endgültigen Verwandlung der Bühne in ein rotes Federmeer, unter dem die Tänzer artistisch um die eigene Achse rollend durchtauchten und dabei im übertragenen Sinne im Blut badeten, setzte Yang Liping den absoluten Höhepunkt der Inszenierung. Die entblößten Leiber der Soldaten, die bald zusammengesunken übereinander lagen und die Drehungen ihres Königs auf einem Bein um die eigene Achse – mithilfe einer unsichtbaren Apparatur – völlig aus dem Equilibrum geraten, bis er leblos, vorne überkippte, aber dennoch nicht fiel, veranschaulichten die Grausamkeit des Geschehens überdeutlich.

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Under Siege (Foto: DING Yi Jie)

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Under Siege (Foto: LI Yi Jian)

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Under Siege (Fotos: DING Yi Jie)

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Under Siege (Foto: DING Yi Jie)

Das Herabfallen der Scheren am Ende der Vorstellung, unter Getöse, symbolisierte das Ende des Blutvergießens und der Bedrohung. Die Han-Dynastie sollte, mit einer kurzen Unterbrechung, rund 400 Jahre andauern. Zugedeckt mit ihren eigenen Scherenschnitten, vermittelte Wang Yan das eindringliche Bild eines Grabes. Wohl stellvertretend für all jene ungezählten Toten, die ihr Leben für „nur einen einzigen Menschen“ lassen mussten. Auch diese Metaphorik ist berauschend. Macht die Choreografin doch damit darauf aufmerksam, dass nur die geschriebene Überlieferung dieser Begebenheit an all die Opfer erinnert.

Großes Tanztheater, das einmal mehr zeigt, dass das Festspielhaus in St. Pölten bei zeitgenössischen Produktionen im internationalen Vergleich ganz vorne mitspielt.

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