An der Bruchstelle zwischen Altem und Neuem

An der Bruchstelle zwischen Altem und Neuem

Michaela Preiner

Foto: ( )

28.

Mai 2022

Tschechows „Der Kirschgarten“ in der Inszenierung von Tiago Rodrigues, überzeugte bei den Wiener Festwochen gleich in mehrfacher Hinsicht.

In Reih und Glied sind auf der Bühne der Halle E im Museumsquartier Stahlrohrsessel mit Plastikgeflechten aufgereiht, so als ob sie auf ein Publikum warten würden. An der rechten Wand stehen massive, mehrarmige Lampenkonstruktionen, bestückt mit Kristallleuchtern aus den vergangenen 200 Jahren. Vom Biedermeier-Lüster bis hin zu einer kugeligen Design-Variante unserer Tage ist alles vertreten. Wie schwere Früchte hängen sie an artifiziellen Ästen, machen aber auch darauf aufmerksam, dass die Herrschaft auf dem russischen Gut, auf dem sich Anton Tschechows „Kirschgarten“ abspielt, über mehrere Generationen angedauert hat.

Im rechten Bühnenhintergrund ballt sich eine kleine Menschengruppe zusammen. Es ist das Ensemble des Regisseurs Tiago Rodrigues, der die Schauspielerinnen und Schauspieler für seine Inszenierung des russischen Bühnenklassikers aus verschiedenen europäischen Ländern zusammengerufen hat.  „Es ist das erste Mal, dass ich mir das Ensemble für die Besetzung von ganz bestimmten Rollen aussuchte“, erklärte der zukünftige Leiter des Festivals von Avignon beim Publikumsgespräch im Anschluss an die Premiere. 2021 fand die Uraufführung in Avignon statt, die Wiener Festwochen sind einer von insgesamt zehn weiteren Kooperationspartnern, die das Stück noch zeigen werden. Die hier gezeigten Fotos stammen aus dem Setting von Avignon. Die Bühne im Museumsquartier wirkte jedoch nicht nur lichttechnisch, sondern vorrangig wegen des modernen Ambientes, gänzlich anders. Bei seinen vorherigen Arbeiten, von welchen bereits drei in den vergangenen Jahren bei den Wiener Festwochen vertreten waren, hatte der portugiesische Regisseur mit dem Ensemble gemeinsam die Rollen entwickelt. Ursprünglich wollte er sehen, wie er mit Tschechow umgehen könne, doch rasch schon war ihm klar: Es sollte kein einziger Satz anders sein, als der Schriftsteller diese formuliert hatte. „Alles ist perfekt an dem Text, es wäre vermessen, etwas hinzuzufügen oder wegzulassen“ – so sein weiterer Kommentar.

Ausgehend von seiner Wunschbesetzung, der Gutsherrin Lioubov, für die er Isabelle Huppert gewinnen konnte, formierte er um sie herum ein diverses Team mit einigen People of Color. Allerdings war laut Rodrigues damit keine dramaturgische Idee verbunden. Dass sich dadurch an einer bestimmten Stelle jedoch ein besonderes Interpretationsfenster öffnete, sei ihm und dem Ensemble erst während der Proben bewusst geworden.

Die Bühnenausstattung von Fernando Ribeiro bleibt das ganze Stück über zwar bestehen, wird jedoch im Laufe der Zeit umgestellt und bewegt. Bald schon werden die Stühle zu einem großen Stuhlhaufen zusammenstellt – sinnbildlich für die Veränderung, die im Gutshaus, um den herum sich der schöne Kirschgarten befindet, vonstattengehen. Tschechow beschrieb in diesem Stück den Untergang der Feudalzeit mit seiner Leibeigenschaft und das Aufkommen eines neuen Systems, in dem sich aus Armut befreien kann, wer Glück und Können hat. Dieser Umbruch, der das Gesellschaftssystem komplett verschob, macht Ribeiro wirksam sichtbar. Am Ende werden die großen Lampen-Konstrukte nicht mehr rechts entlang, sondern links entlang der Bühne stehen und kein Stuhl mehr in dessen Mitte zu sehen sein. Die Macht, die sich nach der Zarenherrschaft in Russland vom politisch rechten hin zum linken Rand verschoben hat und zugleich die Leere einer Gesellschaftsordnung, die es erst zu füllen galt – all dies schwingt in diesem Bühnenbild grandios mit.

Zu Beginn des Abends führt Adama Diop jedoch mit wenigen Worten in Tschechows Stück ein und erzählt kurz über dessen Entstehung. Danach verkörpert er fulminant die Rolle von Lopakhine, jenem Mann, dessen Eltern und Großeltern noch Leibeigene am Gut von Lioubov waren. Zu Wohlstand gekommen, wird er es sein, der dieses schließlich ersteigern wird. Das Durchbrechen der „vierten Wand“ ist nicht nur am Anfang der Aufführung spürbar. Viele der Monologe werden von den Schauspielerinnen und Schauspielern nicht an ihr persönliches Gegenüber, sondern direkt ins Publikum gerichtet. Vor Beginn des vierten Aktes tut Diop dies noch einmal, um anzumerken, dass das Stück eigentlich an dieser Stelle – nachdem das Gut versteigert wurde – zu Ende hätte sein können. Tatsächlich fügte Tschechow den letzten Akt erst später hinzu, da er den „Kirschgarten“ nicht als Drama, sondern als Tragikomödie verstanden wissen wollte. So befriedete er nach dem großen finanziellen, aber auch psychischen Crash, der alle Personen traf, die mit dem Gut in Verbindung gewesen waren, das Geschehen durch eine Abschiedsszene. Die Zukunft aller Beteiligten ist zwar ungewiss, dennoch machen sich alle hoffnungsfroh auf und zerstreuen sich in alle Winde. Nur Lioubov, die erkennen muss, dass die unbeschwerte Zeit des Geldausgebens ein für alle Mal für sie vorbei und ihr Elternhaus verloren ist, und der alte Diener Firs, der seinen Lebensinhalt, das Dienen, verloren hat und nun allein zurückbleibt, sind die einzigen, die keinen Hoffnungsschimmer mehr haben.

Tiago Rodrigues fügt dem Geschehen eine weitere, monumental-musikalische Ebene hinzu, mit der er die einzelnen Szenen geschickt voneinander trennt und zum Teil auch untermalt. Manuela Azevedo und Hélder Gonçales rocken mit einem Stage-Piano, Drum-Klängen und einer E-Gitarre nicht nur die Bühne, sondern den Saal und verschieben damit zugleich die Erzählung in die Gegenwart. Die Figuren legt der Regisseur scharf an der Grenze zu einer Commedia dell’Arte-Manier an. Wenn sie sich freuen, sind sie außer Rand und Band, hüpfen, springen und jauchzen. Große Gesten, aber auch starke, emotionale Momente, die allen voran Isabelle Huppert mit Bravour beizusteuern weiß, kennzeichnen dieses Spiel. Faszinierend zu sehen, wie es ihr gelingt, innerhalb von einem Augenblick von der überdrehten, lebenslustigen Frau in eine, um ihren Sohn tief trauernde, zu wechseln. Dieses stark empfundene Gefühl überträgt sich augenblicklich ins Publikum und macht zugleich deutlich, mit welch hoher Schauspielkunst Huppert hier agiert.

Um nichts nach steht ihr Marcel Bozonnet, der den alten Diener Firs spielt. Eingekleidet wie Freddie Frinton als Bediensteter im weltberühmten Dinner-for-one-Sketch und auch mit dessen tollpatschigem Habitus agierend, berührt er vom ersten bis zum letzten Auftritt die Zusehenden. Adama Diop schafft allein durch seine Hautfarbe schließlich jenen Wendepunkt in der Interpretation, der das Stück unter einem gänzlich neuen Blickwinkel betrachten lässt. Hin- und hergerissen zwischen Wut und Zorn, die aus der Geschichte seiner Familie resultieren und der für ihn noch nicht wirklich zu fassenden neuen Rolle als Gutsbesitzer durchlebt er psychologische Höhen und Tiefen, welchen er nicht wirklich gewachsen ist. In seiner furios angelegten Rechtfertigung des Gutskaufes schwingt enorm viel von jener kolonialen Brachialgewalt mit, unter deren Nachwirkungen die meisten der ehemaligen europäischen Kolonien noch heute zu leiden haben.

Dieser Interpretationsansatz kann – auch wenn er ursprünglich nicht intendiert war – in der kritischen Betrachtung der Inszenierung nicht außer Acht gelassen werden. Er schwingt stark mit, hervorgerufen durch unseren Zeitgeist, in dem vor allem auch die Kunst einen wichtigen Beitrag zur Verarbeitung dieser verbrecherischen, menschenverachtenden und ausbeuterischen Geschehen zu leisten hat. Dass es immer die Brille der Betrachtenden selbst ist, welche dazu beiträgt, Ereignisse individuell zu beurteilen, ist bekannt. Der Umstand, dass in den Theatern in Österreich diverse Ensembles noch die Ausnahme sind, trägt zu dieser Sichtweise jedoch stark bei. Wenn die Betrachtungsweise eines Stückes allein durch die Hautfarbe eines Schauspielers eine neue Wendung bekommen kann, darf man rückschließen, wie groß der Aufholbedarf in Bezug auf Diversität auf unseren Bühnen ist.

Isabel Abreu, Tom Adjibi, Nadim Ahmed, Suzanne Aubert, Océane Caïraty, Alex Descas, David Geselson, Grégoire Monsaingeon sowie Alison Valence – sie alle seien ausnahmslos für die intensive Darstellung ihrer Rollen genannt.

Das Festhalten an Tschechows ursprünglichem Text, die Beigabe einer starken musikalischen Komponente, ein Ensemble, in dem jeder und jede Einzelne mehr als überzeugten und die Tatsache, dass der vorgeführte gesellschaftliche Umbruch leicht in unsere Zeit zu übertragen ist, zeichnen diese Inszenierung als eine sehr erinnernswerte aus.

 

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