Vom Feenland in den atomaren Supergau

Vom Feenland in den atomaren Supergau

Für das Publikum gestaltete sich die Raumsituation jedoch anders als gewohnt. Das Parkett war in seiner Mitte von den Sesselreihen befreit. Auf dem Konzertpodium und entlang der seitlichen Sitzreihen waren insgesamt 50 Klaviere und ein Cembalo sowie das Klangforum mit seinen Instrumenten verteilt. Auf diese Weise war es möglich, während der Aufführung im Saal seinen Platz zu wechseln, was jedoch aufgrund der vielen Menschen nur wenige tatsächlich auch taten. Zu dicht stand man etwas über eine Stunde lang nebeneinander, entschädigt jedoch durch die Musik, die als Programm-Musik bezeichnet werden kann.

Im Vorfeld schon wurden einzelne Teile des Klanggeschehens analysiert und besprochen, wurde dem Werk eine breite Palette an unterschiedlichen klanglichen Ausdrucksmitteln attestiert. Aus diesem Grund soll hier der Fokus auf andere Ebenen der Komposition mit dem Titel „11.000 Saiten“ gelegt werden.

Zuallererst verblüfft die Tatsache, dass Haas mit einem Klangapparat arbeitet, der sehr ungewöhnlich ist. Neben den herkömmlichen Streichern und Bläsern, sowie Percussion-Instrumenten verlangt er ein Cembalo und 50 Klaviere, die von der Firma Hailun zur Verfügung gestellt wurden. Auf deren Homepage liest man, dass das seit 20 Jahren bestehende chinesische Unternehmen Klaviere mit hohem Anspruch zu günstigen Preisen anbieten möchte und weiter, dass für die technische Entwicklung das Fachwissen des Wiener Klavierbauers Veletzky herangezogen wurde. Mit diesem Konzert hat sich der Bekanntheitsgrad von Hailun nicht nur bei jenen 50 Studierenden der MDW gesteigert, die auf den Klavieren spielten. Auch jener Teil des Publikums, der im Parterre vor den Instrumenten zu stehen kam, dürfte das erste Mal den Firmennamen auf den Instrumenten gelesen haben.

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11.000 Saiten von Georg Friedrich Haas (Foto: Markus Sepperer)

Haas lässt, zur großen Verblüffung, das Stück mit einigen Takten Cembalo-Musik beginnen. Die Orchesterbegleitung, die rasch einsetzt, verfremdet das Geschehen ein wenig und holt es aus einem barocken Umfeld in die Gegenwart. Kaum meint man, im nächsten Moment einem Feen- und Zauberspiel beizuwohnen, schon wird dieser Eindruck durch einen großen, symphonischen Schlussakkord abgelöst. Einem Schlussakkord, der kurioserweise ganz zu Beginn des Werkes steht. Ihm folgen Klänge, die an die Zündung einer Rakete denken lassen, ein Hörerlebnis, weitab von einem historischen Vorbild. Ab diesem Zeitpunkt beginnt ein sich wiederholendes, zugleich jedoch ständig wandelndes Kompositionsmuster, das durch Tension und Entspannung gekennzeichnet ist. Fast hat es den Anschein, als ob das klangliche Geschehen etwas Organisches wiedergibt, dessen Atmung wesentlich breiter und länger angelegt ist als jene von uns Menschen. Tatsächlich arbeitet Haas mit extrem assoziativem Material. Einen Großteil davon widmet er der Wiedergabe von technischen Klangereignissen. Dazu gehören, wie schon beschrieben, das Zünden einer Rakete oder das Aufheulen von Motoren, bei welchen man sich gut den Himmel voll bedrohlich wirkender  Propeller-Flugzeuge vorstellen kann. Sobald ein harmonischer Wohlklang auftaucht, wird er bald darauf dissonant abgestoppt. Immer wieder sind es die Pauken, die ein Klanggeschehen abrupt beenden. Nervöse Passagen, die Unheil verkündend wahrgenommen werden können, werden durch dunkel gefärbte Akkorde, dunkles Blech und ein Zittern in den Klavierstimmen erzeugt. Lange begleitet dabei ein tiefer Ton der Bläser die Erzählung, die sich, wie in guten Theater- oder Filmstücken, erst am Ende des Geschehens zu einem großen Ganzen fügt.

Haas legt seiner Komposition augenscheinlich eine Dramaturgie zugrunde, die als knappe Erzählung der Menschheitsgeschichte aufgefasst werden kann. Dabei beginnt er im Barock und wandert anschließend in wenigen Takten bis herauf in unsere Zeit. Immer wieder hört man zwischendurch die Klaviere, aber auch einzelne andere Instrumente „Musik machen“ – kleine Abfolgen von Tönen zu spielen, Akkorde zu formen oder auch ausformulierte Arpeggien anzuschlagen, ganz so, wie es Musikerinnen und Musiker rund um den Erdball tagtäglich tun. Ihnen entgegengesetzt bekommt die Technik ebenfalls einen hörbaren Raum. Die für Haas so typischen Klangschrauben, die sich permanent aufwärts bewegen, machen dennoch rasch klar, dass die Aufwärtsspirale nicht unendlich fortsetzbar ist.  Mit ihnen verbindet man keine erbaulichen Raumflüge mehr, denen man rettend beiwohnen kann. Ihr wahrer Gehalt bleibt diffus und zeigt sich erst ein wenig später, als das Klangmaterial umgedreht wird und die Höhe des musikalischen Geschehens förmlich Stück für Stück in sich zusammenzufallen und zu zerbröseln beginnt.

Wenn lang gezogene Klangflächen gespielt werden, erweitert sich das Hörspektrum durch die im mikrotonalen Abstand gestimmten Klaviere, da die additiven Akkorde weit weniger statisch erscheinen als bei herkömmlichen, gleich gestimmten Saiteninstrumenten. Der Einsatz von Bongos, die an das Prasseln eines plötzlichen Regengusses denken lassen, oder das hohe Gezirpe von Streichern und Bläsern, in welchen Vogelstimmen hörbar werden, vermitteln eine direkte organische Verbindung zu unserer Welt. Diese ist jedoch weder heiter noch fröhlich. Was da zu hören ist, ist vielmehr ein Jammern und Zetern mit einer unterschwelligen Angst vor dem Kommenden. Neben den kleinen Lebewesen, die vor dem inneren Auge hier erscheinen, sind es aber auch überdimensioniert große, die zu brüllen beginnen, als ob ihnen ihre letzte Stunde geschlagen hätte.

Und tatsächlich tritt das, was die Tierstimmen schon vorausahnten, auch wirklich ein. Mit einer unglaublichen Wucht bricht der auditive Supergau in den Saal. Alle Instrumente, vorrangig das Schlagwerk, kommen zum Einsatz, um eine Explosion hörbar zu machen, die wir zum Glück gar nicht kennen, sondern uns nur vorstellen. Der Sound ist so laut, dass der Boden unter den Füßen zu vibrieren beginnt, so heftig, dass man meint, man könne die Luft zerschneiden. Nicht einmal ereilt das Publikum dieses multidimensionale Erfahrung, sondern mehrfach hintereinander, mit abnehmender Intensität, so oft, bis die Explosionen wie aus der Ferne wahrgenommen werden. Das Hochschrauben der Klänge und ihr späterer Zerfall, die Nervosität der unbekannten, aber doch vorstellbaren Tiere, das Abheben der Rakete und die atomaren Explosionsgeräusche nach einer Kernexplosion, all das fügt sich in der Replik zu einem musikalischen Drama, das keine Worte benötigt.

In diesem lässt Haas unsere eigene Position jedoch offen. Wer hat sich im Raumschiff auf die Reise von der Erde weg gemacht? Wer ist hier geblieben und hat – ungeachtet des drohenden Kollapses fröhlich weiter musiziert? Wo befinden wir uns aber, die wir die Explosionen gehört und gespürt haben? Eine Wahrnehmung ist ja nur dann möglich, wenn wir das Inferno unbeschadet überlebt haben. Aber von wo aus? Haben wir das Ende unseres Planeten miterlebt oder ist es nur eine Vorstellung, die uns auffordert, aktiv zu werden und alles zu unternehmen, damit sich unsere Natur wieder erholen kann? Gerade diese Offenheit des Werkes macht es so spannend und diskussionswürdig.

Georg Friedrich Haas „11.000 Saiten“ ist vielschichtig, nicht nur wegen der mannigfaltigen Interpretationsmöglichkeiten. Es zeigt auch seine Meisterschaft, organische Klänge zu produzieren, die man heute von computergesteuerten Programmen her kennt. Der Umstand, dass das Publikum minutenlangen, frenetischen Beifall spendete, macht deutlich, dass diese Leistung verstanden wurde und breite Zustimmung erreichte.

Der Sog des Weltalls

Der Sog des Weltalls

Das Publikum durfte dabei in 70 Minuten eine visuelle Zusammenfassung von der Entstehung des Weltalls – inklusive Urknall-Effekt – bis hin zur Ausbildung unseres Sonnensystems erleben. Begleitet wurde die Video-Animation von 11 Musizierenden unter der Leitung von François-Pierre Descamps.

Für das Konzept und die Dramaturgie war Kristine Tornquist verantwortlich. Mit dem Astronomen und Leiter des Planetariums, Michael Feuchtinger und dem Astronomen Konstantin Kirner, zuständig im Planetarium für Wissensvermittlung, holte sie sich zwei profunde Kenner der Materie an Bord. Gemeinsam schufen sie ein Klang-Raum-Erlebnis der besonderen Art. Das Werk wurde für fünf Stimmen – zwei Countertenöre, zwei Tenöre und einen Bassbariton sowie sechs Instrumentalisten (Trompete, drei Posaunen und zwei Schlagwerker) geschrieben. Die Entstehung des Weltalls und letztlich auch der Erde und des Menschen an sich wurde – musikalisch anschaulich – auch durch einen sich erst im Laufe der Komposition entwickelten Sprachgesang wiedergegeben. Hörte man zu Beginn nur aneinandergereihte Silben, verdichteten sich diese mit der Zeit hin zu erkennbaren Worten und Sätzen.

Häufiger Posaunen- und Paukeneinsatz, ein Glockenspiel, sowie ein großer Schlagwerkapparat verliehen dem bunten Sternenspektakel eine ebenso farbenfrohe musikalische Untermalung. Von dramatisch bis hin zu kostbaren Schwebezuständen, erzeugt von den Stimmen, reichte die klangliche Palette. Obwohl Clemencic ein ausgewiesener Kenner Alter Musik war, griff er in diesem Werk ins volle Kompositions-Repertoire der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Atonales und Dissonantes überwog über lange Strecken, dennoch gelangen ihm zum Teil auch höchst sphärisch gestaltete Momente. Wer wollte, konnte auch Assoziationen zur Orff`schen Carmina-Burana-Klangwelt assoziieren. Raues und Unbehauenes Notenmaterial entwickelte sich zu Differenzierterem und Komplexerem und ließ zugleich Spielraum für eigene Empfindungen.

Einziger Wermutstropfen war die Raumakustik. So wunderbar die visuelle Aufarbeitung mithilfe des modernsten Sternenprojektors der Welt gelang, so fein austariert auch das Ensemble musizierte, das Klangstrahlen, das durchaus in der Komposition von Clemencic vorhanden ist, blieb aufgrund der Akustik, die mehr vom Klang schluckte als preisgab, leider aus. Kopfhörer hätten in diesem Fall wahrscheinlich eine Abhilfe geschaffen. Dennoch eine abermals beeindruckende Produktion des Sirene Operntheaters.

Ohne Papiere bist du vogelfrei

Ohne Papiere bist du vogelfrei

Ohne Papiere bist du vogelfrei

 

„Totenschiff“ (Foto: Armin Bardel)

28.

November 2018

Ein Mensch ist ein Mensch, ist ein Mensch. Aber nur, wenn er Ausweispapiere hat. Im „Totenschiff“, einer „Song-Oper“ von Oskar Aichinger wurde dieses Thema sehr plakativ vor Augen geführt. Unter der Regie von Kristine Tornquist wurde im Rahmen von Wien Modern die Geschichte des Seemanns Gale nach der Roman-Vorlage von B. Traven erzählt.

Einem in Mexiko gelebt habenden Literaten, dessen eigentlicher Name Otto Feige gewesen sein dürfte. Der ehemalige deutsche Maschinenschlosser und Gewerkschaftssekretär taucht nachweislich um 1942 in Mexiko auf, allerdings ist vieles in seiner Biographie unvollständig und rätselhaft.

Der Romanautor, von dem es auch eine Reihe von Erzählungen gibt, vertrat eine kapitalismuskritische Haltung und schrieb in ironisch-sarkastischem Duktus. Der Stoff, aus dem „Das Totenschiff“ besteht, ist zum Teil autobiografisch. Bei einem Landurlaub in Antwerpen verliert der Matrose Gale seine Papiere und damit auch, wie im Laufe der Inszenierung klar wird, jegliches Recht.

Im stimmungsvollen „Reaktor“ in der Geblergasse, einem langgestreckten historisierenden Raum aus dem 19. Jahrhundert, war ein sparsames, aber stimmiges Bühnenbild mit abstrahierten Videoeinspielungen (Ausstattung Max Kaufmann, Mirjam Mercedes Salzer) ausreichend, um Gale nicht nur durch verschiedene Länder marschieren zu lassen. Er heuerte auch bei einem höchst maroden Schiff an, um dort – ungewollterweise – als Kohlenschaufler zu landen.

B. Traven zeigt in seinem Buch auf, dass papierlos sein gleichzusetzen ist mit keinerlei Rechte mehr haben und Menschen, denen dies passiert, sich rasch in der untersten, sozialen Hierarchiekette wiederfinden. Obwohl der Roman 1926 veröffentlicht wurde, hat er traurigerweise jede Menge Aktualitätsbezüge.

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„Totenschiff“ (Foto: Armin Bardel)

Die Kostüme (Nora Scheidl) und die Regie gaben der Inszenierung die Note eines moralisierenden Bilderbuches für Erwachsene, bei dem hin und wieder Brecht und Weill als Paten von Ferne grüßen ließen. Mit überzeichneten Figuren, begonnen von Gale selbst über Polizisten, Kapitäne, Schmuggler oder einen Konsul (Bernhard Landauer, Richard Klein, Clemens Kölbl, Horst Lamnek) war klar, dass das Gezeigte nicht als Geschehen aufgefasst werden sollte, das nur mit der Figur des unglücklichen Seemanns verknüpft ist. Vielmehr zeigten B. Traven und Tornquist in ihrer adäquaten Bühnenübersetzung Prototypen, die massenweise ähnliche Schicksale erfahren wie der Hauptprotagonist. Die Ironie, die Traven immer wieder verwendet, fand in der Bühnendarstellung der Polizisten und des Konsuls ihre Entsprechung. Mit Tanzschritten ausgestattet, zum Teil in Countertenorlage, boten diese Charaktere eine passende, augenscheinliche Persiflage ihrer Rollen.

Voll von Optimismus beginnt Gernot Heinrich in seiner Rolle als Gale, sein Schicksal trotz fehlender Papiere in die Hand zu nehmen. Sein feiner, sehr lyrisch ausgestatteter Tenor traf dabei in mehrfachen Duetten auf den geschmeidigen und zugleich kräftigen Sopran von Romana Amerling. Als „Großer Kapitän“ oder auch Schicksal, stand sie ihm auf all seinen Odyssee-Stationen immer wieder zur Seite, griff jedoch nie helfend ein.

Jury Everhartz leitete das ensemble sirene mit sichtbarem Enthusiasmus aber auch viel Gefühl für Feinheiten. Musikalisch ist die Song-Oper vielfältig angelegt. Oskar Aichinger illustriert Erinnerungen an New Orleans mit dementsprechend jazzigen Klängen, verwendet eine ganze Reihe von Tanz-Rhythmen, erinnerte während der Frankreich-Reise des Hauptprotagonisten an Edith Piafs „padam“, unterstrich das Auslaufen des maroden Schiffes mit einem wilden Marsch, der sich zu einer behäbigen Polka verwandelte und verlieh dem Schicksal in luftiger Höhe immer wieder ein stimmgewaltiges, melodiöses Zwischenspiel. Johann Leutgebs kräftiger, klarer Bariton passte wunderbar zu seiner Rolle. Als Stanislawski fand er in Gale, kohlenschaufelnd unter Deck, einen Freund bis zur letzten Stunde.

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„Totenschiff“ (Fotos: Armin Bardel)

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Die süße, verführerische Melodie, die Aichinger dem Schicksal am Ende seiner Oper singen lässt, lässt, sicher nicht zufällig, an jene Sirenen-Klänge denken, welche Odysseus Mannschaft in den Tod trieben. Das Eintauchen in die kalte See, in der Gale und sein Freund Stanislawski letztlich ertrinken, geschieht in dunkles Blau getaucht, beinahe erlösend. Welch schöner, vielleicht sogar ungewollter Verweis auf das sirene-Ensemble, welches diese Oper aus der Taufe hob.

Eine intensive Produktion, die sich musikalisch weder dem Gestern noch dem Heute anbiedert und gerade deswegen außerhalb der gängigen, zeitgenössischen Opernproduktionen steht.

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Zugvögel können Nester bauen

Zugvögel können Nester bauen

"Über uns der Himmel"  Dschungel Wien (Foto: Rainer Berson)

In Zeiten wie diesen ist es unumgänglich, sich im Theater mit dem Thema Migration auseinanderzusetzen. Wie das in vorbildhafter und zugleich höchst poetischer Weise geschehen kann, zeigte der Dschungel Wien. „Über uns nur der Himmel“ war der Titel einer Koproduktion mit „Wien Modern“, für die Corinne Eckenstein gemeinsam mit Sanja Tropp-Frühwald die Choreografie erarbeiteten.

Eine Gruppe, zusammengesetzt aus Tanzprofis und Kindern zeigten zu Musik von drei Komponistinnen und acht Komponisten ein ganzes Spektrum an Annäherungen zu diesem Thema, ohne jemals den Belehrungsfinger oder einen Holzhammer auszupacken. Vielmehr durfte das Publikum in ein Abenteuer eintauchen, das Schrecken einer dunklen Nacht genauso bereit hielt wie ausgelassenes Spiel und Freude am Entdecken von Neuem. Und dies anhand einer Kinderschar, die sich gezwungenermaßen – wie Zugvögel – auf den Weg machen müssen, um ein neues Zuhause zu finden.

Dabei gelangen sie immer wieder an eine Mauer, die sie nicht überwinden können, oder über die sie, hochgehievt, nur sehnsüchtig blicken können. Vieles, was in dieser Inszenierung im Tanz „erzählt“ wird, ist intuitiv nachvollziehbar. Die Müdigkeit, die schier endlose Reise, der Schlaf, der sie überkommt, das Gemeinschaftsgefühl und der Kampf gegen Unbekanntes und Verbotenes. In flüssigen Bewegungsabläufen mit zum Teil synchronen Passagen, einer außergewöhnlichen Szene, in welcher eines der Mädchen in tiefem Schlaf, wie leblos von ihrem erwachsenen Begleiter gehoben, geschoben, gehievt, gerollt und behutsam bewegt wird, ist der Tanz ein adäquates Mittel, Emotionen, aber auch jede Menge Bilder im Kopf zu vermitteln.

Vier Frauen sitzen mit langen Tarnröcken auf einem kleinen Podest und spielen ein Streichquartett

Koehne-Quartett (Foto: Rainer Berson)

Das Koehne-Quartett tritt dabei optisch, trotz andauernder Bühnenpräsenz, durch tarnfarbige Kostüme, in den Hintergrund. (Kostüme und Bühne Ilona Glöckel) In kurzen Stücken, angesiedelt zwischen Wohlklang und gänzlicher Atonalität, wird eine musikalische Begleitung geboten, die sich atmosphärisch den jeweiligen Vorgängen anschmiegt. Sich auf den Weg machen zu müssen und keine Bleibe zu haben, nicht einmal ein Nest, so wie dies die Zugvögel tun können, ist das Hauptthema von „Über uns nur der Himmel“ und regt, anders als Diskurse über Flüchtlingsströme, nicht vorrangig zum Nachdenken, sondern zum Mitfühlen an. Und so wechselt das Geschehen auch immer wieder zwischen Vogel- und Menschengemeinschaften und bietet sogar einen bezaubernden Tierzirkus.

Die Kunst, Profis und Kinder so auf der Bühne zu vereinen, dass es dabei zu keinen Hierarchien kommt – diese Kunst beherrschen Eckenstein und Tropp-Frühwald exzellent.

Koehne Quartett: Joanna Lewis, Violine, Diane Pascal, Violine, Lena Fankhauser, Viola, Mara Achleitner, Violoncello

TänzerInnen: Jaskaran Anand, Silvia Both, Lino Eckenstein, René Friesacher, Roni Sagi; Tanzcoach Gat Godovich

DarstellerInnen: Laura Biz, Lino Eckenstein, Greta Follak, Sophia Valentina Gomez Schreiber, Sina Pourkarami, Sam Tosun

Musik von: Christine Burke, Angélica Castelló, Denis Dufour, Joanna Lewis, Dimitris Mousouras, Max Nagl, Werner Pirchner, John Psathas, Ahmed Adnan Sygun, Peter Sculthorpe und Paul Stanhope

Ein Konzertabend ohne Dirigat

Ein Konzertabend ohne Dirigat

Ein Konzertabend ohne Dirigat

 

Eröffnungskonzert Wien Modern (Foto: Markus Sepperer)

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November 2018

Es ist schon eine Selbstverständlichkeit, dass die Konzerte von Wien Modern eine unglaublich gute, inhaltlich kongruente Programmierung aufweisen. Unter Beweis stellte dies der Intendant, Bernhard Günther, gleich beim Eröffnungskonzert der Saison 2018 im Konzerthaus, die unter dem Motto „Sicherheit“ steht.

Dabei zeigte sich, dass das Generalthema schon auch einmal schwer hinterfragt, wenn nicht sogar auf den Kopf gestellt werden darf. Denn in dem Konzert mit den Wiener Philharmonikern war – zumindest für das Orchester – überhaupt nichts sicher.

Schließlich sind es die Musizierenden gewohnt, einen Dirigenten oder eine Dirigentin als Sicherheitsanker vor sich zu haben. Jemandem, mit dem das Konzert nicht nur erarbeitet wurde, sondern jemanden, der dieses letztlich auch leitet. An diesem Abend aber mussten sie ohne Dirigat auskommen. Dass dies dennoch funktionierte, hängt einerseits mit den ausgesuchten Stücken zusammen. Andererseits aber auch mit dem herausragenden Klangkörper und seinem Konzertmeister, Rainer Honeck, der spürbar eine Art interimistische Leitungsfunktion übernahm.

Gleich zu Beginn wurde jenes legendäre Stück von John Cage performt, in dem kein einziger Ton gespielt wird. 4‘33‘‘ aus dem Jahr 1953 beeindruckt das Publikum jedes Mal aufs Neue und ist mittlerweile – mit der Handynutzung – in unserer Zeit angekommen. Das „Einfrieren“ des Orchesters, das nach jedem der drei „Sätze“ kurz unterbrochen wurde, erzeugte ein ganz eigenartiges Gefühl. So, als ob die Zeit stehen geblieben und der Saal samt Orchester und Publikum aus jeglicher Zeitmessung gefallen wäre. Dass kurz vor Ende ein Mann sich aus den hinteren Parkettreihen bemüßigt fühlte, ein lautes „Alleluja“ von sich zu geben, erweiterte Cages Idee durch eine persönliche Wortmeldung humorig. Und zeigte zugleich auch, dass jede einzelne Aufführung von 4‘33‘‘ Komponenten bereithält, die zum Teil auch nicht vorhersehbar sind.

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Eröffnungskonzert Wien Modern (Foto: Markus Sepperer)

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Eröffnungskonzert Wien Modern (Foto: Markus Sepperer)

Ein absolutes Konzerthighlight folgte im Anschluss mit der „Verklärten Nacht“ von Arnold Schönberg. Ein häufig gespieltes Stück, das jedoch an diesem Abend so interpretiert wurde, dass man es ohne Übertreibung als Referenzaufnahme titulieren kann. Es sind nur Mutmaßungen, warum an diesem Abend die Spannung, die dem Stück innewohnt und das Drängen, das darin zum Ausdruck kommt, derart intensiv waren und warum die Pianissimo-Stellen eine sphärische Kraft entwickelten, die in dieser Art nicht selbstverständlich ist.

Ein Erklärungsmodell hängt damit zusammen, dass das Fehlen einer dirigierenden Person alle Kräfte eines Orchesters offenbar dermaßen mobilisierst, das Sensorium für ein gelungenes Zusammenspiel derart schärft, dass es zu einer Höchstleistung angestachelt wird. Denkbar ist auch, dass das Erarbeiten des Stückes ohne Dirigat in einer Art und Weise vonstatten geht, in welcher sich die Musikerinnen und Musiker wesentlich stärker einbringen können als dies der Fall ist, wenn ihnen eine Interpretations-Idee, die von außen kommt, vermittelt wird. Schließlich wird die Klasse der Musizierenden auch insofern deutlich, als sich alle aufeinander blind verlassen können und wissen, dass rund um sie herum nur musikalische Exzellenz arbeitet. Es wäre wunderbar, wenn der ORF, der das Konzert live in Oe1 übertrug, diese Aufnahme auskoppeln könnte und vielleicht mit anderen Highlights der Philharmoniker oder des Festivals auf CD anbieten würde. Zumindest bis zum 4. November besteht noch die Möglichkeit, es auf der Seite von Oe1 nachzuhören.

Mit dem zweiten Cage-Stück – Sixty-Eight – wurde abermals klar, dass moderne Mobiltelefone mehr als nur eine Funktion – nämlich das Telefonieren – haben. Die Notation ist so angelegt, dass die Spielenden frei in der Entscheidung sind, innerhalb eines gewissen, vorgegebenen Zeitrahmens ihren Part zu spielen. Dementsprechend waren auch alle Musizierenden mit ihren Handys ausgestattet, um ihren jeweiligen Einsatz nicht zu verpassen. Trotz aller Freiheit – die dennoch nur eine vermeintliche ist – zeigt sich dieses Werk als extrem strukturiert, lässt aber einen sinnlichen, musikalischen Ausdruck nicht vermissen.

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Eröffnungskonzert Wien Modern (Fotos: Markus Sepperer)

Als Abschluss erklang ‚Scattered Light“ von Johannes Maria Staud. Ein Auftragswerk, das er Bernhard Günther widmete. Vorgabe war, eine Komposition zu schreiben, die ohne Dirigat auskommt und so überlegte sich Staud ein metrisches System, das von einer strikten Rhythmusvorgabe im Klavier das gesamte Orchester mitträgt. Im Programmheft war von einem Spannungsfeld zwischen Präzision (Pulsation) und der Unschärfe (ausgelöst durch zwangsläufig auftretende kleinere agogische Abweichungen zwischen den Instrumentengruppen) zu lesen. Und tatsächlich war diese leichte Verschiebung auch hörbar. Das Orchester kam in seiner ganzen instrumentalen Bandbreite zum Einsatz, wobei zum Teil zeitgenössische Spieltechniken angewandt wurden. Stauds Komposition kann als dunkles Klangwolkenkonstrukt beschrieben werden, das mit wilden Pauken und Blech eine organische Bedrohung evoziert. Die Klangfarben bilden ein wildes, lebendiges Etwas ab, das sich aufmacht, Schrecken zu verbreiten und sich am Schluss leise, mit hörbaren Atemgeräuschen aus dem Geschehen verabschiedet. Bravo-Rufe und langer Applaus machten die Zustimmung des Publikums deutlich. Ein fulminanter Auftakt zu einem – das ist sicher – spannenden Festivalmonat von Wien Modern.

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Die Intimität einer Verführung

Die Intimität einer Verführung

Die Intimität einer Verführung

Von Michaela Preiner

„Verführung“ (Foto: Markus Sepperer)
04.
Dezember 2017
Die Autorin Marlene Streeruwitz und die Komponistin und Pianistin Katharina Klement überzeugten das Wien-Modern Publikum im Berio-Saal des Konzerthauses mit hoher Musikalität und einem eleganten Sprach-Mix.
Ihre Stimme ist klar und sanft. Ihre Worte reihen sich fließend aneinander und erzeugen den Nachhall einer Liebesgeschichte. Einer Liebesgeschichte, in der von vorneherein der Glaube an ein Happyend das Wissen um die Schwierigkeit einer dauerhaften Bindung verdrängt. Die dazu produzierten Klänge und die Musik schmiegen sich an das Gehörte an, manches Mal verlangen sie jedoch ungeteilte Aufmerksamkeit.
Im Beriosaal des Konzerthauses erlebte das Wiener Publikum die Uraufführung von „Verführung“, einem „Experiment“, in dem Sprache und Musik gleich behandelt werden sollten. Das Konzerthaus und Wien Modern agierten für diese Produktion als Auftraggeber und erhielten ein höchst intimes und feinfühliges Kunsthybrid, bei dem sich die Grenzen zwischen den einzelnen Genres permanent verwischten. Streeruwitz agierte, begleitet von Klement, direkt auf der Bühne und trug ihren Text selbst vor.

Der Ring der Großmutter, in Triest um die Jahrhundertwende von einem Juwelier gemacht, verschwindet darin. Unter einem gut vorbereiteten Wäscheberg, der neben einem Koffer darauf wartet, eingepackt zu werden. Wie auch ein Kind verschwand, unter einem Wäscheberg. Die Liebe, die entgegen besseren Wissens begonnene, auch sie wird sich, oder hat sich bereits, so deutet es Streeruwitz zumindest an, verflüchtigen.

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„Verführung“ (Foto: Markus Sepperer)
Der Text ist in unterschiedliche, stilistische Teile gegliedert. In einen hoch poetischen, in dem die Gedanken des Publikums Unausgesprochenes ergänzen müssen, in einen eine Geschichte erzählenden, der aber auch nicht alles, was in ihm zu stecken scheint, offenbart. Aber auch in einen aufzählenden Teil, in dem sich eine Präposition sowie an anderer Stelle eine Deklination an die nächste anschließt. „Ich verführe, du wirst verführt, er, sie, es wird verführt“, die Deklinationsreihe, in verschiedene Zeiten, Zahlen, Aktiva, Passiva, im Konjunktiv und Imperativ abgewandelt, scheint unendlich lang. Und macht klar: Verführt wurde gestern, wird heute und wird auch morgen werden. Verführt wird ein einzelner Mensch genauso wie viele gleichzeitig – ein Entrinnen scheint es nicht zu geben. Auch wenn sich die eigene Ratio dagegenstemmt.

Die Komposition von Klement beeindruckte ebenso mit einer Reihe unterschiedlicher, stilistischer Ideen. Die Komponistin bildete zu Beginn mit Soundschnipseln wie dem Prasseln von Feuer, dem Zirpen von Zikaden oder indifferentem Rauschen, die elektronisch eingespielt wurden, ein individuell deutbares Geräuschmosaik. Später begleitete sie den Rhythmus des Textes mit Hilfe des Klavierkörpers rein perkussiv. In einem pianistischen Solo ließ sie eine an- und abschwellende Klangwelle entstehen, die einen eigenen Groove entwickelte. Eine spätere, eindrückliche, elektronische Raum-Klanginstallation, die sich ständig zunehmend über mehrere Lautsprecher im Raum verteilte, um sich nach und nach wieder zu entflechten, fügte dem Text wiederum völlig neue, auditive Qualitäten hinzu.

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„Verführung“ (Foto: Markus Sepperer)

Mit abermaligen Glaubens- und Wissens-Bekenntnissen verknüpfte Streeruwitz den Schluss ihres Textes kunstvoll ringförmig mit dessen Beginn. Nur folgerichtig, dass Klement dazu auch Geräusche zitierte, die bereits am Anfang zu hören waren.

„Verführung“ bot nicht nur ein anspruchsvolles, musikalisches Kaleidoskop, in dem Katharina Klement beweisen konnte, dass ihre musikalische Kreativität schier unbegrenzt scheint, wobei sie gleichzeitig in der Lage war, sich feinfühligst auf den Text von Streeruwitz einzulassen. Der Autorin gelang mit ihrem Text auch das Kunststück, individuell Erlebtes sprachlich so aufzubereiten, dass sich dies zu einer allgemeingültigen Aussage hin verdichtete.

Ein Ausnahme-„Konzert“, das sich zum Nach- oder Neuhören auch auf einer CD ausnehmend gut präsentieren würde.

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